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Karl Radek 19110428 Um eine verlorene Position

Karl Radek: Um eine verlorene Position

[„Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 99, 28. April 1911]

Je weiter die Diskussion um die Stellungnahme der Reichstagsfraktion in der Frage der Rüstungsbeschränkungen fortschreitet, desto mehr wird es klar, dass die Verteidiger der Fraktion keine Argumente in der Rüstkammer des Marxismus finden können. Der Artikel des Genossen Kautsky in der vorletzten Nummer der „Neuen Zeit, der hier schon besprochen wurde, beleuchtete diese Tatsache mit einem noch grelleren Lichte, weil Kautsky der gelehrte Verwalter des marxistischen Erbes ist. Die Tatsache die von der „Leipziger Volkszeitung“ bewiesen worden ist, dass Kautsky seine eigenen Anschauungen, die er über die Frage noch vor neun Monaten hatte, verleugnen musste, um den Standpunkt der Fraktion zu verfechten, bildet nur ein neues Zeugnis der Richtigkeit des oben gesagten. Genosse Kautsky, dem wohl nur die Zeit noch nicht erlaubte, auf die Feststellungen der „L[eipziger] V[olkszeitung]“ zu antworten, kommt in der letzten Nummer unseres wissenschaftlichen Organs in einem Artikel „Krieg und Frieden1 auf die Frage zurück. Die Gegner des Standpunktes der Reichstagsfraktion können dem Gen[ossen] Kautsky für diesen Artikel ebenso dankbar sein, wie für den vorigen, denn besser, als er es tut, hat selbst der Gen[osse] Ledebour die Unmöglichkeit dieses Standpunktes nicht bewiesen.

Genosse Ledebour versuchte das Wachstum der Friedenstendenzen in der kapitalistischen Gesellschaft zu beweisen durch die Charakterisierung des Imperialismus als der Politik begrenzter Interessentenkreise, der sich das Industrie- und Handelskapital, wie auch das Kleinbürgertum, widersetzen. Der Standpunkt Ledebours ist falsch und steht im Gegensatz zu der Analyse des Imperialismus, wie sie von ernsten marxistischen Forschern gegeben wurde. Wie unrichtig aber auch die Beweisführung Ledebours war, sie bewegte sich in Bahnen, auf denen allein man die Lösung der Frage finden kann: in der Analyse der Interessentenentwicklung der wichtigsten Schichten des Bürgertums, wie sie im Rahmen der allgemeinen Entwicklungsrichtung des Kapitalismus unternommen werden kann.

Anders der Genosse Kautsky. Statt die Haltung der verschiedenen Schichten des Kapitalismus a) dem Imperialismus, b) dem Wettrüsten, c) dem Kriege gegenüber zu untersuchen, nimmt er die folgenden Ausführungen zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung:

Die Verheerungen, mit denen ein europäischer Krieg den ganzen Erdteil bedroht, sind so unsagbar große geworden, die Vorteile, die er bringen kann, für die Volksmasse so bedeutungslos, dass selbst die Bourgeoisie sich dem Eindruck dieses wachsenden Missverhältnisses nicht verschließen kann. Die Abneigung gegen den Krieg nimmt nicht nur unter den Massen des Volkes, sondern auch unter den herrschenden Klassen rasch zu. Es ist denn auch seit vierzig Jahren immer gelungen, jeden Konfliktstoff zwischen europäischen Mächten, und mochte er noch so drohend sein, ohne gewaltsame Explosion aus der Welt zu schaffen. Im entscheidenden Moment schreckt jeder vor der Verantwortung zurück, die furchtbaren Schrecken des modernen Krieges zu entfesseln.

