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Rosa Luxemburg 19170310 Eine verzweifelte Galeere

Rosa Luxemburg: Eine verzweifelte Galeere

10. März 1917

[Nach Der Kampf (Duisburg), Nr. 40, 10. März 1917, S. 1. Laut Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 7.2 stammt der Artikel von Rosa Luxemburg]

In der Not frisst der Teufel Fliegen, und der arme Lassalle, den die biederen Fortschrittler, solange er lebte, nicht genug schmähen und verleumden konnten, wird ihnen jetzt zum Schutzheiligen.

Unter lebhafter Zustimmung des „Vorwärtsweist der fortschrittliche Abgeordnete Gothein im „Berliner Tageblatt“ einen „Weg zum Wahlrecht“, nämlich zum allgemeinen Wahlrecht für den preußischen Landtag. Er empfiehlt die Oktroyierung des Reichstagswahlrechts in Preußen, zumal da das Klassenwahlrecht auf demselben Wege entstanden sei. „Das preußische Dreiklassenwahlrecht besteht nicht zu Recht, sondern zu Unrecht. Dadurch, dass es die auf seiner Grundlage gewählte Landratskammer als Recht anerkannt hat, ist es nicht Recht geworden, sondern Unrecht geblieben.“

Man braucht nur einen flüchtigen Blick in die Agitationsschriften Lassalles geworfen zu haben – was man freilich bei den gegenwärtigen Redakteuren des „Vorwärts“ nicht voraussetzen darf um zu erkennen, dass Herr Gothein sich mit diesen Sätzen eine wörtliche Anleihe bei Lassalle erlaubt hat, und zwar ohne seine Quelle zu verraten. Dazu hatte er seine guten Gründe. Als nämlich schon vor Lassalles Auftreten die damaligen konservativen Führer Wagener und v. Blanckenburg die Fortschrittspartei mit dem Gedanken des allgemeinen Wahlrechts ein wenig zu ängstigen versuchten, hat diese sofort mit ihrem ganzen „Mannesstolz vor Königsthronen“ durch den Mund ihres Führers v. Unruh erklärt, der, so wenig er sonst bedeuten mochte, doch immerhin mehr bedeutete als Herr Gothein: „Nach dem klaren Inhalt von Artikel 115 der beschworenen Verfassung ist die Wahlverordnung vom 30. Mai 1849“ nämlich die ungesetzliche Verordnung, die das Klassenwahlrecht oktroyierte „ein integrierender Teil der Verfassung geworden. Jede Abänderung des Wahlgesetzes im Verordnungswege ist also unleugbar ein Verfassungsbruch. Wir können nicht annehmen, dass die Regierung einem vollkommen ruhigen, fest am Gesetze haltenden Volke gegenüber zu einem für das Rechtsbewusstsein und die Machtstellung Preußens so folgenschweren Schritte raten werde, und sind fest überzeugt, dass des Königs Majestät einem solchen Rate nicht stattgeben würde.“ Als dann Lassalle mit seiner bündigen Beweisführung auftrat, erscholl das fortschrittliche Geschrei nur um so wilder über den „Söldling der Reaktion“, der die Arbeiter ins Lager der Regierung führen wolle.

Man sollte denken, jedes sozialdemokratische Blatt, das von Herrn Gotheins Vorschlag überhaupt Notiz nimmt, müsste vor allem die Leichenfledderei geißeln, die er mit Lassalle treibt, und mindestens nachweisen, dass wenn der politische Zweck, den Lassalle mit seiner an sich durchaus richtigen Beweisführung verfolgte, selbst unter den damaligen Verhältnissen sehr problematisch war, so der Vorschlag des Herrn Gothein unter den heutigen Verhältnissen barer Unsinn ist. Wir möchten den preußischen Ministerpräsidenten sehen, der dem ostelbischen Junkertum durch einen formalen Staatsstreich - denn beschworen ist die preußische Verfassung, so wie sie liegt und steht, allerdings durch den König von Preußen – das Dreiklassenwahlrecht entreißen könnte oder auch nur möchte. Und nicht wesentlich anders steht es mit einem zweiten Vorschlag des Herrn Gothein, nämlich durch den Bundesrat die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen beschließen zu lassen, denn ein solcher Beschluss des Bundesrats ist unmöglich, wenn die Stimmen der preußischen Regierung nicht für ihn abgegeben werden.

All das phantastische Zeug nimmt nun der „Vorwärts“ mit feierlichem Ernst auf, derselbe „Vorwärts“, der ehedem nicht müde wurde, zu erklären, dass die Dreiklassenwahl nicht anders beseitigt werden könne, als durch den rücksichtslosen und unermüdlichen Kampf der Arbeiterklasse. Indessen wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing’ – heute, wo der „Vorwärts“ gemeinsam mit der Fortschrittspartei im elften Berliner Landtagswahlbezirk auf dem Boden der Dreiklassenwahl die alte Sozialdemokratie bekämpft, muss er schon eine neue Melodie anstimmen.

Aber außer Herrn Gothein hat er noch eine andere Liebe, nämlich „seinen“ Bethmann. Anschließend an Gotheins Vorschläge schreibt er: „Stellen wir also fest: Herr von Bethmann könnte seinen Preußen das gleiche Staatsbürgerrecht verschaffen, wenn er wollte. Und wenn sie es nicht bekommen, so liegt es daran, dass er nicht will'' Auf dieses zärtliche Schmollen wird Herr v. Bethmann seinen jungen Leuten vom „Vorwärts“ antworten: „Kinder, so nehmt doch Vernunft an! Wollen wollte ich schon, aber Können kann ich leider nicht.“ Und damit würde Herr v. Bethmann ja so Recht haben.

Der „Vorwärts“ aber wäscht seine Hände in Unschuld. Er bewilligt dem Reichskanzler fort und fort ungeheure Kredite, jedoch die Politik, die der Reichskanzler treibt, ist dessen Sache und geht den „Vorwärts“ beileibe nichts an. Er behält sich nur vor, wie der Chor in der griechischen Tragödie, die Politik der Regierung mit seinen Triumpheshymnen oder mit seinen Klagegesängen zu begleiten. Und wie die Fortschrittler, seine nunmehrigen Verbündeten, sich oft bei der Vorsehung beschwert haben, dass es ihnen, „Se. Majestät getreuester Opposition“, so verteufelt schlecht gehe, so naht auch die Stunde heran, wo der „Vorwärts“ triftigen Anlass haben wird, über den Undank der Welt zu jammern.

Glücklich, wer auf dieser verzweifelten Galeere nicht mehr eingeschifft ist!

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