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Franz Mehring 19120330 Einiges von Marx und Liebknecht

Franz Mehring: Einiges von Marx und Liebknecht

30. März 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jahrgang 1911-12, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 5]

Herr Dr. Höchberg, der die ‚Zukunft' herausgibt, … hat sich in die Partei ‚eingekauft' — ich unterstelle, mit den ‚edelsten' Absichten, aber ich pfeife auf ‚Absichten'. Etwas Miserableres wie sein Programm der ‚Zukunft' hat selten mit mehr ‘bescheidner Anmaßung' das Licht erblickt."1

So urteilte Karl Marx am 19. Oktober 1877 über einen Mann, der durch seine menschlichen Tugenden ebenso hoch stand, wie er als Politiker unklar und verworren war. Und das war überhaupt die Art von Marx. Er hat im öffentlichen Leben nie beansprucht, ein edler Mensch, sondern nur ein guter Politiker zu sein. In politischen Dingen war sein Urteil stets von unbarmherziger Schärfe, und obgleich er dadurch bei allen Schwachköpfen in den Ruf eines “gehässigen und verbitterten Gemüts" geriet, so hat er es mit seiner Politik doch leidlich weit gebracht.

Was diese Erinnerung in uns erweckt, sind die Nachrufe, die ein Teil der Parteipresse dem freisinnigen Politiker Albert Träger widmet. Träger mag der vortrefflichste Mensch von der Welt gewesen sein, woran wir nicht den geringsten Zweifel äußern wollen, aber als Politiker ist er mitverantwortlich für alle Sünden, die der Freisinn seit nahezu vierzig Jahren auf sich geladen hat, von den Verrätereien Eugen Richters an der Arbeiterbewegung an bis zum Hottentottenblock mit den Albernheiten der Kopsch und Mugdan. Und wenn einzelne Parteiblätter sagen, Träger habe die erbärmliche Politik seiner Partei nur widerwillig mitgemacht und heimlich zu sozialdemokratischen Abgeordneten über das gespottet, was er öffentlich mit dem Schilde seines Namens deckte, so ist das nur um so schlimmer für diesen Politiker. Dem Menschen Träger mag der “milde Regen unserer Zähren" gebühren, aber dem Politiker Träger gebührten nur die “Blitze der Partei". Da haben sich die Junker einmal wieder als die erfahrensten Politiker erwiesen, indem ihre Organe gern anerkannten, dass Träger ein braver Mann gewesen sei, seiner politischen Tätigkeit aber auch nicht einmal die kärglichste Träne der Sentimentalität weihten.

Inzwischen haben die parlamentarischen Mühlen aufgehört zu klappern, und der “Vorwärts" würdigt das Manko an Mehl, das sie geliefert haben, in einem vortrefflichen Artikel, der uns die beruhigende Gewissheit gibt, dass von den zwei Seelen, die ach! in der Brust unseres Zentralorgans wohnen, die Berliner-Genossen-Seele doch noch nicht ganz untergekriegt ist von der Parteivorstands-Seele. Während diese Seele von der Zerschmetterung des schwarzblauen Blocks träumte, erkennt jene Seele jetzt an, dass es mit dieser Zerschmetterung seine guten Wege habe; sie entwirft ein treffendes Bild von der Kümmerlichkeit der Freisinnspolitik und schließt:

Wo stehen wir also? Vor dem Feinde, der uns rings umgibt! Und wie stehen wir da? In der Hauptsache auf unsere eigene Kraft angewiesen, wie nur je zuvor. Und worin besteht unsere Kraft? Nicht in unserer parlamentarischen Position — sowenig wir auch die parlamentarische Tätigkeit, namentlich deren agitatorische Seite, unterschätzen wollen —, sondern in unserer Verankerung mit dem Volke, in den Wurzeln unserer Kraft, in den Volksmassen selbst, in der Organisation, in dem Klassenbewusstsein und der politischen Regsamkeit und Energie dieser Volksmassen. Die Massen müssen sich rühren und regen, wenn unseren Aktionen im Parlament Mark und Nachdruck verliehen werden soll. Die Fraktion könne höchstens den Dirigentenstab schwingen, die Musik muss das kraftvoll einfallende Orchester machen! Und namentlich in Preußen werden die Wahlrechtsheloten erst dann gleichberechtigte Staatsbürger werden, wenn die Volksmasse selbst ihrer Empörung über ihre endlose Rechtsverhöhnung unzweideutigsten Ausdruck gibt."

