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Karl Radek 19220000 Wege der russischen Revolution

Karl Radek: Wege der russischen Revolution

[Nach der Broschüre, erschienen Verlag der Kommunistischen Internationale. Auslieferungsstelle für Deutschland: Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1922. Druck von Konrad Hanf, Hamburg 8]

I.

Der russische Marxismus, der der russischen Arbeiterklasse den Weg bereitete, indem er die Entwicklungstendenz Russlands beim Ausgang des 19. Jahrhunderts klarlegte und die Rolle der einzelnen sozialen Klassen in den kommenden Kämpfen feststellte, begann seine Arbeit mit der Zertrümmerung der Illusionen kleinbürgerlicher Sozialisten über die Triebkräfte und das Wesen der russischen Revolution. Schon in seinem Erstlingswerke bewies Plechanow, dass auch Russland den Weg über den Kapitalismus durchmachen muss und dass es ihn durchmacht. Die Träume von dem Sprung aus der zaristischen Gebundenheit in das Reich des Sozialismus zerpflückte er als eine schädliche Illusion. Die Arbeiterklasse müsse alles daran setzen, um die Demokratie in Russland zu erobern, und erst, geschult, organisiert, aufgeklärt, auf dem Boden des Kapitalismus und der Demokratie wird sie imstande sein, den Kampf um den Sozialismus durchzuführen. In seiner im Jahre 1881 erschienenen Broschüre „Der Sozialismus und der politische Kampf" schrieb Plechanow:

Zwei so verschiedene Sachen zu verbinden, wie es der Sturz des Kapitalismus und die sozialistische Revolution ist, den revolutionären Kampf zu führen mit der Rechnung, dass diese beiden Momente der sozialen Entwicklung in der Geschichte unseres Vaterlandes zusammenfallen werden, bedeutet nur, den Eintritt des einen wie des andern Ereignisses aufzuschieben."

Indem er so den bürgerlichen Inhalt der zukünftigen russischen Revolution feststellte, erklärte er aber gleichzeitig, dass die Revolution selbst in erster Linie das Werk der Arbeiterklasse sein würde.

Die politische Freiheil wird durch die Arbeiterklasse erobert, oder sie wird überhaupt nicht erobert",

erklärte Plechanow im „Sozialdemokraten" im Jahre 1888.

Die Gedankengänge des Vorkämpfers des russischen Marxismus über die russische Revolution wiesen also einerseits auf die objektive bürgerliche Schranke dieser Revolution hin, andererseits aber wiesen sie den Proletariern die Rolle des Hauptträgers, des Vollziehers der Revolution zu.

Die Jahre, die dem Beginn großer revolutionärer Bewegungen in Russland vorangingen, waren ausgefüllt durch Kämpfe um die Methoden der sozialdemokratischen revolutionären Parteiarbeit, um die Taktik der jungen, in Bildung begriffenen Arbeiterpartei, durch Kämpfe der „Iskra" gegen die „Ökonomisten", die nur mittelbar mit den großen historischen Fragen zusammenhängen. Die Frage des sozialen Inhaltes der russischen Revolution stand aber von neuem in vollem Umfange vor der Partei, als einerseits die Neugeburt des kleinbürgerlichen, bäuerlichen Sozialismus der Sozialrevolutionäre und andererseits das Aufkommen der liberalen Bewegung eine klare Stellungnahme erforderten. Im Laufe des Jahres 1904/05 kristallisierte sich aus eben diesen Fragen die menschewistische und bolschewistische Richtung in der russischen Sozialdemokratie heraus. Worin bestand die Differenz in der Analyse des Charakters der russischen Revolution und ihrer Triebkräfte, wie sie von den beiden Richtungen gegeben wurde? In der Broschüre Lenins „Zwei taktische Linien der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" (Sommer 1905) lesen wir:

Indem sie als Aufgabe der provisorischen Regierung die Verwirklichung des Minimum-Programmes stellt, entfernt die Resolution (die Resolution des III. Kongresses der Russ. Sozialdemokr. Partei, der im Frühjahr 1905 stattfand) unreife, halbanarchistische Gedanken über die sofortige Verwirklichung des Programm-Maximums von der Eroberung der Macht zum Zwecke der sozialistischen Umwälzung. Der Grund der ökonomischen Entwicklung Russlands (objektive Bedingungen) und der Grad des Bewusstseins der Organisationen der breiten Massen des Proletariats (subjektive Bedingungen, unzertrennbar mit den objektiven verbunden) machen die sofortige Befreiung der Arbeiterklasse unmöglich. Nur unwissende Leute können den bürgerlichen Charakter der jetzt stattfindenden Umwälzung ignorieren. Nur naive Optimisten können vergessen, wie wenig noch die Masse der Arbeiter von den Zielen des Sozialismus und von den Mitteln seiner Verwirklichung weiß. Und wir sind alle überzeugt, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse sein kann. Ohne Klassenbewusstsein und Organisierung der Masse, ohne ihre Vorbereitung und Bildung, die nur im offenen Klassenkampf gegen die Bourgeoisie erreicht werden kann, kann keine Rede sein von dem sozialistischen Charakter der Revolution. Einwände seitens der Anarchisten, dass wir die Revolution aufschieben, sind dadurch zu beantworten: wir schieben die sozialistische Revolution nicht auf, sondern wir machen den ersten Schritt zu ihr in der einzig möglichen Weise, und das ist auf dem Wege durch die demokratische Republik. Wer zum Sozialismus nicht auf diesem Wege gehen will, durch die politische Demokratie, der kommt zwangsweise zu unsinnigen und reaktionären Resultaten auf dem Gebiete der Wirtschaft und der Politik. Wenn uns diese oder andere Arbeiter im gegebenen Moment fragen werden: „Warum verwirklicht Ihr nicht das Programm-Maximum?", so werden wir ihnen darauf antworten mit dem Hinweis: wie fremd noch dem Sozialismus die demokratisch gesinnten Massen des Volkes sind, wie wenig entwickelt die Klassengegensätze sind, wie wenig organisiert das Proletariat ist! Organisiert Hunderttausende von Arbeitern in Russland und gewinnt Millionen für unser Programm! Wenn Ihr das alles tut, ohne Euch mit schön klingenden, aber leeren Phrasen zu begnügen, so werdet Ihr sofort sehen, dass die Durchführung dieser Organisation, dass die Verbreitung der sozialistischen Aufklärung abhängig ist von einer möglichst weitreichenden Verwirklichung des demokratischen Programmes."

Dies war nicht ein hingeworfener Gedanke, sondern es war die theoretische Grundlage der ganzen Position Lenins und der Bolschewiki während der ersten Revolution. Worin unterschieden sie sich also von den Menschewiki?

Die Unterschiede begannen erst, als es sich darum handelte, die Rolle der nichtproletarischen Klassen in der Revolution und das Verhältnis zu ihnen festzustellen. Aus der Tatsache, dass die russische Revolution erst den Boden für die freie Entwicklung des Kapitalismus bereiten wird, – diese Auffassung war den Menschewiki und den Bolschewiki gemeinsam –, zogen die Menschewiki die Schlussfolgerung, dass der Bourgeoisie die Führung in der Revolution zufallen müsse. In der entschiedensten Weise bekämpften die Menschewiki die Idee, dass die Arbeiterklasse zusammen mit dem Bauerntum die Macht ergreifen müsse, wenn die Revolution konsequent auch nur ihre bürgerlichen demokratischen Ziele zu Ende durchführen solle. Die Rolle der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer Partei sollte nach der menschewistischen Auffassung die Rolle der linken Opposition sein. Die Menschewiki verglichen das Bestreben der Arbeiterklasse, zusammen mit dem Bauerntum die Macht zu erobern, mit dem Millerandismus, mit der Teilnahme der Sozialdemokratie an der bürgerlichen Regierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts und prophezeiten, dass jeder Versuch einer Teilnahme an der Regierung ein Unglück für die Sozialdemokratie sein würde. Die Bolschewiki ihrerseits bewiesen, dass die menschewistische Auffassung erstens vollkommen schematisch sei, und dass sie zweitens auf den radikalen Sieg der bürgerlichen Revolution verzichte. Daraus, dass die russische Revolution ihrem Inhalte nach bürgerlich sein müsse, folge keinesfalls, dass die industrielle Bourgeoisie ihr Träger sein müsse. Die industrielle Bourgeoisie sei zu sehr verbunden mit dem Zarismus. Sie fürchte zu sehr die Arbeiterklasse, als dass sie sich an die Spitze der Volksmassen für den Kampf gegen den Zarismus stellen könne. Sie sei sich schon zu sehr des Gegensatzes zur Arbeiterklasse auf Grund der gesamten Geschichte des XIX. Jahrhunderts bewusst geworden. Aber es gäbe außer der industriellen Bourgeoisie eine bürgerliche Klasse, deren Interessen den Sieg der Revolution erfordern. Das sei das Bauerntum. Die Bolschewiki wiesen darauf hin, dass das Bauerntum, wenn es Grund und Boden bekommen wolle, gegen den Zarismus bis zum endgültigen Siege kämpfen müsse. Das Bauerntum sei eine bürgerliche Klasse. Aber ist es eine Klasse, die, um ihre bürgerlichen Ziele zu verwirklichen, den Bau des Zarismus zerstören muss? Diese Klasse ist ungebildet, und sie beginnt ihre ersten Schritte zu probieren. Die Aufgabe der Sozialdemokratie müsse es sein, nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch das Bauerntum in den Kampf zu führen. Wenn die Arbeit der Sozialdemokratie von Erfolg gekrönt sein wird, wenn die Volksmassen aufstehen werden, um die zarische Regierung niederzuwerfen, so würden sie auch eine revolutionäre Regierung zu bilden haben, deren Aufgabe es sein würde, die bürgerliche Revolution zu Ende zu führen im Kampfe gegen die Kräfte der alten Ordnung, die nicht mit einem Schlage vernichtet werden können. In der Teilnahme an dieser gemeinsamen revolutionären, proletarischen Regierung sahen die Bolschewiki die Garantie für die Durchführung der Revolution und machten es den Menschewiki zum Vorwurf, dass, indem diese sich auf die Rolle der Opposition beschränken wollten, sie von vornherein das Heft den Elementen überließen, die den endgültigen Sieg der Revolution nicht wollen, sondern einen Kompromiss mit dem Zarismus erstreben. Die Kontroversen der Menschewiki und Bolschewiki am Vorabend und während der ersten Revolution bestand also in dem verschiedenen Verhältnis zum Bauerntum auf einer Seite und der liberalen Bourgeoisie auf der andern Seite. Diese Differenzen führten zur Frage nach der Rolle der Arbeiterklasse in der Revolution, zur Frage, ob die Arbeiterklasse die Führung in der Revolution übernehmen oder ob sie diese Führung der Bourgeoisie überlassen solle?