Indes traut doch keiner dem anderen, und jeder will bei allen auftauchenden Konflikten so viel Gewicht als möglich in die Waagschale zu werfen haben, damit er bei der Auseinandersetzung möglichst viel einheimse. So wachsen gleichzeitig mit der Friedenssehnsucht die Kriegsrüstungen.“2

Es unterliegt keinem Zweifel, dass mit dem Wachstum des Kapitalismus das Losschlagen der kapitalistischen Staaten aufeinander nicht so leicht geht als früher: das Bestehen der gegenseitigen ökonomischen Beziehungen, die es unmöglich machen würden, den Feind anzugreifen, ohne sich ins eigene Fleisch zu schneiden, die Furcht vor dem Proletariat, die ungeheuren Kosten eines modernen Krieges erklären genügend die Vorsicht der Regierungen. Aber es ist eine Überschätzung, wenn man den vierzigjährigen Frieden in Westeuropa — in den Kolonien knallte es fortwährend — nur durch diese Momente erklärt. Und diese Überschätzung beruht auf der gleichfalls unbegründeten Überschätzung der Konfliktstoffe zwischen den europäischen Mächten in den letzten 40 Jahren. Zwischen Deutschland und Russland gab es keine wichtigeren Konfliktsursachen; der Kampf um den nahen Orient zwischen Russland und den Westmächten wurde durch die Abschwenkung Russlands nach dem fernen Osten vermieden; der deutsch-französische Gegensatz war ein Grollen wegen der Vergangenheit, das viel stärker in den Volksschichten als in der Bourgeoisie war, welche sich in Afrika und Indochina bereicherte und umgekehrt als Gambetta ihr geraten hatte vorging: sie schrie über den deutschen Erbfeind, dachte aber an keinen Krieg gegen ihn; der italienisch-französische Gegensatz von Tunis wurde gemildert durch ein Abschwenken Italiens nach Abessinien usw.; der deutsch-englische Gegensatz aber wird erst akut nach der Niederlage Russlands in Ostasien und gehört eben in die Epoche, in der man von der Friedenssehnsucht der Mächte verteufelt wenig spürt. Es zeigt sich also, dass es nicht nur an jenen hemmenden Momenten lag, wenn in Europa in den letzten 40 Jahren kein Krieg wütete: die Bourgeoisie hängte die alte Aufgabe der Zuschneidung der europäischen Karte nach den Bedürfnissen eines nationalen Staates an den Nagel, seitdem ihr die kolonialen Profite winkten, auf dem kolonialen Gebiete aber gab es so viel Platz, dass man bei Konflikten immer wieder eine Kompensation fand. Seitdem fast alle kapitalistischen Staaten den imperialistischen Kurs genommen haben, seitdem die Revolution in Asien ihnen das Feld der Expansion einengt, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass die kapitalistischen Regierungen sich von Erwägungen über die Größe der Kriegskosten usw. leiten lassen können. Indem Kautsky diese Änderung in der Weltpolitik, die bestimmend für die Verschärfung der weltpolitischen Gegensätze ist, beiseite lässt, verliert seine ganze Konstruktion jeden konkreten Charakter, ist sie gänzlich unhistorisch.

