Rudolf Hartwig 19320201 Das Reparationsproblem und der Stalinismus

Rudolf Hartwig: Das Reparationsproblem und der Stalinismus

[Nach Permanente Revolution, Zeitschrift der Linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten) (Sektion der Internationalen Linken Opposition) 2. Jahrgang Nr. 3 (Anfang Februar 1932), S. 8 f.]

Die einzige Einheitsfront, die das deutsche ZK bisher nicht nur auf dem Papier zustande gebracht hat, ist die Einheitsfront gegen das Young-Syslem. Diese Einheitsfront, die merkwürdigerweise nicht «unter Führung der KPD» steht, geht von Hitler über Hugenberg und dessen volksparteilichen Wurmfortsatz, über die «Zentrumsfaschisten», die «Sozialfaschisten» bis zu Thälmann und Remmele. Begeistert schreibt «Die Rote Fahne» vom 22. Januar angesichts der aufgeflogenen Lausanner Konferenz: «Wir schlagen Alarm! Wir rufen das werktätige Volk gegen das Youngsystem auf!» Das tun Rosenberg im «Völkischen Beobachter» und Friedrich Hussong im «Lokalanzeiger» auch, freilich ohne die revolutionär klingende Parole, zu der sich das Zentralorgan am Schluss seines Alarmrufes – ungern, aber dennoch – versteht: «Nur durch die Aktion der Arbeiter aller Länder, nur durch die Errichtung Räte-Deutschlands, das auf seiner Seite die Sympathien des Weltproletariats haben wird, wird das System von Versailles und Young untergehen und der sozialistische Ausweg aus der kapitalistischen Katastrophenpolitik gebahnt sein.»

Wir stimmen mit der «Roten Fahne» darin vollkommen überein, dass es aus der kapitalistischen Katastrophenpolitik nur den sozialistischen Ausweg geben kann, wir bezweifeln jedoch, dass wir über die Politik dieses sozialistischen Auswegs mit dem Zentralorgan einer Meinung sind.

Zunächst: wie liegen, weltpolitisch betrachtet, die Dinge? Deutschland ist bis auf weiteres zahlungsunfähig – darüber gibt es unter den imperialistischen Staaten, Frankreich nicht ausgenommen, augenblicklich keine Meinungsverschiedenheiten. Die Konferenz von Lausanne sollte eine Lösung bringen; sie flog auf, noch ehe sie begonnen wurde, und musste verschoben werden. Brüning hatte den Augenblick für gekommen gehalten, den Young-Plan endgültig zu zerreißen. Noch bis vor einem Jahr war es ein ausschließliches Reservat der nationalistischen Parteien, «gegen» den Young-Plan zu sein. Seit je bedient sich der Nationalismus außenpolitischer Faktoren, wenn er innenpolitischen Fragen die Spitze abbrechen will. Jedoch die Krise in Deutschland verschärfte sich in rasendem Tempo. Hindenburg schrieb seinen berühmten Brief an den Präsidenten von USA. Das Ergebnis dieses Briefes war das Hoover-Feierjahr, das einjährige Moratorium für alle politischen Zahlungen. Das Hoover-Jahr läuft am 30. Juni 1932 ab. Inzwischen hat sich die deutsche Wirtschaftskrise nicht gemildert, sondern noch ganz erheblich verschärft. Der Beratende Sonderausschuss bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, der zur Klärung der Lage angerufen wurde, stellte die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands fest und lenkte zugleich die Aufmerksamkeit der Regierungen auf die beispiellose Schwere der Krise; er zitierte den Layton-Bericht, der darauf hinwies, dass noch vor dem 29. Februar 1932 sofortige Schritte von den Regierungen unternommen werden müssten, wenn Katastrophen vermieden werden sollen.

Einer dieser Schritte, der Hauptschritt sogar, ist die Konferenz von Lausanne. Brüning glaubte auf dieser Konferenz der Sympathie Englands und Italiens gegen Frankreich sicher zu sein; inzwischen sind jedoch MacDonald und Mussolini in die französische Front eingeschwenkt und erklären gemeinsam mit Laval: bevor nicht Amerika als Großgläubiger der Entente die Schulden nachlässt, kann man nicht auf die deutschen Reparationszahlungen verzichten. Was unter diesen Umständen aus der Lausanner Konferenz herauskommen kann, steht jetzt schon fest: keineswegs eine Zerreißung des Young-Plans, sondern ein neues Moratorium, über dessen Länge noch zu reden sein wird. Mit andern Worten: die alte Unsicherheit bleibt, der Druck auf Deutschland und damit auf Europa hält an, die Krise verschärft sich, die Weltwirtschaft schrumpft weiter, die Notwendigkeit eines Interventionskrieges wird dringlicher, der Kapitalismus erweist sich als unfähig, einen Weg aus dem Chaos zu finden.

