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Es ist bereits hervorgehoben worden, dass Kants Ästhetik eine sehr reale Grundlage hatte, obgleich sie ihre Wurzeln in den Wolken des Himmels suchte; Kant abstrahierte seine ästhetischen Sätze aus unserer klassischen Literatur, soweit sie schon vorhanden war, als die „Kritik der Urteilskraft" erschien. Hat sich nunmehr gezeigt, dass die objektiven Bestimmungsgründe des Geschmacks nicht im Himmel, sondern in der Erde wurzeln, so ist Kants Ästhetik damit noch nicht an und für sich hinfällig; die kritische Methode ist noch nicht abgetan, wenn das absolute System in die Brüche geht. Immer bleibt übrig, was ein Kopf von Kants durchdringendem Scharfsinn den großen Literaturwerken eines in seiner Art einzigen ästhetischen Zeitalters abgesehen hat.

Marx sagt in der Vorrede seines Hauptwerks, wie der Physiker Naturprozesse da beobachte, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, so habe er die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise in England studiert als der klassischen Stätte dieser Produktionsweise1. Ähnlich kann man sagen, dass sich die Gesetze der ästhetischen Urteilskraft nirgends so gut studieren ließen wie in dem Reiche des ästhetischen Scheins, das unsere Klassiker „in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt" erbaut hatten. Kant wurde der Begründer der wissenschaftlichen Ästhetik, mag er auch die historische Bedingtheit seiner ästhetischen Gesetze verkannt, mag er auch absolut genommen haben, was nur relativ genommen werden darf. So auch wurden seine Zeitgenossen Adam Smith und Ricardo die Begründer der wissenschaftlichen Ökonomie, obgleich sie die ökonomischen Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft absolut nahmen, während sie nur historische Gültigkeit besitzen und sich, wie die Werttheorie, nur in ihrer beständigen Verletzung durchsetzen.

Das erste Erfordernis einer wissenschaftlichen Ästhetik war, die Kunst als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nachzuweisen, wie es Kant auch getan hat. Aber da die menschliche Vernunft nur eine sein kann, so lässt sich die ästhetische Urteilskraft doch nur in der Abstraktion davon absondern, doch nur zu dem Zwecke, ihre Gesetze in voller Reinheit nachzuweisen, nicht aber in der praktischen Wirklichkeit, wo sich das Gefühl der Lust und Unlust nicht trennen lässt von dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen, wo die Art, wie wir die Dinge ästhetisch betrachten, immer unlöslich zusammenhängt von der Art, wie wir sie logisch erkennen und wie wir sie moralisch begehren. Wenn also Kant sagt, das ästhetische Wohlgefallen sei weder logisch noch moralisch, jedes Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse menge, sei sehr parteiisch und kein reines Geschmacksurteil, so hat er den abstrakt-absoluten Satz in der einleuchtendsten Weise begründet, aber wollte man diesen Satz als starren Maßstab betrachten, um daran die historischen Entwicklungsperioden des Kunstgeschmacks zu messen, so würde man finden, dass es noch nie ein reines Geschmacksurteil gegeben hat, dass sich mit anderen Worten Kants Satz immer nur in historisch-bedingter Weise, immer nur in seiner beständigen Verletzung durchgesetzt hat.