Aber nicht weniger bezeichnend als das, was er ausführt, ist das fehlende Bindeglied seiner Argumentation: er vergisst nämlich zu zeigen, welche Interessen der wichtigsten Schichten des Kapitalismus diese allgemeine Angst des Kapitalismus zu ihrer Politik machen, aus welchen Interessen dieser Schichten diese Friedenspolitik quillt. Denn die bloße Behauptung, es gebe eine gegen den Krieg und gegen das Wettrüsten gerichtete Bewegung des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie und dass sie „ebenso realen Beweggründen wie die entgegengesetzte Bewegung entspringe“, ist doch kein Beweis, sondern eben nur eine Behauptung. Ich habe hier in meiner Antwort auf Karskis und Ledebours Ausführungen festgestellt, dass eine solche Bewegung nicht existiert und ich habe zu beweisen gesucht, warum sie, insoweit es sich um die Bourgeoisie handelt, unmöglich ist. Die „L[eipziger] V[olkszeitung]“ tat dasselbe. Genosse Kautsky entkräftet unsere Ausführungen mit keinem einzigen Wort, sondern wiederholt nur diese Behauptungen. Aber Bewegungen und dazu solche, die wir nach der Meinung des Genossen Kautsky unterstützen sollen, sind doch keine mystischen Dinge, die man nicht beim Schopf nehmen und auf den Tisch legen könnte. Es ist darum die nächste Aufgabe des Genossen Kautsky, sie der Partei zu präsentieren. Bis zu dieser Zeit werden sie als Verlegenheitslegende gelten müssen. Angenommen nun, dass sie der Scharfsinn des Genossen Kautsky irgendwo findet. Sind sie stärker als die Interessen des Finanzkapitals und eines mächtigen Teiles des Industriekapitals? Und wenn ja, wie werden sie die Wirtschaftspolitik des Kapitalismus, die mit den Rüstungen zusammenhängt, gestatten, wenn sie diese beschränken oder abschaffen wollen? Welche Wege wird die kapitalistische Expansion gehen? Auf alle diese Fragen versuchten die Gegner der Fraktionshaltung eine Antwort zu geben. Genosse Kautsky kümmert sich um diese Fragen nicht, sie existieren anscheinend für ihn nicht. Das Erhebendste steckt jedoch im folgenden Satz: „Wenn von bürgerlicher Seite Vorschläge zur Erhaltung des Friedens oder der Einschränkung der Rüstungen gemacht werden, die einigermaßen durchführbar sind, haben wir alle Ursache, sie zu fördern und die Regierungen zu zwingen, hierzu Stellung zu nehmen.“ Welche einigermaßen durchführbaren Vorschläge wurden von bürgerlicher Seite gemacht? Die Welt weiß nichts davon, selbst der Londoner m.b.-Korrespondent der „Chemnitzer Volksstimme“, der immer weiß, was hinter den verschlossenen Türen der Kabinette geschieht — und wenn er es nicht weiß, dann benachrichtigt er auch davon die übrige Welt via Chemnitz — dieser m.b.-Korrespondent wusste also nichts davon zu melden. Was jedoch bekannt ist, so z.B., dass die sozialdemokratische Fraktion Vorschläge gemacht hat, die zwar ganz durchführbar sind, aber wenn sie zu verwirklichen wären dann würden sie nach der Meinung des Genossen Kautsky nichts anders sein als „Palliativmittelchen, … die jeden Moment durchbrochen werden können.“

Wie sehen also die bisherigen Argumente des Genossen Kautsky aus:

1. Es existieren Friedenstendenzen, die im Interesse der Bourgeoisie verankert sind. Wie, wann und wo — beweist der Genosse Kautsky nicht.

2. Es existieren Bewegungen der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums gegen den Krieg und das Wettrüsten, die wir nicht unterschätzen dürfen, sondern unterstützen müssen. Wie, wann und wo, beweist der Genosse Kautsky nicht.

3. Es sind von bürgerlicher Seite Vorschläge zur Erhaltung des Friedens gemacht worden, die durchführbar sind, wir müssen sie unterstützen und die Fraktion hat es getan. Wo sie gemacht wurden, wie sie aussehen, das sagt der Genosse Kautsky nicht.

Dafür bezeichnet er aber die von der Fraktion gemachten Vorschläge als wertlose Palliativmittel.

Und das alles zusammen ist die Verteidigung einer wichtigen politischen Aktion der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion durch den ersten Theoretiker der Partei. Die „Syndikalisten“ der „Bremer Bürger-Zeitung“ und der „Leipziger Volkszeitung“ haben das Recht, in der Kampagne eine Pause zu machen, bis die Verteidiger der Fraktion neue Argumente gesammelt haben und den Gegensatz zu ihrem früheren Standpunkt erklären.

1 K[arl] Kautsky, „Krieg und Frieden. Betrachtungen zur Maifeier.” Leitartikel in „Die Neue Zeit”, Nr. 30, 28. April 1911, 29. Jahrgang 1910/11, 2. Band, S. 97-107

2 a.a.O., S. 99f.

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