Zu diesem Ergebnis ist, wie eingangs erwähnt, auch «Die Rote Fahne» gelangt. Dennoch ist keinem Bolschewiki-Leninisten ganz wohl bei den Alarmrufen der zentristischen Presse gegen den Young-Plan; wir wissen zu gut, dass dies alles nur die Begleitmusik des «Programms zur nationalen und sozialen Befreiung» ist, nur die tagespolitische Auswertung der Linie, die mit dem Begriff «Volksrevolution» bezeichnet ist. Der Young-Plan ist der aktuellste und anschaulichste Beweis für die Blindwütigkeit des Imperialismus, der einige wenige heute noch «mächtige» Nationen zwingt, die schwächeren Nationen zu explodieren, mag sich auch die Krise, weltpolitisch besehen, hierdurch immer mehr verschärfen. Im letzten Abschnitt des kapitalistischen Zeitalters, in der Epoche des parasitären und sich zersetzenden Monopolkapitalismus, die wir gegenwärtig durchmachen, ist kein Raum mehr für eine Politik auf lange Sicht. An sich sind Frankreich, Nordamerika und alle übrigen kapitalistischen Staaten durchaus interessiert an der Aufrechterhaltung der «Ordnung» in Deutschland, also an einer wirtschaftlichen Entlastung Deutschlands; jedoch Deutschland könnte nur entlastet werden, wenn Frankreich verzichtet; Frankreich würde nur verzichten, wenn Amerika, der Generalgläubiger aller Weltkriegsschuldner, verzichtete – und Amerika befindet sich selbst schon zu tief in der Krise, um sich noch den Luxus eines Verzichts leisten zu können. «Die Staaten kämpfen ebenso wie die Klassen viel hartnäckiger um einen mageren, sich vermindernden Anteil, als um einen reichlichen und anwachsenden.» (Trotzki, «Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale»)

Als Marxist hat man die Pflicht, gegen das System zu sein, das die Young-Pläne hervorbringt, und den Weg zu weisen, der allein zur Überwindung dieses Systems führt. Hierzu freilich ist ein klarer internationaler Kurs die unerlässliche Voraussetzung. Diese Voraussetzung ist bei den deutschen Stalinisten schon nicht gegeben. Man kann nicht auf der einen Seite den national-reformistischen Standpunkt Stalins, wie er in der Theorie vom Sozialismus in einem Lande zum Ausdruck kommt, verteidigen und auf der andern Seite – wenn es sich um den «Kampf gegen den Young-Plan» handelt – mit großer Geste auf den «sozialistischen Ausweg» verweisen. Die Theorie von der Möglichkeit eines national begrenzten sozialistischen Aufbaus ist keineswegs eine intern russische Angelegenheit, sondern eine Angelegenheit kommunistischer Weltpolitik; sobald die entscheidende Sektion der Komintern die internationale Linie erst einmal verlassen hat, werden die von ihr abhängigen Sektionen gleichfalls dem Nationalkommunismus ausgeliefert. Wenn heute «Die Rote Fahne» ruft: «Wir schlagen Alarm! Wir rufen das werktätige Volk gegen das Youngsystem auf!», so ist das nicht mehr ein marxistischer Protest gegen den Imperialismus, sondern eine Erfüllung des nationalkommunistischen Programms vom 14. September, das die nationale und soziale Befreiung verhieß, eine Konzession an Scheringer, ein Lockruf an die nationalsozialistischen Kleinbürger. Der Lockruf wird, wie alle bisherigen dieser Art, vergeblich sein; der vaterlandstreue Kleinbürger fühlt sich im Dunstkreis seiner faschistischen Tribünenstars noch immer besser aufgehoben als bei dem in die rot-braune Toga der «Volksrevolution» gewendeten Heinz Neumann.

Das Reparationsproblem wird von Brüning, Hoover, Laval und MacDonald nie gelöst werden – eben weil in der Epoche des Imperialismus nationale Fragen nicht mehr durch die Bourgeoisie, sondern nur noch durch das Proletariat zu lösen sind. Aber dieses Proletariat muss unter revolutionärer, leninistischer Führung stehen, nicht unter der schwankenden Führung nationalkommunistischer Stalinisten. Die Losung, die das deutsche Proletariat der Reparationspolitik Brünings gegenüberzustellen hat, ist die Losung, die im Programm der Komintern vom Sechsten Weltkongress leider gestrichen wurde: die Parole der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa! Angesichts der Einheitsfront, in der sich Thälmann im Kampf «gegen den Young-Plan» mit Hitler und der deutschen Bourgeoisie befindet, bekennt sich die Linke Opposition aufs Neue und ohne Vorbehalt zu dieser Parole, entsprechend den Worten des Gen. Trotzki in seiner Programm-Kritik: «Die Überwindung dieses Chaos in der Form von Vereinigten Sowjetrepubliken von Europa wird eine der ersten Aufgaben der proletarischen Revolution sein.»

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