Vorweg sei bemerkt, dass sich Steigers mechanische Auffassung des Wechselverhältnisses von Moral und Kunst mit diesem Satze Kants überhaupt nicht berührt. Kant war ein viel zu klarer Kopf, um einen Dichter, der seinen Helden unter die Moralbegriffe der Zeit stellt, worin dieser Held gelebt hat, deshalb als Moralfexen abzutun. Steiger meint es nun auch gewiss nicht so böse; er ließe wohl mit sich reden, wenn der „Schiller-Hass" nur nicht das heilige Symbol des modernen Naturalismus wäre. Sagt er doch in demselben Kapitel, das Schillers „Wallenstein" von wegen der „Gewissensbisse" des Helden als „moralisches Bilderbuch" abtakelt: „Die große Dichtung ist niemals etwas anderes gewesen als das laut gewordene Gewissen der Zeit", und ferner: „Das tragische Gefühl bleibt also durch alle Jahrtausende dasselbe, sosehr sich auch die moralischen Vorstellungen, die dabei mitspielen, im Laufe der Zeiten wandeln und umgestalten", was nicht unrichtig, aber ein wenig gar zu – moralisch ästhetisiert ist. Das tragische Gefühl, das seit den Tagen der griechischen Tragödie dasselbe geblieben ist, besteht in dem ästhetischen Wohlgefallen an dem Untergange des Menschen, der sich gegen das Schicksal anzukämpfen „vermisst". Dieser schon der griechischen Ästhetik geläufige Ausdruck ist deshalb so treffend, weil er in seiner ursprünglichen Bedeutung eine intellektuelle und erst in seiner übertragenen Bedeutung eine sittliche Schuld bezeichnet. Das „Vermessen" wird eben dadurch, dass es eine intellektuelle Schuld ist, auch eine sittliche Schuld.

Die griechische Schicksalsidee auf ihre ökonomischen Wurzeln zurück zu verfolgen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Genug, in den Tagen Wallensteins war das Schicksal Deutschlands in eherner ökonomischer Verkettung die partikularistische Zersplitterung, und indem Wallenstein sich „vermaß", als einzelner Mensch dieses Schicksal aus den Angeln zu heben, lud er eine intellektuelle Schuld auf sich, die dadurch zu einer moralischen Schuld wurde, dass Wallenstein mit dem von ihm angegriffenen ökonomischen Schicksal auch die aus diesem Schicksal erwachsenen moralischen Anschauungen angreifen musste. Man kann die Ableitung der moralischen Anschauungen aus den ökonomischen Tatsachen, des „Rechts" aus dem „Besitze" nicht treffender darstellen als Wallenstein in dem großen Monologe, worin er seinen entscheidenden Einfluss erwägt:


Du willst die Macht,

Die ruhig, sicher thronende erschüttern,

Die in verjährt geheiligtem Besitz

In der Gewohnheit festgegründet ruht,

Die an der Völker frommem Kinderglauben

Mit tausend zähen Wurzeln sich befestigt …

Weh dem, der an den würdig alten Hausrat

Ihm rührt, das teure Erbstück seiner Ahnen!

Das Jahr übt eine heiligende Kraft;

Was grau für Alter ist, das ist ihm göttlich.

Sei im Besitze, und du wohnst im Recht,

Und heilig wird's die Menge dir bewahren.


So hat Schiller die tragische Idee in seinem großen Drama mit vollkommener Klarheit durchgeführt. Steiger aber misst allzu geniert mit zweierlei Maß, wenn er als prunkendes Gegenstück Ibsens „Gespenster" anzieht, worin uns nach seiner eigenen Ausführung die furchtbare Drohung des alten Judengottes: Ich will heimsuchen der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied! mark- und beinerschütternd in alter Majestät entgegen dröhne und das „natürliche Gesetz der Vererbung" als „erbarmungsloser Vernichter der Unschuld und später Testamentsvollstrecker der dem Leben innewohnenden Gerechtigkeit" dargetan werde. Gewiss hat auch Schiller einmal, in der „Braut von Messina", die tragische Schicksalsidee der Griechen in formalistischer Erstarrung erfasst und die Kinder für die Sünden der Eltern büßen lassen; für das Verbrechen, einmal nicht „Moralprediger" gewesen zu sein, wird er von Steiger nun auch gehörig abgestraft als ein Mensch, der von der Antike nicht mehr als die äußere Pose begriffen und die Schicksalstragödie der Houwald und Müllner verschuldet habe. Aber was soll es dann heißen, dass Ibsens „Gespenster" an die Schwelle einer neuen dramatischen Kunst gestellt werden, ein Drama also, das Moses und Darwin sozusagen ästhetisch versöhnt, das sowohl in Nachahmung des alten Judengottes Moral „dröhnt", als auch in missverstandener Übertragung naturwissenschaftlicher Gesetze auf das gesellschaftliche Leben an die fatalistische Schicksalstragödie streift!