Eine von den beiden Richtungen der russischen Sozialdemokratie abweichende Auffassung äußerten schon damals auf der einen Seite Trotzki und Parvus, auf der andern Karl Kautsky und Rosa Luxemburg. Um mit Kautsky zu beginnen, der jetzt jeden, der einen Zweifel an der Richtigkeit der menschewistischen Auffassung zu äußern wagt, als vollkommenen Phantasten und Utopisten darstellt, so hat er in seiner Antwort auf eine Enquete Plechanows folgendes erklärt:

Der Fragebogen umfasst folgende drei Fragen:

1. Welches scheint der allgemeine Charakter der russischen Revolution zu sein? Stehen wir da vor einer bürgerlichen oder einer sozialistischen Revolution?

2. Welche Haltung muss, angesichts der verzweifelten Versuche der russischen Regierung, die revolutionäre Bewegung zu unterdrücken, die sozialdemokratische Partei gegenüber der bürgerlichen Demokratie einnehmen, die in ihrer Weise für die politische Freiheit kämpft?

3. Welche Taktik soll die sozialdemokratische Partei bei den Duma-Wahlen befolgen, um ohne Verletzung der Resolution von Amsterdam die Kräfte der bürgerlichen Oppositionsparteien zum Kampfe gegen unser „ancien régime" auszunutzen?

Die erste dieser Fragen scheint mir nicht einfach in dem einen oder anderen Sinne zu beantworten zu sein. Das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen, das heißt der Revolutionen, deren Triebkraft die Bourgeoisie bildete, ist abgeschlossen, auch für Russland. Auch dort bildet das Proletariat nicht mehr ein Anhängsel und Werkzeug der Bourgeoisie, wie das in den bürgerlichen Revolutionen der Fall war, sondern eine selbständige Klasse mit selbständigen revolutionären Zielen. Wo aber das Proletariat in dieser Weise auftritt, hört die Bourgeoisie auf, eine revolutionäre Klasse zu sein. Die russische Bourgeoisie, soweit sie überhaupt eine selbständige Klassenpolitik treibt und liberal ist, hasst wohl den Absolutismus, hasst aber noch mehr die Revolution, und sie hasst den Absolutismus vor allem deswegen, weil sie in ihm die Grundursache der Revolution sieht; und soweit sie nach politischer Freiheit verlangt, so geschieht dies vor allem deswegen, weil sie darin das einzige Mittel zu finden glaubt, der Revolution ein Ende zu machen.

Die Bourgeoisie gehört also nicht zu den Triebkräften der heutigen revolutionären Bewegung Russlands, und insofern kann man diese nicht eine bürgerliche nennen.

Deswegen darf man aber doch nicht ohne weiteres sagen, dass sie eine sozialistische sei. Sie vermag auf keinen Fall das Proletariat zur Alleinherrschaft, zur Diktatur zu bringen. Dazu ist das Proletariat Russlands zu schwach und zu unentwickelt. Allerdings ist es sehr wohl möglich, dass im Fortgange der Revolution der Sieg der sozialdemokratischen Partei zufällt, und die Sozialdemokratische Partei tut sehr wohl daran, ihre Anhänger mit dieser Siegeszuversicht zu erfüllen, denn man kann nicht erfolgreich kämpfen, wenn man von vornherein auf den Sieg verzichtet. Aber es wird der Sozialdemokratie unmöglich sein, den Sieg allein durch das Proletariat ohne die Hilfe einer andern Klasse zu erringen, sie wird als siegreiche Partei daher bei der Durchführung ihres Programmes nicht weiter gehen können, als die Interessen der das Proletariat unterstützenden Klasse es gestatten.

Auf welche Klasse darf sich aber das russische Proletariat in seinem revolutionären Kampf stützen? Wenn man nur die politische Oberfläche in Betracht zieht, dann kann man zur Anschauung kommen, dass alle jene Klassen und Parteien, die die politische Freiheit anstreben, einfach zusammenzuwirken hätten, um sie zu erringen, und ihre Differenzen erst austragen sollten, nachdem die politische Freiheit erobert ist.

Aber jeder politische Kampf ist im Grunde ein Klassenkampf, also auch ein ökonomischer Kampf. Die politischen Interessen sind das Resultat ökonomischer Interessen; um diese letzteren zu wahren, erheben sich die Volksmassen, nicht um abstrakte politische Ideen durchzusetzen. Wer die Volksmassen für den politischen Kampf begeistern will, muss ihnen zeigen, wie eng er verknüpft ist mit ihren ökonomischen Interessen. Diese dürfen für keinen Moment in den Hintergrund treten, soll nicht der Kampf um die politische Freiheit ins Stocken kommen. Die Allianz des Proletariats mit andern Klassen im revolutionären Kampfe muss vor allem auf ökonomischer Interessengemeinschaft beruhen, soll sie eine dauerhafte und siegreiche sein können. Auf einer derartigen Interessengemeinschaft muss auch die Taktik der russischen Sozialdemokratie aufgebaut sein.

Eine solide Interessengemeinschaft für die ganze Zeit des revolutionären Kampfes besteht aber nur zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft. Sie muss die Grundlage der ganzen revolutionären Taktik der Sozialdemokratie Russlands abgeben. Ein Zusammenwirken mit dem Liberalismus darf nur dort und in einer Weise ins Auge gefasst werden, wo das Zusammenwirken mit der Bauernschaft dadurch nicht gestört wird.

In der Interessengemeinschaft zwischen dem industriellen Proletariat und der Bauernschaft liegt die revolutionäre Kraft der russischen Sozialdemokratie begründet und die Möglichkeit ihres Sieges, zugleich aber auch die Grenze der Möglichkeit seiner Ausbeutung.

Ohne die Bauern können wir in Russland so bald nicht siegen. Dass die Bauern Sozialisten werden, ist jedoch nicht zu erwarten. Der Sozialismus kann nur auf der Grundlage des Großbetriebes aufgebaut werden, er widerspricht zu sehr den Bedingungen des Kleinbetriebes, als dass er inmitten einer überwiegend bäuerlichen Bevölkerung entstehen und sich behaupten könnte. Er vermag vielleicht, wenn er in der Großindustrie und dem landwirtschaftlichen Großbetrieb zur Herrschaft gelangt ist, dann durch die Kraft seines Beispieles kleine Bauern zu überzeugen und zur Nachahmung anzuregen, er kann von diesen nicht ausgehen. Und in Russland fehlen mehr als anderswo die intellektuellen und materiellen Bedingungen dazu. Der Kommunismus des russischen Dorfes liegt gänzlich am Boden, und er bedeutet keineswegs die Gemeinsamkeit der Produktion. Auch ist es unmöglich, die moderne Warenproduktion auf der Grundlage der Dorfgemeinde in eine höhere Produktionsweise überzuführen. Dazu ist mindestens der Rahmen des Großstaates notwendig, zur Produktion auf nationaler Grundlage sind aber die Produzenten der russischen Landwirtschaft keineswegs befähigt.

Die jetzige Revolution dürfte auf dem Lande nur dahin führen, eine kraftvolle Bauernschaft auf der Grundlage des Privateigentums am Boden zu schaffen und damit die gleiche Kluft zwischen dem Proletariat und dem besitzenden Teile der ländlichen Bevölkerung aufzutun, wie sie in Westeuropa schon besteht. So erscheint es undenkbar, dass die jetzige Revolution Russlands bereits zur Einführung einer sozialistischen Produktionsweise führt, auch wenn sie zeitweilig die Sozialdemokratie ans Ruder bringen sollte.

Aber freilich, wir können manche Überraschungen erleben. Wir wissen nicht, wie lange die russische Revolution noch dauern wird, und nach den Formen, die sie jetzt angenommen hat, scheint sie nicht so rasch zu Ende gehen zu wollen. Wir wissen auch nicht, welchen Einfluss sie auf Westeuropa üben und wie sie dort die proletarische Bewegung befruchten wird. Endlich wissen wir schon gar nicht, wie die daraus erwachsenden Erfolge des westeuropäischen Proletariats auf das russische zurückwirken werden. Wir tun gut, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass wir da völlig neuen Situationen und Problemen entgegengehen, auf die keine bisherige Schablone passt.