Ganz vortrefflich, wenn auch nicht ganz neu. Denn falls unser Gedächtnis uns nicht ganz trügt, haben wir genau dasselbe — und nicht einmal mit ein bisschen anderen Worten — in den Artikeln der Genossin Luxemburg gelesen, die die andere Seele des “Vorwärts" mit dem vornehmen Mantel des Schweigens bedeckt hat.

Nur in einem Punkte können wir den ausgezeichneten Artikel des “Vorwärts" nicht unbedingt unterschreiben. Er sieht mit Recht in der Tatsache, dass unsere Parlamente sowenig zu sagen haben, die Ursache davon, dass in ihnen soviel geredet wird; er schreibt, auch wohl nicht mit Unrecht, den sozialdemokratischen Volksvertretern eine gewisse Initiative in dieser Richtung zu, und er macht den bürgerlichen Parteien das — diesen vermutlich nicht unwillkommene — Zugeständnis, dass sie, der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, sich an dem nimmermüden Wettlauf parlamentarischer Beredsamkeit beteiligen. Aber so richtig das alles sein mag, so scheint es uns doch nicht richtig, wenn der “Vorwärts" daraus die Schlussfolgerung zieht, nichts sei seichter als der wohlfeile Spott über das Schwatzbedürfnis der Herren Abgeordneten. Das viele Reden sei notwendig, um der Agitation und der Propaganda willen, um neue Anhänger zu werben.

Der “Vorwärts" übersieht dabei unseres Erachtens das bekannte Gesetz der Kontrastwirkungen. Schon die Alten wussten: Est modus in rebus, es ist ein Maß in den Dingen, und Goethe meinte: Es ist nichts so schwer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Wer täglich die feinsten Gerichte aufgetafelt bekommt, empfindet bald Ekel und Überdruss vor ihnen, und der steinreiche Engländer, dem nichts zu wünschen übrigbleibt, bekommt den Spleen und schießt sich tot. Nun werden sich die Leser der Parlamentsberichte nicht gleich totschießen, wenn ihnen täglich Austern und Kaviar vorgesetzt werden, aber sie werden sich sachte in die Büsche schlagen, aus Überdruss an allzu vielen Delikatessen. Es gehört schon übermenschliche Geduld dazu, tagtäglich die parlamentarischen Berichte der Zeitungen von A bis Z durchzulesen; wenn man sich aber mit den kritischen Resümees der Redaktionen begnügt, so hat man zwar die tröstliche Gewissheit, dass die Leute der eigenen Partei immer mit den Skalpen der Gegner am Gürtel aus diesen Redekämpfen hervorgehen, aber was ist damit viel gewonnen, sintemalen Besiegte wie Sieger alsogleich in den verschwiegenen Katakomben der Stenographischen Berichte verschwinden?

Liebknecht, nämlich der alte, hatte sehr verständige Ansichten von der parlamentarischen Beredsamkeit. Wir wollen einiges davon anführen, wobei wir freilich manche Lücken lassen müssen, da unsere Alten noch nicht auf den “guten Ton" gestimmt waren:

Das Wort Parlament stammt von parlieren, reden, schwätzen. Nomen est omen. In dem Namen ist die Krankheit des Parlamentarismus bezeichnet: die Rede- und Schwätzkrankheit. Um das Reden ist's ja ein schön Ding, wenn einer gut redet, für den Redner wie für den Hörer. Schade nur, dass das Reden und das Schauspielern so nahe miteinander verwandt sind, dass bei diesem wie bei jenem vorgestellt, dargestellt und verstellt wird … Es gibt freilich eine Art des Redens, welche mit dem Schauspielern nichts gemein hat, allein sie ist selten, und wenigen ist es gegeben, die Klippe des theatralischen Effekthaschens mit der rhetorischen Verstellung zu umschiffen. Man hat deshalb nicht ohne eine gewisse Berechtigung gesagt, dass große Redner keine großen Staatsmänner seien. Zwar gibt es große Staatsmänner, die auch große Redner waren, aber sie sind außerordentlich dünn gesät, und ihre Beredsamkeit war sachlich und klar. Es waren Sprecher, nicht eigentliche Redner. Und die Engländer, bei denen diese praktische sachliche Beredsamkeit zu Hause ist, nennen einen Redner auch Speaker (Sprecher) und eine Rede Speech (Spruch) … Die Tatsache steht jedenfalls fest, dass selbst die gescheitesten Leute, die im ruhigen Gespräch Witz mit gesundem Menschenverstand haben, auf der Rednerbühne oft fürchterlich dummes Zeug schwätzen, dessen sie unter normalen Verhältnissen gar nicht fähig wären. Daher kommt es denn auch, dass parlamentarische Debatten im ganzen so gehaltlos sind und so wenig neue Gesichtspunkte wie Gedanken zutage fördern."2

So schrieb Liebknecht nicht nur, sondern so handelte er auch. Er sprach im Reichstag selten und dann mit prägnanter Kürze. Die agitatorische Kraft seiner Reden wurde dadurch jedoch nicht geschwächt, sondern nur gestärkt.

Von einem “Schwatzbedürfnis der Herren Abgeordneten" darf gewiss nicht gesprochen werden. Es handelt sich vielmehr um eine Erscheinung, deren Ursachen rein objektiver Natur sind und in den Dingen selbst wurzeln. Aber auch solche objektive Erscheinungen sind nicht unabänderlich, und es ist in erster Reihe die Aufgabe der Presse, parlamentarische Auswüchse abzuschneiden. Zweifellos ist diese Aufgabe häkelig und heikel; als sich Karl Hirsch einmal eine — sachlich durchaus berechtigte — Kritik an der Rede eines Reichstagsabgeordneten erlaubte, wurde er in derselben Weise abgefertigt, wie Genosse Braun vom Parteivorstand jüngst die unglücklichen Parteigenossen abgefertigt hat, denen die Organe für die Bewunderung des freisinnig-sozialdemokratischen Stichwahlabkommens versagt sind. Karl Marx aber trat für Hirsch ein und widmete den Mitgliedern des damaligen Parteivorstandes die Adresse: “Sie sind schon so … angegriffen, dass sie glauben, über der Kritik zu stehen, dass sie die Kritik als ein crime de lese majeste verdonnern."3 Auch hier sind der parlamentarischen Höflichkeit einige Worte geopfert.

Überhaupt treten wir für den Parlamentarismus ein, indem wir freie Kritik an ihm befürworten. Bismarck mochte sich zum Ziele setzen, den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus zu ruinieren, und er hat dies Ziel ja auch leidlich erreicht. Schon daraus ergibt sich, dass wir nicht das gleiche Ziel verfolgen können. Wenn wir in dem bürgerlichen Parlamentarismus ein Werkzeug des proletarischen Emanzipationskampfes sehen, so haben wir allen Anlass, dies Werkzeug in gutem Stande zu erhalten. Jedoch wird alles, was es noch an Schneide und Spitze besitzt, aufs äußerste gefährdet, wenn eine Beredsamkeit, die sich nicht mehr an praktischen Zwecken kontrolliert, sondern im Genuss des eigenen Daseins behaglich schwelgt, das Interesse der Massen an den parlamentarischen Verhandlungen abstumpft und endlich ganz erstickt.

1 Karl Marx an Friedrich Adolph Sorge, 19. Oktober 1877, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 34, S. 303

2 Wilhelm Liebknecht, Parlamentarisches, Die Neue Zeit, 4. Jahrgang 1886, S. 19ff. und 308ff.

3 Karl Marx an Friedrich Engels, 10. September 1879, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 34, S. 107

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