Um überhaupt davon zu reden, so ist Ibsen gerade in den kleinbürgerlich-revolutionären Dramen seines Mannesalters, die ihm den europäischen Namen gemacht haben, den ihm weder die romantischen Dramen seiner Jugend noch die mystischen Dramen seines Alters erworben hätten, in einem Maße „Moraltrompeter", wogegen Schiller sich nur ruhig verkriechen kann. Deshalb ist Ibsen aber doch ein großer Dichter, und hier kommen wir an die Schranke, die dem Satze Kants von der Unvereinbarkeit der Kunst mit der Moral gezogen sind. In allen revolutionären Zeiten, in allen um ihre Befreiung kämpfenden Klassen wird der Geschmack immer reichlich durch Logik und Moral getrübt sein, was ins Philosophische übersetzt nur heißt, dass wo Erkenntnis- und Begehrungsvermögen stark angespannt sind, die ästhetische Urteilskraft immer ins Gedränge kommen wird. Natürlich muss man sich auch hier vor jeder Schablone hüten und die einzelnen Fälle sehr im einzelnen untersuchen, aber man braucht nur einen Blick auf die Geschichte des bürgerlichen Kunstgeschmacks zu werfen, um eine sehr bestimmte Tendenz in der angedeuteten Richtung zu erkennen.

Als das bürgerliche Drama in England begann, brachte es den leibhaftigen Galgen auf die Bühne, als tragische Sühne des Bösen. In Frankreich wurde Diderot, der so gewiss ein feiner Kunstkenner war, wie Ibsen ein großer Dichter ist, nicht müde, den moralischen Endzweck der Kunst zu betonen; „bessern, bessern sollen uns die Dichter", schrieb er, und von dem Maler Greuze sagte er: „Sein Genre gefällt mir, Moralmalerei." Aber auch Kant und Schiller haben in ihren jüngeren und schließlich doch auch kräftigeren Jahren nicht anders geurteilt. In seinen „Betrachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen", die ein Vierteljahrhundert vor der „Kritik der Urteilskraft" erschienen, führte Kant aus, Ästhetisches und Sittliches fielen zusammen, während Schiller zur Zeit, als er seine revolutionären Jugenddramen schrieb, die Schaubühne als moralische Anstalt pries. Erst als sich unsere Klassiker von den öffentlichen Kämpfen ihrer Zeit abwandten, gelang ihnen die Begründung einer wissenschaftlichen Ästhetik. Noch viel ästhetischer wurde die romantische Schule, die in bewusstem Gegensatz zur bürgerlichen Revolution stand. Niemals ist die „reine Kunst" überschwänglicher gefeiert worden als von der feudalen Romantik, es sei denn, dass ihr dieser Ruhm von dem bürgerlichen Naturalismus unserer Zeit streitig gemacht wird. Umgekehrt hat der ästhetische Geschmack der heute revolutionären Klasse, des Proletariats, ein ganz niedliches Moralzöpfchen hinten hängen, wie die Verhandlungen des Gothaer Parteitags sattsam gezeigt haben2 und zudem jeder weiß, der in Kunstsachen mit modernen Arbeitern verkehrt hat. Überflüssig zu sagen, dass jene Art „reiner Kunst" durchaus nicht zusammenfällt mit dem „reinen Geschmacksurteile" in Kants Sinne: in sie „mengt" sich nicht nur nicht das „mindeste Interesse", sondern sogar das brutalste aller Interessen: der bewusste oder unbewusste Widerstand niedergehender Klassen gegen den historischen Fortschritt.