Wir dürften der russischen Revolution und den Aufgaben, die sie uns stellt, am ehesten dann gerecht werden, wenn wir sie weder als bürgerliche Revolution im herkömmlichen Sinne, noch auch als sozialistische betrachten, sondern als einen ganz eigenartigen Prozess, der sich an der Grenzscheide zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft vollzieht, die Auflösung der einen fördert, die Bildung der andern vorbereitet und auf jeden Fall die ganze Menschheit der kapitalistischen Zivilisation um ein gewaltiges Stück in ihrem Entwicklungsgang vorwärts bringt."

(Neue Zeit, Nr. 12, 1906.)

Man vergleiche diese Ausführungen Kautskys mit dem, was er mit … sicherer Stirn in seinem neuesten Elaborat „Von der Demokratie zur Staatssklaverei" schreibt:

Nicht das werfen wir Lenin und seinen Leuten vor, dass sie den Kapitalismus für unabwendbar auf der Entwicklungshöhe Russlands betrachten, sondern dass sie erst jetzt zu dieser Erkenntnis kommen, nachdem sie fast vier Jahre lang mit rücksichtslosester Energie in der entgegengesetzten Richtung gesteuert und jeden als Verräter und Renegaten gebrandmarkt haben, der die richtige Einsicht schon vorher besaß, was für einen geschulten Sozialisten nicht schwer war, da die Marxisten schon Jahrzehnte vorher die kommende russische Revolution als bürgerliche erkannt und bezeichnet hatten.

Vier Jahre Blut und Tränen und Ruin hätten die Bolschewisten Russland erspart, wenn sie die menschewistische Selbstbeschränkung auf das Erreichbare besessen hätten, in der sich der Meister zeigt." (Seite 72.)

Der brave Mann sucht hier den Eindruck zu erwecken, als sei er sozusagen von Geburt an Menschewik gewesen. Wie das eben angeführte Zitat beweist, war er nicht nur solidarisch mit den Bolschewiki in der ausschlaggebenden Frage der Beurteilung der Rolle der Bourgeoisie in der russischen Revolution, sondern wo er und inwieweit er von den Bolschewiki abwich, ging er über sie hinaus, indem er den Übergang der russischen Revolution zum direkten Kampf um den Sozialismus für möglich hielt. Der verehrte K. K. kann zu seiner Verteidigung anführen, dass jetzt seine Auffassungen ein Echo der Auffassungen Martows sind und dass er im Jahre 1905/06 Rosa Luxemburgs Echo war.

Kautskys Ausführungen aus dem Jahre 1906 sind die Widerspiegelung einer Tendenz, die während der ersten Revolution ihre Vertretung in Trotzki, Parvus und Rosa Luxemburg fand, einer Tendenz, die – wie gesagt – außerhalb der beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokratie stand. Die Vertreter dieser Tendenz wiesen darauf hin, dass, wenn auch das Bauerntum in der Revolution eine große revolutionäre Kraft bilden würde, die die Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu entfalten suchen und auf die sie sich stützen müsse, so würde aber das Bauerntum dank seiner sozialen Atomisierung, Zerstreutheit, dank seines niedrigen Entwicklungsgrades nicht imstande sein, eine selbständige Politik zu treiben. Während Lenin und die Bolschewiki von der Diktatur des Proletariats und des Bauerntums sprachen, stellten die oben genannten marxistischen Politiker die Formel der Diktatur des Proletariats, das sich auf das Bauerntum stützt, auf. Schon im Jahre 1905 fragte Trotzki in seinem Artikel über die Perspektiven der russischen Revolution (abgedruckt Moskau 1919 in der Broschüre „Die Bilanz und die Aussichten. Über die treibenden Kräfte der Revolution", Verlag Sowjetski Mir):

Die ganze Frage besteht darin, wer wird der Regierungspolitik den Inhalt geben? Wer wird in ihr eine einheitliche Mehrheit haben? Es ist etwas anderes, wenn in einer Arbeiterregierung Vertreter der demokratischen Volksschichten sich befinden, und etwas anderes, wenn in einer bürgerlich-demokratischen Regierung Vertreter des Proletariats in der Rolle mehr oder weniger ehrenhafter Geiseln sitzen … Es genügt, sich eine revolutionär-demokratische Regierung vorzustellen ohne Vertreter des Proletariats, damit der vollkommene Unsinn einer solchen Vorstellung klar werde. Die Ablehnung der Sozialdemokratie, sich an der revolutionären Regierung zu beteiligen, würde die vollkommene Unmöglichkeit der Existenz einer revolutionären Regierung überhaupt bedeuten und wäre also ein Verrat an der Revolution. Aber die Teilnahme des Proletariats an der Regierung ist objektiv am meisten wahrscheinlich und prinzipiell nur zulässig als eine herrschende und leitende Teilnahme. Man kann natürlich diese Regierung die Diktatur des Proletariats und des Bauerntums nennen, die Diktatur des Proletariats, des Bauerntums und der Intelligenz oder eine Koalitionsregierung der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums. Aber die Frage bleibt bestehen: Wem gehört die Vorherrschaft in der Regierung und durch sie im Lande?" (Seite 40.)

Trotzki sprach sich für die Vorherrschaft des Proletariats in der Regierung aus und er suchte zu beweisen, dass, wie sehr auch die sozialen Verhältnisse in Russland zurückgeblieben sind, wie niedrig auch die von Russland erreichte Stufe der kapitalistischen Entwicklung sei, die revolutionäre Regierung genötigt sein würde, Übergangsmaßregeln zum Sozialismus zu ergreifen:

Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Unter welcher politischen Fahne auch das Proletariat zur Macht gelangen würde, es wird genötigt, sein, den Weg der sozialistischen Revolution zu beschreiten. Es wäre eine große Utopie, anzunehmen, dass das Proletariat, durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Herrschaft gebracht, imstande wäre, wenn es nur will, seine Mission zu beschränken auf die Bildung einer republikanisch-demokratischen Form für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie. Die politische Herrschaft des Proletariats, mag sie noch so vorübergehend sein, wird die Widerstandskraft des Kapitals außerordentlich schwächen und wird dem ökonomischen Kampfe des Proletariats eine kolossale Schwungkraft geben. Die Arbeiter können nicht darauf verzichten, von der revolutionären Regierung die Unterstützung der Streikenden zu fordern, und die Regierung, die sich auf die Proletarier stützt, wird nicht imstande sein, diese Forderung abzulehnen. Das bedeutet aber die Lahmlegung der Reservearmee der Arbeit, das wird die Arbeiter nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch zu Herren der Lage machen, wird das private Eigentum an Produktionsmitteln in eine Fiktion verwandeln. Diese unausweichbaren sozialpolitischen Folgen der proletarischen Diktatur werden früher eintreten, als die Arbeit der Demokratisierung beendet sein wird. Die Grenze zwischen dem Minimal- und Maximal-Programm verschwindet, wenn das Proletariat zur Macht gelangt." (Seite 68.)

Trotzki steht so vor der Frage des Verhältnisses dieser von ihm geschilderten politischen Zwangsläufigkeit und dem Zustand der russischen Wirtschaft. Er beantwortet sie durch den Hinweis auf den sehr hohen Grad der industriellen Konzentration Russlands, auf die viel straffere Zusammenfassung des jungen vom Auslande her importierten russischen Kapitalismus und auf den Einfluss der russischen Revolution auf das europäische Proletariat.

Ohne direkte staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats wird die russische Arbeiterklasse nicht imstande sein, die Macht zu behaupten und ihre provisorische Herrschaft in eine dauernde sozialistische Diktatur zu verwandeln. Darüber sind keine Zweifel zulässig. Aber von der anderen Seite ist es unzulässig, zu zweifeln, dass die sozialistische Revolution im Westen uns erlauben wird, unmittelbar und direkt die provisorische Herrschaft des Proletariats in eine dauernde sozialistische Diktatur zu verwandeln. (Seite 71.)

Die russische Revolution ist für ihn der Ausgangspunkt der europäischen proletarischen Revolution. Er fasst die russische Revolution als ein Teilproblem der permanenten europäischen Revolution auf.

Wir verzichten darauf, hier ausführlich die Auffassungen von Rosa Luxemburg zu zitieren, die wenig von denen Trotzkis differierten. Es sei dem Bilde nur noch ein kleiner Strich hinzugefügt. Rosa Luxemburg befasste sich mit den Perspektiven der russischen Revolution schon nach der Niederlage der Revolution des Jahres 1905/06 in einem Artikel, in dem sie sich mit einem Buche des bekannten menschewistischen Publizisten Tscherewanin auseinandersetzte. In diesem Artikel, der im Jahre 1908 in der polnischen marxistischen Revue „Przegląd Socjaldemokratyczny"1 erschien, verfocht sie die These, dass sogar die bürgerlichen Revolutionen, wie die französische, um ihre begrenzten bürgerlichen Ziele zu erreichen, weit über sie hinausgehen mussten, dass eine Revolution, je weiter sie in ihrer Entwicklung gelangt, desto weniger von der Konterrevolution zurückgeschraubt werden kann.

Wir haben die Hauptfragen, die schon vor und während der ersten russischen Revolution vor dem Bewusstsein der Vorderreihen des russischen Proletariats standen, hier skizziert. Wie wir sehen, sind es die Schicksalsfragen der jetzigen russischen Revolution. Die Revolution des Jahres 1905/06 war das Vorspiel der Revolution des Jahres 1917. Es standen in ihr alle die Klassen im Kampfe, die ihre Kräfte zwölf Jahre später unter anderen Umständen zu messen hatten, und darum waren schon damals alle Fragen gestellt, die wir jetzt durch die Taten und Geschicke der russischen Revolution praktisch beantworten. Die Revolution des Jahres 1905/06 konnte nicht auf alle ihre Fragen eine Antwort geben, denn mit Hilfe des europäischen Kapitals gelang es damals dem Zarismus, das junge russische Proletariat und das russische Bauerntum niederzuwerfen, bevor sich die erste russische Revolution genügend international auswirken konnte. Die erste Revolution Russlands belebte die internationale proletarische Bewegung außerordentlich. Sie stellte die Frage des Massenstreiks auf die Tagesordnung, und es ist kein Zufall, dass die erste internationale Urkunde der modernen kommunistischen Bewegung, der Ausgangspunkt der deutschen linksradikalen Bewegung, die Massenstreikbroschüre Rosa Luxemburgs bildet, die schon auf Grund der Erfahrungen der russischen Revolution geschrieben ist. Aber in mancher Hinsicht gab die erste russische Revolution eine klare unzweideutige Antwort auf die „verfluchten Fragen" unserer Tage. Sie zeigte nämlich, dass, mögen die Grenzen der russischen Revolution gezogen sein, wie sie wollen, die Bourgeoisie in Russland schon in der ersten Revolution ein Faktor der Konterrevolution war. Schon in der ersten Revolution ließ sie sich durch Wortzugeständnisse des Zarismus abspeisen und suchte mit ihm einen Kompromiss zu schließen. Wenn es dem Zarismus nur dadurch gelang, die Revolution zu erdrücken, dass das europäische Kapital ihm unter die Arme griff, so war die Haltung des europäischen Kapitals unter anderem dadurch bestimmt, dass es wusste, dass die russische Bourgeoisie trotz aller Scheinopposition den Sturz des Zarismus nicht wollte. Wenn trotzdem die Menschewiki auch nach der Niederlage der ersten Revolution ihre revolutionären Perspektiven mit einem neuen Aufschwung der bürgerlichen Opposition verknüpft (siehe den Artikel Dans in der „Neuen Zeit" 1908), so zeigten sie dadurch, dass sie schon seit ihrer Geburt an politischer Blindheit litten. In der Duma führte die russische Bourgeoisie einen Scheinkampf gegen den Zarismus. Aber gleichzeitig suchte sie mit ihm eine Einigung auf dem Boden des russischen Imperialismus. Peter Struwe, der erste Ideologe des russischen Liberalismus, wurde zum Verkünder des größeren Russlands, und Paul Miljukow, der politische Führer der russischen Liberalen, wurde zum Hauptschrittmacher der russischen Balkanpolitik, die zusammen mit der deutschen türkischen Politik zum Kriege des Jahres 1914 führte.

Der Krieg begrub auch die Scheinkämpfe des Liberalismus unter seinen Trümmern. Die Liberalen bildeten in dem großen Kriege der Jahre 1914/17 den Haupttrupp des russischen Kriegspatriotismus. Die Revolution des Jahres 1917, die nichts anderes war als die Aufbäumung der russischen Volksmassen gegen die vernichtenden Folgen der Teilnahme des Zarismus am Weltkriege, musste darum von vornherein eine Revolution auch gegen das Bürgertum sein.

Schon diese konterrevolutionäre Rolle des Bürgertums brachte es mit sich, dass die Arbeiterklasse, um den Zarismus zu bekämpfen, den schärfsten Kampf gegen die industrielle Bourgeoisie führen musste. Sie musste mit ihr auf Schritt und Tritt um den Einfluss auf die halbproletarischen und kleinbürgerlichen Massen ringen. Gleichzeitig zeigte sich auch, dass diese Kampfstellung des Proletariats gegen die Bourgeoisie nicht nur ihrer Haltung der Demokratie gegenüber entsprang, sondern dass der Kampf um die Demokratie der sozialen Rolle des Proletariats, seinem Kampfe gegen die kapitalistische Exploitation entsprang. Das Proletariat brauchte sich gar nicht hervorzuwagen über die Linie des Minimalprogramms, um in den Kampf mit der Bourgeoisie zu geraten. Schon in dem Moment, wo es gegen die Methode der ursprünglichen Akkumulation zu kämpfen begann, die in Russland vom Kapitalismus noch immer praktiziert wurde, geriet es hart auf hart mit der Bourgeoisie zusammen. Der Kampf um den Acht-Stunden-Arbeitstag, eine Forderung, ohne deren Verwirklichung auch die bürgerliche Demokratie ein Unsinn ist, denn ein Arbeitstier, das von früh morgens bis spät in die Nacht an die Maschine gebunden ist, kann sich selbstverständlich nicht am politischen Leben beteiligen, führte nach dem Oktober-Manifest zu dem großen Kampfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zu dem Kampfe, in dem die Bourgeoisie als Klasse offen, klar, ohne Umschweife an die Seite des Zarismus abschwenkte, bei dem sie Hilfe gegen das Proletariat suchte. Der Gegensatz des Proletariats zur Bourgeoisie zeigte sich als eine der wichtigsten treibenden Kräfte der russischen Revolution.

Im Dorfe hat sich die Revolution nicht endgültig durchgesetzt, aber sie hat dort nicht weniger als in der Stadt die Grundlagen des Zarismus unterwühlt. Sie hat in großen Teilen Russlands zu bewaffneten Kämpfen des Bauerntums gegen die Junker geführt. Der rote Hahn krähte über den Junker-Höfen, die alle Skorpione der Regierung gegen die Bauern in Bewegung setzten. Wenn das Klassenbewusstsein der Bauern in der Armee noch zu wenig entwickelt war, als dass sie es abgelehnt hätten, die Rolle der Henker gegen ihre eigenen Brüder zu spielen, so war die Folge der militärischen Strafexpeditionen in die Dörfer doch eine Unterwühlung des alten Geistes in der Armee wie im Dorfe. Das Zarentum verstand besser als die Menschewiki die Gefahr, die ihm seitens des Bauerntums drohte. Nachdem die zarische Regierung noch bei den Wahlen zur ersten Duma im Jahre 1906 gehofft hatte, dass die graue Masse der Bauern ein Gegengewicht gegen die Stimmung der Städte bilden wird, suchte sie nach der ersten Revolution sie zu spalten, um sich auf die reichen Bauern gegen die armen stützen zu können und durch den neuen Gegensatz innerhalb der Bauernmasse selbst deren Schlagkraft gegen den zarischen Staat zu schwächen und zu lähmen.

Das neue von der marxistischen Analyse nicht vorausgesehene Moment war die Form, in der sich die Arbeiterklasse als revolutionärer Faktor organisierte. Neben den politischen Parteien, neben den Gewerkschaften bildete sie aus eigenem Instinkt die Arbeiter-Räte. In einzelnen Städten waren die Arbeiterräte während der November-Tage 1905 in der Zeit der größten Erschütterung des Zarismus durch den allgemeinen Streik die Machtorgane, vor denen vielerorts die Bourgeoisie kapitulieren musste. Sie zeigten sich im Keime als die Organe des Kampfes um die Macht. Ihre Entstehung wurde von den Marxisten aus der Tatsache des Fehlens alter, in der Arbeiterklasse fest verankerter Gewerkschaften erklärt, das das Bedürfnis nach losen proletarischen Organisationen entstehen ließ. Dass es sich hier nicht nur um Organisationen des Kampfes gegen die bürgerliche Regierung, sondern um Keime der zukünftigen Organisation der proletarischen Gewalt handelte, das haben sogar die russischen Marxisten damals nicht erkannt, geschweige denn taten es die europäischen.

Es ist sehr charakteristisch, dass die Idee der Arbeiterräte in die Gedankenwelt der europäischen sozialistischen Bewegung, die in vielem von der ersten russischen Revolution befruchtet wurde, keinen Eingang fand.

II.