Nicht anders wie mit dem ausschließenden Gegensatze von Moral und Kunst steht es mit Kants und Schillers Satze, dass der Gegenstand der ästhetischen Betrachtung nicht der Inhalt, sondern die Form sei, dass des Meisters eigentliches Kunstgeheimnis darin bestehe, den Stoff durch die Form zu vertilgen. In seiner absolut-abstrakten Fassung unanfechtbar, ist dieser Satz in der historischen Entwicklung des Kunstgeschmacks immer nur zur bedingten Geltung gekommen. Es zeugt sicherlich von einem „barbarischen Geschmacke", den Dichtern „Nationalgegenstände" zur Bearbeitung zu empfehlen; die unzähligen Hohenstaufendramen der deutschen Literatur blieben totgeborene Kinder, und Wildenbruchs Hohenzollerndramen sind eine scheußliche Entweihung der Kunst, da sie aus nichts weniger als künstlerischen Gründen „Nationalgegenstände" bearbeiten, und noch dazu was für welche! Wenn aber Schiller sein Wehe! über den griechischen Kunstgeschmack ruft, für den Fall, dass dieser Geschmack erst durch die historischen Beziehungen in den Werken seiner Dichter hätte gewonnen werden müssen, so ist es mindestens sehr fraglich, ob diese „historischen Beziehungen" nicht doch auf den griechischen Kunstgeschmack gewirkt haben, wie es ganz zweifellos ist, dass sie auf den englischen Kunstgeschmack wirken, der Shakespeares englische Historiendramen bewundert. Denn bei diesen Dramen hat, wenn man von Richard dem Dritten und den Falstaff-Episoden Heinrichs des Vierten absieht, die künstlerische Form keineswegs den Stoff vertilgt.

Gerade weil alle lebendige Kunst im Boden ihrer Zeit wurzelt und nirgendwo anders wurzeln kann, vermag sie nicht jeden Stoff künstlerisch zu bemeistern, hängt der Geschmack also auch vom Inhalt und nicht bloß von der Form ab. Steiger sagt an einer Stelle seines Buches ganz richtig, wenn auch mit teilweise unrichtiger Begründung: das Drama sei lebendige Gegenwart; wolle es uns scheinbar tote Vergangenheiten vor Augen zaubern, so müsse es sie verlebendigen und vergegenwärtigen, so müssten wir das Vergangene wie ein Stück unseres sich ruhelos abspinnenden Lebens empfinden; der historische Dramatiker solle sich bei der Wahl seiner Stoffe den Zeitgeist zum Führer nehmen. Damit stimmt es freilich schlecht, wenn Steiger an einer anderen Stelle meint, der Dichter habe keineswegs das große Getriebe des gesellschaftlichen Lebens zu schildern, woraus allein doch das entsteht, was man den Zeitgeist nennen mag; erst wo dieses Getriebe aufhöre, fange das Allgemein-Menschliche als Gegenstand der Kunst an. Doch löst sich dieser Satz auf, wie sich das Allgemein-Menschliche auflöst, wenn man es zu greifen sucht. Solange die menschliche Gesellschaft in Klassen gespalten ist (und ehe sie in Klassen gespalten war, gab es überhaupt noch keine Kunst), hat es immer nur ein Sonder-Menschliches und nie ein Allgemein-Menschliches gegeben. Wäre ein Allgemein-Menschliches irgendwo zu finden, so müsste es bei den Dichtern zu finden sein, die nach einem weit verbreiteten Geschmacksurteile Weltdichter genannt zu werden pflegen, also bei Homer, Äschylus, Dante, Shakespeare, Cervantes, Goethe. Aber gerade bei diesen Dichtern findet man das Sonder-Menschliche in ausgeprägtester und erschöpfendster Form; man nennt sie Weltdichter, weil ihre Schöpfungen große Weltwenden großartig widerspiegeln, so dass der objektive Bestimmungsgrund auch dieses Geschmacksurteils nicht nur in der Form, sondern auch im Stoffe zu suchen ist.

Tatsächlich über allem historischen Wechsel scheint aber der Satz Kants zu stehen, dass die Kunst nur schön, d. h. ästhetisch wirksam genannt werden dürfe, wenn sie wie Natur aussehe, während wir uns doch ihrer als Kunst bewusst seien. Es ist derselbe Gedanke, den Schiller in den beiden prachtvollen Strophen auseinanderfaltet:


Erweitert jetzt ist des Theaters Enge,

In seinem Raume drängt sich eine Welt;

Nicht mehr der Worte rednerisch Gepränge,

Nur der Natur getreues Bild gefällt;

Verbannet ist der Sitten falsche Strenge,

Und menschlich handelt, menschlich fühlt der Held;

Die Leidenschaft erhebt die freien Töne,

Und in der Wahrheit findet man das Schöne.


Doch leicht gezimmert nur ist Thespis' Wagen,

Und er ist gleich dem acherontschen Kahn:

Nur Schatten und Idole kann er tragen,

Und drängt das rohe Leben sich heran,

So droht das leichte Fahrzeug umzuschlagen,

Das nur die flücht'gen Geister fassen kann.

Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen,

Und siegt Natur, so muss die Kunst entweichen.


Die naturalistischen „Schiller-Hasser" können denselben Gedanken, nur derber und kürzer, bei Goethe finden. Goethe spottet über die Rohheit des großen Haufens, dessen Kunst bewusst in dem Vergleiche des Abbildes mit dem Urbilde bestehe; in seinem Gespräche „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke" vergleicht er die Kunstrichter, die „ein Kunstwerk als ein Naturwerk" beurteilen, mit den Spatzen, die in dem Gemälde jenes griechischen Meisters nach den täuschend gemalten Weinbeeren pickten, oder noch drastischer mit einem genäschigen Affen, der über ein naturgeschichtliches Werk gerate und abgebildete Käfer heraus speise. Aber schon ein paar Jahrhunderte vor Goethe sagte Albrecht Dürer, wohl stecke die Kunst in der Natur, und wer sie heraus könne reißen, der habe sie, aber sie werde „offenbar durch das Werk und die neue Kreatur, die einer in seinem Herzen schaffe in der Gestalt eines Dinges". Und wieder hundert Jahre nach Goethe sang Anzengruber in mittelmäßigen Versen, aber in der echten Gesinnung des Künstlers:


Der soll sich nicht mit Kunst befassen,

Der die Natur wie jeder sieht,

Er schleppt 'nen Photographenkasten,

Der nur die Schulter schief ihm zieht;

Wem irgend Großes ist gelungen,

Der hat sich's selber abgerungen,

Ob zart und mild, ob stark und wild!

Hast du nur deinem Werke eben

Aus eignem Ich was zugegeben,

So gibt's ein Bild!


In diesen und ähnlichen Zeugnissen, die sich in unerschöpflicher Fülle herandrängen, spricht sich das, in Kants Satze ästhetisch formulierte, schöpferische Wesen der Kunst aus, womit die Kunst als eigenes Vermögen der Menschheit steht und fällt. Von hier aus begreift sich auch am leichtesten, was Kant in etwas künstlich konstruierter Weise über freie und anhängende Schönheit, über die Idee des Kunstwerks, über das menschliche Ideal als höchste Vorstellung der ästhetischen Urteilskraft sagt. Er findet die freie Schönheit in der Natur, das ästhetische Wohlgefallen an der Natur in den Zwecken, die der Mensch in die Natur legt, die als solche keine Zwecke haben kann; er sagt, die Natur sei schön, wenn sie zugleich als Kunst aussehe. Diese Sätze sind so einleuchtend wie unbestreitbar, wenn man sich nur auch hier gegenwärtig hält, dass sich mit den Menschen auch die Zwecke ändern, die sie in die Natur legen, dass sich also auch das ästhetische Wohlgefallen an der Natur historisch abwandelt, wie die verschiedenen Perioden der Landschaftsmalerei zeigen, wie allein schon die drastische Tatsache zeigt, dass durch Tausende von Jahren das Hochgebirge für die Menschen ein Gegenstand des Grauens war, während sich in wenig mehr als hundert Jahren die Freude an der Schönheit der Alpen bereits zu einem krankhaften Modesport überreizt hat.