Die Märzrevolution des Jahres 1917 nahm den Faden der ersten Revolution auf. Der schnelle Sieg im März 1917 war nur möglich dank der Tatsache, dass die Revolution des Jahres 1905 den russischen Boden schon tief durchackert hatte. Die Opportunisten der Zweiten Internationale, die nach der Niederlage des Jahres 1907 erklärten, dass die russische Revolution unnütz gewesen sei, – Herr Karl Leuthner, der geistreichste Mann der Wiener Arbeiter-Zeitung, erklärte im Jahre 1908, die „ausgezeichnet organisierte" jungtürkische Revolution imponiere ihm viel mehr als das revolutionäre Chaos Russlands – zeigten sich noch einmal im Lichte des Ereignisses des Jahres 1917 als kurzsichtige Regenwürmer. Dank den Erfahrungen, die sie in der Revolution des Jahres 1904/06 gesammelt hatten, traten die russischen Volksmassen in den März 1917 mit einem Fonds politischer Begriffe, die gestärkt und verschärft waren durch die Erfahrungen des zweieinhalbjährigen Krieges, trieben sie mit einem Ruck von vornherein die Revolution weiter vor, als die Bourgeoisie zulassen wollte. Die Verhaftung des Zaren, die Hintertreibung der Einsetzung einer Regentschaft, die Proklamierung der Republik, sie waren nicht zum geringsten Teil die Resultate der Arbeit der ersten Revolution. Gleichzeitig ging die Arbeiter- und Soldatenmasse spontan an die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte heran. Ihr folgten die Bauern im Lande, und diese spontan gebildeten Massenorganisationen wurden früher noch, als sie sich dessen bewusst waren, dass sie Organe der proletarischen Macht sein würden, zu Organen, die ihre Hand nach der Macht ausstreckten. Die zentrale Regierungsgewalt fiel der Bourgeoisie in die Hände, und diese zog erst später die kleinbürgerlich-proletarischen und bäuerlichen Parteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zur Teilnahme an der Regierung heran. Aber die bürgerliche provisorische Regierung hatte vom ersten Tage ihrer Existenz an über die „Doppel-Regierung" zu klagen, denn die Arbeiter- und Soldatenräte rissen nicht nur die Kontrolle der bürgerlichen provisorischen Regierung an sich, sondern auch einen Teil der Exekutivgewalt. Es sei mir erlaubt, hier eine Tatsache in Erinnerung zu bringen, die wenig bekannt ist, aber ein grelles Licht auf die schöpferische Kraft der Volksmassen in der Revolution wirft. Als in den ersten Tagen der Märzrevolution, wo die Nachrichten über die Vorgänge in Petersburg noch sehr vage waren, eine Gruppe von Bolschewiki, die sich in Norwegen befand, sich an den Genossen Lenin mit der Frage wandte, wie man sich der Losung der Konstituierenden Versammlung gegenüber verhalten solle, da antwortete Lenin darauf: die Konstituante werde ganz gewiss von der provisorischen Regierung nicht schnell einberufen werden, und ein Parlament sei überhaupt als Zentralpunkt der Revolution von mehr als zweifelhafter Bedeutung. Er riet, überall, wo es möglich sei, die Kommunalverwaltungen in die Hand der Arbeiterschaft zu leiten, um sie zu Stützpunkten der Revolution zu machen. Lenin hatte schon damals mit scharfem Blick erkannt, dass der Inhaber der Gewalt der Revolution nicht die bürgerlich-demokratische Republik sein würde, sondern eine Republik nach dem Typus der Pariser Kommune, in der das revolutionäre Volk die gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt in einer Hand vereinigt. Aber die konkrete Form dieser Republik nach dem Typus der Pariser Kommune konnte nicht von ihm erfunden werden. Sie wurde geschaffen von den Arbeiter- und Soldatenmassen in ihrem dunklen Kampfesdrange.

Was aber war der Inhalt der Märzrevolution? Sie war eine Revolution des Bauerntums im Soldatenkleide und der Arbeiterschaft, die, zu Boden gedrückt durch die Lasten des Krieges, nicht gegen den Krieg selbst und seine Weiterführung aufstanden, sondern gegen die Regierung, die den Krieg so schlecht führte und die alle seine Lasten ihnen aufbürdete. Nur eine geringe Minderheit der Proletarier und der Soldaten war überhaupt gegen den Krieg. In der Revolution reifen die Massen sehr schnell. So wurde die Märzrevolution schnell zur Revolution gegen den Krieg. Sie richtete sich gegen die imperialistische Bourgeoisie und das Junkertum, die immer offener, immer rücksichtsloser gegen die Revolution auftraten. Die Träger der Revolution waren die Arbeiter und die Bauern. Ihre positiven Ziele ergaben sich aus ihrer sozialen Lage. Die Bauern erstrebten die Besitzergreifung des Bodens. Weder die Strafexpeditionen Stolypins noch seine Agrarreform haben die revolutionären Tendenzen der Bauern ausgerottet, noch haben sie ein genügend zahlreiches reiches Bauerntum ausbilden können, das einen Wall gegen die revolutionären Tendenzen im Dorfe bilden konnte. Die Arbeiter erstrebten die sofortige Besserung ihrer Lage, und da dieses Ziel in dem allgemeinen wirtschaftlichen Zerfall, zu dem der Krieg geführt hat, auf gewöhnlichen Wegen unerreichbar war, so begannen sie spontan die Kontrolle der Produktion in die Hände der Fabrik-Komitees zu nehmen, mit dem Zwecke, die Anarchie der Produktion einzudämmen und dadurch ihre Lage zu bessern.

Wie war die Stellungnahme der Parteien der Revolution? Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki stellten sich die Aufgabe, die Arbeiter zurückzuhalten von dem Kampfe gegen die Kapitalisten, die Bauern zurückzuhalten von der Ergreifung des junkerlichen Besitzes, da diese „Unordnung" die Kriegführung schädigen könne. Für ihren Sozialpatriotismus sahen sie die Begründung in der Tatsache, dass in Russland die Revolution gesiegt habe, dass es also nicht um die Verteidigung des Vaterlandes, sondern um die Verteidigung der Revolution gehe. Sogar Zeretelli und Tschernow, die Zimmerwalder waren, fanden ihr Damaskus und vereinigten sich politisch mit den vulgärsten Sozialpatrioten vom Schlage Plechanows und Aleksinskis. Indem sie jede Verwirklichung der sozialen Ziele der Revolution – sogar der bürgerlich-demokratischen – hinauszögern wollten bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung, verwirklichten sie ihre in der ersten Revolution entwickelte Auffassung der russischen Revolution: sie übergaben die Macht den Händen der Bourgeoisie als derjenigen Klasse, deren Interessen den objektiven Rahmen der Revolution bilden und die die Führung der Revolution haben muss. Ihr altes Gerede von der Rolle der Sozialdemokratie als der äußersten Opposition verflog wie blauer Dunst. Nicht die äußerste Opposition der Bourgeoisie waren sie, sondern sie waren die einzige Stütze der bürgerlichen Regierung in den Bauern-, Soldaten- und Arbeitermassen.

Die bolschewistische Partei erklärte ihrerseits, dass man angesichts des Grades der von Russland erreichten sozialen Entwicklung nicht an den sofortigen Sieg des Kommunismus denken könne. „Nicht die Einführung des Sozialismus ist unsere direkte Aufgabe, sondern der sofortige Übergang zur Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und der Verteilung der Produkte durch die Arbeiter- und Soldaten-Räte", – so formulierte Lenin am 3. April, nach seiner Ankunft in Petrograd, die sozialen Aufgaben der Revolution. In seiner Polemik gegen Kamenew, der die alte Auffassung der Bolschewiki von dem bürgerlichen Inhalt der Revolution vertrat, berief sich Lenin darauf, dass er schon im Jahre 1905 in seiner von uns oben zitierten Broschüre über zwei taktische Linien geschrieben hat: „Die revolutionäre demokratische Politik des Proletariats und des Bauerntums hat wie alles in der Welt ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Ihre Vergangenheit, das ist die zarische Autokratie, das Leibeigentum, die Privilegien. Ihre Zukunft, das ist der Kampf des Lohnarbeiters mit dem Unternehmer, der Kampf für den Sozialismus", und er führte weiter aus: „Der Irrtum des Genossen Kamenew bestand darin, dass er im Jahre 1917 nur auf die Vergangenheit der revolutionär-demokratischen Diktatur schaute. In Wirklichkeit aber begann bereits ihre Zukunft, denn die Interessen des Lohnarbeiters und des Unternehmers sind schon auseinander gegangen und zwar in der wichtigsten Frage: in der Frage des Verhältnisses zum Krieg" (abgedruckt in den Gesamtschriften Lenins, Band 14, I. Teil, Seite 34).

Der letzte Hinweis auf den Krieg bildet den springenden Punkt für das Verständnis der Unterschiede, die zwischen der Taktik der Bolschewiki in der ersten und zweiten Revolution bestehen. Schon die einfache Tatsache, dass die zweite Revolution auf einer viel höheren Stufe der ökonomischen Entwicklung Russlands stattfand, stärkte das Gewicht der proletarischen Elemente in ihr. Die Bedingungen des Krieges, unter denen die Revolution ausbrach, stellten sie vor neue Aufgaben und schufen neue internationale Rahmen für die revolutionäre Politik in Russland. Die erste Frage, mit der die Revolution zu ringen hatte und die eine Frage von Leben und Tod war, war jene nach dem Verhältnis zum Kriege. Die Revolution, geboren aus dem Versagen des Zarismus im Kriege, aus den Kriegsleiden der Massen, legte die Axt an die Wurzel des Krieges. War sie nicht imstande, den Krieg zu töten, so hätte der Krieg sie mit derselben Axt erschlagen. Weil sie die Kriegsfähigkeit Russlands bedrohte, musste sie die erbittertste Gegenwehr der Klassen hervorrufen, die an der Weiterführung des Krieges interessiert waren, des Finanzkapitals, der Junker und der Offizierskaste. Um die Macht dieser Klasse zu unterwühlen, genügte es nicht, eine parlamentarische Republik einzurichten unter Beibehaltung der alten Unterdrückungsorgane des zarischen Staates. An die Stelle der Polizei und der Gendarmerie musste die Volksmiliz treten. Die Arbeiterräte mussten versuchen, die lokale Gewalt an sich zu reißen; aber die Begrenzung der revolutionären Umwälzungen auf dieses politische Gebiet war ungenügend und unmöglich. Unmöglich, weil die Millionen Bauern-Soldaten nach den unerhörten Opfern, die sie im Kriege gebracht haben, in dem Moment, da sie die Kommandogewalt der Junker brachen, auch den Grund und Boden begehrten, für den sie im Kriege gekämpft haben. Die Arbeiter, die die Revolution bewaffnete und mit einem großen Selbstvertrauen erfüllte, konnten natürlich nicht Wache halten an den Geldschränken der Bourgeoisie. Überall in den Fabriken begannen sie sich in die Verwaltung einzumischen; schlossen aber die Unternehmer die Fabriken, um durch Lock-outs die Arbeiter zur Raison zu bringen, so besetzten die Arbeiter die Fabriken und verkauften die Waren. Dies war nicht nur die Logik der Revolution, dies war auch die revolutionäre Notwendigkeit, wenn die Macht der Klassen, die an der Kriegführung interessiert waren, gebrochen werden sollte. Sollte die Macht der Junker gebrochen werden, so galt es, die Bauern dazu anzutreiben, dass sie mit der Besitzergreifung des Grund und Bodens nicht auf die Konstituante warteten. Sollte die Macht der Kapitalisten gebrochen werden, so musste gezeigt werden, wie die Syndikate und die Banken das Blut der Bauern und der Arbeiter Russlands in Gold ummünzen. Das Proletariat musste die Eisenschränke und die Safes, die die Geschäftsgeheimnisse der Bourgeoisie hüteten, aufbrechen. Wenn die marxistische Theorie sagte, dass eine Neuordnung der Gesellschaft auf sozialistischer Basis in Russland unmöglich sei, so sagte sie gleichzeitig, dass es ohne die Kontrolle der Produktion der Groß-Industrie und der Finanz vor allem unmöglich ist, nicht nur die sich immer mehr verschlechternde Lage der Arbeiterklasse zu bessern, sondern dass ohne diese Maßregeln auch eine Beendigung des Krieges unmöglich ist. Somit stellte der Krieg die Revolution vor neue soziale Aufgaben:

Die Partei des Proletariats kann sich keinesfalls die Einführung des Sozialismus in dem Lande des Kleinbürger- und Bauerntums zum Ziele stellen, ehe nicht die große Mehrheit der Bevölkerung zum Verständnis der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution gekommen ist. Aber nur bürgerliche Sophisten, die sich hinter quasi marxistischen Phrasen verstecken, können daraus die Berechtigung einer Politik folgern, die die unumgänglichen revolutionären Maßregeln aufschiebt, Maßregeln, die praktisch reif sind, die während des Krieges durch eine Reihe bürgerlicher Staaten verwirklicht worden sind, die dringend notwendig sind für den Kampf gegen die heranrückende wirtschaftliche Katastrophe und den Hunger. Solche Maßregeln wie die Verstaatlichung (Nationalisierung) des Grund und Bodens, der Banken und Syndikate oder wenigstens die sofortige Durchführung ihrer Kontrolle durch die Arbeiterräte usw., müssen verteidigt werden und nach Möglichkeit auf revolutionären Wegen verwirklicht werden; sie bedeuten nicht die Einführung des Sozialismus, sondern nur Schritte zum Sozialismus. Ohne diese Maßregeln, die ökonomisch vollkommen durchführbar sind, ist es unmöglich, die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, zu heilen, ist es unmöglich, die nahende Katastrophe zu verhüten. Die Partei des Proletariats darf nicht Halt machen vor einem Angriff auf die unerhört hohen kapitalistischen Profite, auf die Profite der Banken, die sich im Kriege skandalös bereicherten."

So formulierte Lenin die sozialen Aufgaben der bolschewistischen Partei und der Revolution in einem Vorschlag der politischen Plattform der Partei, den er im Jahre 1917 schrieb. (Lenins gesammelte Schriften, Band 14, I. Teil, Seite 50/51, russisch.)

Dieses Programm, das objektiv den Rahmen des Minimum-Programms der Sozialdemokratie übertraf, bildete schon ein Programm des Überganges zum Kampf um den Sozialismus. Es sollte noch nicht Maßregeln zur Durchführung des Sozialismus darstellen. Aber während das Minimal-Programm der Sozialdemokratie Reformen darstellt, die die Lage der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft bessern sollen, in einer Gesellschaft, in der die Bourgeoisie die Macht besitzt, so wurde hier ein Programm aufgestellt, das die Bourgeoisie und die kapitalistische Produktion unter die Kontrolle der Arbeiterklasse stellt. Die Entwicklung der Dinge musste zum Kampfe der Arbeiter- und Bauern-Räte gegen die bürgerliche provisorische Regierung führen, wenn sie sich dieses Programm zu eigen machten, und führte zur revolutionären Diktatur der Proletarier und Bauern.

Konnte sich eine solche Diktatur halten, konnte sie dieses Programm, das nur die Lebensnotwendigkeiten der Revolution formulierte, durchführen? Es war klar, dass dies unmöglich war, solange Russland von einer normalen kapitalistischen Welt umgeben war. Aber Russland war nicht umgeben von einer normalen kapitalistischen Welt, sondern vom Flammenmeer des Weltkrieges. Schon die März-Revolution hatte den Krieg und die ihn führenden Klassen in allen kapitalistischen Ländern erschüttert. Wenn die Zensur auch überall die Nachrichten von der Epoche der Märzrevolution unterdrückte, so unterlag es keinem Zweifel, dass dieses Echo überall stark war. In Deutschland eilte Bethmann-Hollweg, bevor noch die Kunde von der Revolution in die Öffentlichkeit gelangt war, in den Preußischen Landtag, die Bastille der deutschen Reaktion, und verkündete die Ära der Reformen. In England verstärkte sich die Welle der Streiks. Die französische Regierung saß wie auf einem Pulverfass Die Revolution in Russland erschütterte das Gleichgewicht, das sich während des Krieges gebildet hatte, sie drohte nicht nur die Niederlage der Entente herbeizuführen, sondern die Revolution in ganz Europa einzuleiten. Es unterlag gar keinem Zweifel, dass die Übernahme der Macht durch das Proletariat und das Bauerntum in Russland und die energische Friedenspolitik eine revolutionäre Bresche in der Kriegsfront entstehen lassen musste, in die weitere Abteilungen des Proletariats eindringen würden. Die Voraussagungen der revolutionären Marxisten, dass der imperialistische Krieg in den Bürgerkrieg umschlagen müsse, dass der imperialistische Krieg die Ära der Weltrevolution einleiten würde, näherten sich ihrer Verwirklichung. Die russische Revolution war der Auftakt der europäischen Revolution, und sie hatte Aussichten, nicht isoliert dem vernichtenden Angriff des Weltkapitals ausgeliefert zu sein. In einer revolutionären internationalen Situation entfaltete sich in einem zurückgebliebenen kleinbürgerlichen Lande das Programm der proletarischen Weltrevolution.

Das Programm der Bolschewiki entsprach den Notwendigkeiten der russischen Revolution, und darum wurde es zum Programm der Revolution. Die Bauernmassen kämpften um Frieden, Grund und Boden. Die Arbeitermassen kämpften um Frieden und um die Übergangsmaßregeln zum Sozialismus. Dank dem Krieg, der Millionen Bauern zusammengefasst hatte in den Reihen der Armee, der ihre Zerstreuung und Atomisierung aufgehoben hatte, gewann die Bauernmasse eine zentralisierte Vorstoßkraft, die sie niemals in der Geschichte besessen hatte. In der jungen revolutionären Arbeiterklasse, die die Zentren der Industrie und des Verkehrs beherrschte, bekam die Bauernmasse eine politische Leitung, die ihr sonst in der Geschichte gefehlt hatte. Die bolschewistische Partei, das Resultat einer fünfundzwanzigjährigen Geschichte revolutionärer Kämpfe, verstand es, die Situation nüchtern einzuschätzen und die spontanen Bewegungen der Masse auf die ausschlaggebenden politischen Kampfobjekte zu konzentrieren. So ergab sich der Sieg der Novemberrevolution als eine historische Tatsache, die nur die Blindheit von Doktrinären, die nur das Unverständnis der durch Klassenhass verblendeten Emigranten leugnen konnte. Sogar der nicht nur politisch erblindete, sondern verblödete Karl Kautsky muss in seinem letzten Opus gegen die russische Revolution erklären:

Doch hier fragen wir nicht, ob die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat in Russland zu billigen war oder nicht: Die russische Revolution von 1917 war ein Elementarereignis wie jede große Revolution, das man ebenso wenig verhindern, wie nach Belieben herbeiführen konnte."

Im Anschluss daran sagt Kautsky weiter:

Aber damit ist noch nicht die Frage beantwortet, was die Sozialisten in diesem Falle zu tun hatten. Und da liegt die Antwort für einen Marxisten klar zutage: sie hatten den gegebenen Reifegrad der ökonomischen Verhältnisse sowie des Proletariats in Betracht zu ziehen und danach die Aufgaben zu bestimmen, die sie dem siegreichen Proletariat setzten.

Vor dem Aufkommen der marxistischen Geschichtsauffassung, die die geschichtliche Entwicklung von der ökonomischen abhängig macht und weiß, dass diese gesetzmäßig vor sich geht und keine Phase überspringen kann – vor dieser Geschichtsauffassung sahen in Zeiten des Umsturzes die Revolutionäre keine Schranken für ihr Wollen. Mit einem Sprunge suchten sie das Höchste zu erreichen. Dabei scheiterten sie stets und daher endete jede Revolution, trotz des wirklichen Fortschritts, den sie brachte, mit einem Zusammenbruch der Revolutionäre. Marx lehrt die Methode, auch in revolutionären Zeiten sich nur solche praktischen Aufgaben zu stellen, die mit den gegebenen Mitteln und Kräften zu lösen sind, und dadurch Niederlagen zu vermeiden.

Diese Methode haben die Menschewiki in Russland empfohlen, in Georgien zur Anwendung gebracht, mit bestem Erfolg. Die Bolschewiki dagegen haben dem russischen Proletariat Aufgaben gestellt, die es bei der Unreife der Verhältnisse unmöglich zu lösen vermochte. Kein Wunder, dass ihr Kommunismus gescheitert ist." (Seite 16.)