Ist nun aber die freie Schönheit nur in der Natur zu finden, so die anhängende Schönheit – nicht bloß in der Kunst, wie Kant meint, denn die Landschaftsmalerei ist auch eine Kunst, sondern – in der Gesellschaft. In ihr hat es die ästhetische Urteilskraft mit dem Menschen zu tun, aber nicht mit dem Menschen als Individuum, sondern mit dem Menschen als Gattung, und so meint Kant, dass die Schönheit dem Gattungsbegriff „anhänge": das Individuum sei desto schöner, will sagen ästhetisch wirksamer, je mehr sich die Gattung in ihm verkörpere. Die Gattung ist an sich nur ein Begriff. Wenn wir von einer Junker-, einer Bürger-, einer Arbeiterklasse sprechen, so sprechen wir von Begriffen, die wir uns gebildet haben, von Ideen als Individuen, von Idealen, und diese Ideale in natürliche Erscheinungen zurück zu verwandeln ist die Aufgabe der schönen Kunst. Ein Junker, ein Bürger, ein Arbeiter, den der Dichter oder Maler darstellt, wird im ästhetischen Sinne des Wortes um so schöner und um so wahrer sein, je freier er von den wesenlosen Zufälligkeiten des Individuums und je durchdrungener er von den wesentlichen Eigenschaften der Gattung ist. Man kann nun einwenden, dass der Gattungsbegriff des Junkers, des Bürgers, des Arbeiters sehr verschieden sein werde in den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, und dieser Einwand ist auch vollkommen durchschlagend insofern, als der objektive Bestimmungsgrund des Geschmacks nicht in der „unbestimmten Idee des Übersinnlichen", sondern in sehr bestimmten sinnlichen Interessen wurzelt. Aber durchaus verschieden von der übersinnlichen Idee ist die ästhetische Idee und das ästhetische Ideal, nach dessen Bilde der Künstler eine neue Welt schafft. In dieser Weise muss alle Kunst idealisieren, wenn sie sich anders vom Photographenkasten oder vom Wachsfigurenkabinett unterscheiden will; so schafft das künstlerische Genie, dessen schöpferisches Vermögen so viele große Künstler von Albrecht Dürer bis auf Anzengruber immer wieder betont haben.

Gleichwohl sind auch die Sätze unserer klassischen Ästhetik über Kunst und Natur nur historische Leitfäden einer methodischen Untersuchung, nicht aber unfehlbare Schablonen, nach denen alles künstlerische Schaffen ein für allemal abzuurteilen ist. Sonst könnte man gleich den ganzen modernen Naturalismus abwürgen, weil er die unbedingte Naturnachahmung auf seine Fahne geschrieben hat. Das hieße aber in den entgegengesetzten Fehler verfallen wie jene naturalistische Ästhetik, die nur mit dem beweist, was dieser ahnt und was jenem schwant. Der moderne Naturalismus ist einmal da und will historisch untersucht sein, ehe man weiß, woran man mit ihm ist.

An dieser Stelle kann eine solche Untersuchung nur soweit geführt werden, wie sich die zur Besprechung vorliegenden Schriften mit dem modernen Naturalismus beschäftigen. Dabei sind aus Steigers Buche noch Ibsen und Maeterlinck auszuscheiden, nicht bloß weil die historische Analyse ihrer Schöpfungen zu sehr weitläufigen Abschweifungen führen würde, sondern auch weil sie zum modernen Naturalismus oder dem, was man in Deutschland darunter versteht, nur in mittelbarem Sinne gehören. Schon dieser oder jener naturalistische Kritiker hat nicht ohne Scharfsinn heraus gewittert, dass Ibsen eigentlich doch zum alten Eisen der „alten Kunst" gehöre, und Maeterlinck vertritt als „lallende Seele", als „kindlich-kindischer Genter", wie Steiger sagt, einen allerneuesten Ismus, der einstweilen in der ungestörten Pflege seines Vierteldutzend Ziehväter bleiben kann. Dagegen ist Hauptmann, wenn nicht der bedeutendste, so doch der erfolgreichste und meistgenannte der deutschen Naturalisten, und zudem liegen über ihn neben Steigers Buche noch drei, zum Teil umfangreiche Schriften vor, die eine historische Würdigung dieses Dramatikers in ziemlich weitreichendem Maße ermöglichen.

2 Siehe dazu den Aufsatz „Kunst und Proletariat".

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