Über das Scheitern des Kommunismus in Russland wird noch weiterhin die Rede sein. Einstweilen stellen wir nur fest, dass Kautsky, indem er die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat in Russland als ein Elementarereignis darstellt, das man ebenso wenig verhindern, wie nach Belieben herbeiführen konnte, sein Urteil spricht über die von den Menschewiki empfohlenen Methoden der „Beschränkung" als über einen Versuch, das historisch Notwendige zu verhindern. Und indem er trotzdem mit seinen Sympathien auf der Seite der Menschewiki steht, bricht er als Historiker über sich den Stab als Politiker. Die Frage, was die Bolschewiki, zur Macht gelangt, zu tun hatten in einem Lande, in dem die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung kleinbürgerlich ist, bildet den Schwerpunkt jener Frage über das Wesen der proletarischen Staatspolitik in Russland von der Ergreifung der Macht bis zur Kursänderung im März dieses Jahres.

III.

Die Zeit vom November 1917 bis zum März des Jahres 1921 wird von den Gegnern als die Zeit der Durchführung des Kommunismus in Russland dargestellt, um dann von dem Bankrott des Kommunismus am Anfange des Jahres 1921 sprechen zu können. Um diese Legende zu widerlegen, ist es besser, wenn ich vorerst einen längeren Artikel aus einer Darstellung der Gesamtlage Russlands zitiere, den ich im Dezember 1919 im Berliner Gefängnis schrieb und der damals in der Berliner Ausgabe der Kommunistischen Internationale unter dem Pseudonym „Struthahn" veröffentlicht wurde. Das Zitat ist besser als eine nachträgliche Darstellung dieses Kapitels der Geschichte der russischen Revolution. Denn man könnte sagen: Aus dem Rathaus kommt man klüger heraus, als man hineingegangen ist! Ich schrieb also im Dezember 1919:

Als die Arbeiterklasse Russlands im November 1917 die Macht übernahm, glaubte weder die bürgerliche noch die sozialistische Welt, dass sie zwei Monate, geschweige denn zwei Jahre die Staatsmacht behalten werde. Dass der deutsche Imperialismus mit Sowjetrussland überhaupt verhandelte, war nur Resultat seiner durch den Krieg verursachten Zwangslage: er wollte im Osten Frieden schließen, sogar mit einer vollkommen vorübergehenden Regierung, in der wohlbegründeten Überzeugung, dass, wenn auch die Bolschewiki verschwänden, keine Partei und keine Regierung die Bauern in absehbarer Zeit mobilisieren könnte. Sowjetrussland musste aber Frieden haben, nicht nur, weil es überhaupt keine Armee hatte, sondern weil nur in dem Falle, wenn es eine Atempause bekam, es Wirklichkeit werden konnte. Zur Zeit der Brester Verhandlungen war Sowjetrussland erst Programm, es existierte erst in den deklarativen Dekreten des Rates der Volkskommissare. Nicht einmal der zarische Absolutismus war in seinen unteren Organen damals vollkommen zerstört, noch der feudale Grundbesitz ausgerottet. Die Formen der Sowjetregierung in Land und Staat erschienen noch ein Experiment, kein organisches Produkt. Die Bolschewiki-Regierung hatte die Wahl: entweder als Regierung des revolutionären Partisanenkampfes vom Ural her mit Hilfe der Alliierten einen Guerillakrieg gegen den deutschen Imperialismus zu führen und zuzulassen, dass das russische Kapital die Restauration unter dem Schutz der deutschen Bajonette durchführe, oder den Brester Golgathaweg zu beschreiten und um den Preis nationaler Erniedrigung vorerst die Arbeit der Niederwerfung der Bourgeoisie, der Organisierung des Proletariats durchzuführen. Wenn deutsche „unabhängige" Narren jetzt noch von einer illusionären auswärtigen Politik der Sowjetregierung sprechen, nachdem sie nach den eigenen Novembererfahrungen mit der Anklage der „Desorganisation" des russischen Heeres durch die Bolschewiki schon zu Hause bleiben müssen, so ist natürlich diesen bankrotten Wilsonianern nicht zu helfen. Dass die Politik der Sowjetregierung, die auf der Überzeugung basierte, dass der Prozess der Zersetzung des Weltimperialismus durch den Brester Frieden nicht aufgehalten, sondern beschleunigt wird, die richtige war, das bewies nicht nur die Tatsache ihrer Sieghaftigkeit, die Tatsache, dass die Folterknechte von Brest-Litowsk jetzt im Graben mit zerschundenen Knochen liegen, das bewies die Tatsache, dass Sowjetrussland sich in dieser Lage zwischen dem Teufel und der tiefen See, wie die Engländer sagen, so sammeln und organisieren konnte, dass es ein Jahr nach dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus den Vertretern des siegreichen Ententeimperialismus das Eingeständnis abringt: mit dem Schwerte kann der Bolschewismus nicht niedergerungen werden. Den Brester Frieden – inwieweit er trotz seines Raubcharakters von positiver Bedeutung für Sowjetrussland war, indem er den großen Krieg beendet – hat Sowjetrussland nicht erzwungen aus eigener Kraft und es haben ihn die deutschen Arbeiter nicht erzwungen: den Brester Frieden hat der Druck der Ententeheere im Westen errungen. Falls jetzt der siegreiche Imperialismus der Entente einen noch mehr räuberischen Frieden mit Sowjetrussland schließt, so wird dieser Friede, wenn er Sowjetrussland nur die Möglichkeit der Existenz lässt, der prinzipielle Durchbruch, die Bresche im kapitalistischen Staatensystem sein, denn dieser Friede wird ein Resultat des Widerstandes sein, den Sowjetrussland mit eigenen Kräften geleistet hat, wird ein Resultat der Hilfe sein, die ihm das Weltproletariat leistete. Aber warum soll Russland, das durch das Schwert nicht zu vernichten ist, überhaupt einen Kompromissfrieden mit der Entente schließen? Weshalb will es nicht mit den Waffen in der Hand den Augenblick abwarten, bis die Zersetzung des Ententekapitalismus wenigstens so weit fortgeschritten ist, dass er Sowjetrussland einen ehrlichen Frieden gewähren muss?

Die Antwort auf diese Frage ist einfach. Während des Weltkrieges, als ihn die verbrecherische Politik aller imperialistischen Staaten ohne Ende in die Länge zog, konnte man mit einer schnellen Katastrophe des Weltkapitalismus rechnen, mit dem Aufbäumen der Volksmassen in mehreren Ländern, wenn die Schlächterei sie keinen anderen Ausweg finden lassen würde. Bei dem Abschluss des Brester Friedens bewertete die Sowjetregierung die ihr durch diesen Frieden gewährte Atempause als eine sehr kurze Episode: entweder kommt bald die Weltrevolution und rettet Sowjetrussland oder es wird bald im ungleichen Kampf untergehen, dachten wir damals. Diese Auffassung der Bolschewiki entsprach der damaligen Lage.

Der Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, die Unfähigkeit der Alliierten, Sowjetrussland militärisch niederzuwerfen, und gleichzeitig die Tatsache, dass der Weltkrieg einstweilen zu Ende ist, dass die Demobilisationskrise überwunden ist, dass die Weltrevolution nicht als Explosion, sondern als Zersetzung, also als langer Prozess die kapitalistische Welt überwindet, ändert vollkommen die Lage, die Bedingungen der äußeren Politik der Sowjetregierung. Einerseits kann sie nicht auf eine schnelle mechanische Befreiung dadurch rechnen, dass eine spontane Massenbewegung im Nu die Clemenceau, Lloyd George, Wilson, und all das, was sich hinter ihnen versteckt, zum Teufel jagt, andererseits kann sie mit mathematischer Sicherheit überzeugt sein, dass der Prozess der kapitalistischen Zersetzung fortschreiten und ihre Lage erleichtern wird. Aber weil es ein langer Prozess sein wird, mit dem zu rechnen ist, darum kommt Sowjetrussland nicht um die Frage herum, einen modus vivendi mit den noch kapitalistischen Staaten zu suchen und zu finden. Wenn morgen die proletarische Revolution in Deutschland oder in Frankreich siegt, wird die Lage Sowjetrusslands leichter sein, weil zwei proletarische Staaten als wirtschaftliche und als Waffenmacht einen größeren Druck auf die kapitalistische Welt ausüben werden; aber ein Interesse, Frieden mit den noch kapitalistischen Staaten zu schließen, werden sie trotzdem haben, schon deshalb, um schließlich zum wirtschaftlichen Wiederaufbau zu gelangen.

Sowjetrussland ließ sich nicht niederschlagen. Und wir sind sicher, wenn die Ententestaaten ihm jetzt keinen akzeptablen Frieden gewähren, so wird es hungern, weiterkämpfen, und sie werden genötigt sein, ihm später einen besseren Frieden zu gewähren. Die Niederringung eines Landes mit den Hilfsmitteln Russlands durch die Blockade erfordert eine Zeitspanne, die der imperialistische Kurs in den Ententeländern nicht überdauern wird. Aber es ist klar, wenn Sowjetrussland noch sehr lange kämpfen muss, so kann es den wirtschaftlichen Wiederaufbau nicht beginnen. Der Krieg nötigt es, seine geschwächten Produktionskräfte in den Dienst der Munitions-Erzeugung zu stellen, seine besten Kräfte zum Kriegshandwerk, seine ruinierten Eisenbahnen zu Truppentransporten zu verwenden. Die Not des Krieges zwingt, die Schlagkraft des Staates in der Hand der Exekutive zu zentralisieren, bedroht das Sowjet-System und, was das Wichtigste ist, droht auf die Länge hin, die besten Elemente der Arbeiterklasse aufzufressen. Die Sowjetregierung hat Unmenschliches geleistet, um all dem entgegenzuwirken. Was sie an Bildungsarbeit geleistet hat trotz aller Not, das setzt heute schon ehrliche bürgerliche Gegner in Staunen – man lese Goodes Berichte im Manchester Guardian, und in zwei, drei Jahren wird Sowjetrussland über Hunderttausende neuer organisatorischer und kultureller Kräfte verfügen.

Wie ernst die Führer den Gefahren des Wiederaufbaues der Beamtenbürokratie und Korruption in neuer Form in die Augen schauen, das zeigen mit voller Klarheit die Debatten auf dem Märzparteitag der Bolschewiki, deren Protokoll – ein aufschlussreiches Dokument – jetzt erschienen ist. Aber Krieg ist Krieg, ein grausamer Vernichter, und wenn er durch Opfer abgeschlossen werden kann, so muss er abgeschlossen werden. Es ist ganz gewiss schlimm, wenn das russische Volk den englischen, amerikanischen und französischen Kapitalisten Erzkonzessionen erteilen muss, denn es könnte die Erze selbst besser brauchen als zur Abzahlung von Tributen. Aber es kann, solange es den Krieg führen muss, nicht nur keine Erze abbauen, sondern es muss noch seine Bergarbeiter in den Rachen des Krieges werfen. Stünde die Sache so: wirtschaftlicher sozialistischer Aufbau und Krieg gegen das Weltkapital, das dem sozialistischen Aufbau Grenzen setzt, so wäre die einzig richtige Entscheidung: Krieg. Aber so liegen die Dinge nicht. Die Frage, die zu entscheiden ist, lautet: sozialistischer Aufbau im Rahmen eines einstweiligen Kompromisses oder Krieg ohne jeden wirtschaftlichen Aufbau.

Schon im Frühjahr 1918 stand die Sowjetregierung vor der Frage wirtschaftlicher Kompromisse. Als der amerikanische Oberst Raimond Robins am 3. Mai 1918 von Moskau nach Washington abreiste, nahm er mit sich einen konkreten Vorschlag der Sowjet-Regierung, der die Bedingungen für wirtschaftliche Konzessionen enthielt (er ist veröffentlicht in den Protokollen des ersten Kongresses der russischen Wirtschaftsräte in der Rede Radeks über die wirtschaftlichen Folgen des Brester Friedens). Gleichzeitig unterbreitete der Gehilfe des Volkskommissars für Handel und Industrie, Bronski, in der ersten Tagung mit den Vertretern der deutschen Regierung die praktischen Vorschläge für die Zusammenarbeit Sowjetrusslands mit dem deutschen Kapital. Bruce Lokkart (dem englischen Vertreter) wurde vertraulich die Basis für Verhandlungen mitgeteilt. Es mag zugegeben sein, dass man damals mitten im Weltkriege hoffen konnte, dass schnelle Explosionen die Notwendigkeit solcher Zugeständnisse aus der Welt schaffen könnten, aber prinzipiell war die Politik dieser Zugeständnisse schon damals beschlossen und sie war vollauf begründet. Solange in allen wichtigsten Staaten das Proletariat nicht gesiegt hat, solange es nicht in der Lage ist, alle Produktionskrälte der Welt zum Aufbau zu gebrauchen, solange neben proletarischen kapitalistische Staaten existieren, solange werden sie genötigt sein, Kompromisse zu schließen, solange wird es weder einen reinen Sozialismus noch einen reinen Kapitalismus geben, sondern, territorial voneinander abgegrenzt, werden sie sich auf den eigenen Staatsgebieten Konzessionen machen müssen. Von der Kraft der proletarischen Staaten, von der Zahl der schon existierenden, wird das Maß der Zugeständnisse abhängen, die man dem Kapitalismus machen muss. Dass man sie machen muss, kann niemand bestreiten, der nicht ein Mittel zeigt, wie das Proletariat auf einmal in allen Ländern zum Siege gelangen könnte.

Aber indem man die Notwendigkeit des Kompromisses der proletarischen mit den kapitalistischen Staaten zugibt, gibt man damit nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Kompromisses mit dem Kapitalismus in jedem Staate zu, gibt man also nicht die Revolution, die Diktatur als Weg zum Sozialismus auf? Haben nicht schließlich die Renner, Bauer, Cunow, Kautsky Recht, ist schließlich die Koalition mit dem Kapitalismus auf dem Boden der Demokratie nicht die richtige Methode, ist der Kommunismus mit seinem Programm der Rätediktatur nicht bankrott? Diese Fragen, die mit voller Wahrhaftigkeit und Schärfe durchgedacht werden müssen, müssen zuerst historisch im Rahmen der Erfahrung der russischen Revolution geprüft werden, wonach zu prüfen sein wird, inwieweit sie internationale Gültigkeit beanspruchen können.

Die Feinde des Kommunismus aus dem Lager der wankenden Elemente der seligen Zweiten Internationale haben auf Lager zwei Legenden, die sich gegenseitig ausschließen. Die eine lautet: die ganze „Sowjettheorie" sei ein Produkt der Not, entstanden, als es sich gezeigt habe, dass die Wahlen zur Nationalversammlung keine bolschewistische Mehrheit ergeben haben; das habe die Bolschewiki genötigt, als stolze Ritter der proletarischen Diktatur aufzutreten. Die zweite Legende lautet, dass die Bolschewiki als wilde Vertreter der Diktatur zur Macht gelangten, aber dann, gewitzigt durch die eigenen Erfahrungen, immer mehr Wasser in ihren eigenen Wein gießen mussten. Wie sehen die Tatsachen aus?

Noch vor der Revolution 1905 sahen die Bolschewiki in der Diktatur des Proletariats und des Bauerntums den historischen Weg, den Russland schreiten wird. Rosa Luxemburg und Trotzki suchten diese Formel zu korrigieren, indem sie von der Diktatur des Proletariats sprachen, das sich auf das Bauerntum stützte. Durch diese Korrektur sollte die auch von den Bolschewiki nicht geleugnete Auffassung unterstrichen werden, dass das städtische Proletariat die Führung in der Revolution haben wird. Das ganze Lager, aus dem sich jetzt der russische Kommunismus zusammensetzt, war darin einig, dass in einem so überwiegend agrarischen Lande wie Russland das Proletariat die Bauerninteressen zu berücksichtigen hat und die Bauern von der Herrschaft nicht ausschließen kann. Wenn die Bolschewiki gegen die Bauernpartei, die von Tschernow geführten Sozialrevolutionäre, 1917 den entschiedensten Kampf führten, so taten sie es nicht im Gegensatz zu den Bauerninteressen, sondern zu ihrer Verteidigung, denn die Führer der Sozialrevolutionäre übten durch ihre Koalition mit der kapitalistischen Kadettenpartei Verrat, sie verschoben die Lösung der Agrarfrage, sie opferten die Bauernmassen im Kriege des russischen Imperialismus. Als dank dieser Politik die Soldaten- und Bauernmasse auf die Seite der Arbeiterklasse trat und den Bolschewiki half, am 7. November 1917 die Macht zu ergreifen, boten die Bolschewiki den besiegten Gegnern die Teilnahme an der Macht an: es wurde nicht nur mit den Menschewiki, sondern auch mit den Sozialrevolutionären zwei Wochen lang nach der Besiegung Kerenskis verhandelt wegen der Bildung einer Koalitionsregierung, die die Diktatur der Bauern und Arbeiter darstellen sollte. Die Verhandlungen scheiterten, weil die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre noch an den Sieg der Bourgeoisie glaubten. Die Bolschewiki zogen zur Teilnahme an der Regierung wenigstens die linken Sozialrevolutionäre heran, die sich von der allgemeinen Partei abgespalten hatten und bereit waren, die Boden- und Friedensfrage auf dem Wege der revolutionären Diktatur zu lösen. Der Bruch mit dieser Partei kam, als es sich zeigte, dass auch in ihr die nationalistischen Elemente überhand nahmen, dass ihre intellektuellen Elemente, im Banne des revolutionär frisierten Nationalismus stehend, sich für die Friedenspolitik nicht entscheiden konnten. Wieder in Verteidigung der Bauerninteressen vollzog sich der Bruch mit dieser Bauernpartei, die auch immer mehr den Kontakt mit dem realen Leben verlor und sich zu einer Partei des revolutionären Intellektuellen-Nationalismus entwickelte. Der Bruch der Bolschewiki mit den Parteien, die die Bauern repräsentieren wollten, aber zum großen Teile nur intellektuelle Ideologen des Bauerntums waren, hat für keinen Moment den Blick der Bolschewiki für das reale Kräfteverhältnis getrübt. Einerseits suchten sie die dank dem Hunger der Städte und der Zersetzung der Industrie ins Dorf abwandernden Arbeiter mit den ländlichen Proletariern und Kleinbauern in eine Organisation der Dorfarmut zusammenzufassen, um den proletarischen Interessen im Dorfe zum Durchbruch zu verhelfen, andererseits waren sie immer mehr bemüht, die mittleren Bauern durch Zugeständnisse (z. B. an die landwirtschaftlichen Genossenschaften) auf die Seite der proletarischen Diktatur herüber zu ziehen. Wer darin einen Opportunismus sieht, der versteht nicht das ABC des Sozialismus. Da sich der Kapitalismus in der Form der Betriebskonzentration nirgends in der Welt so durchgesetzt hat und da es überall Millionen landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe gibt, so wird die Sozialisierung der Landwirtschaft überall ein langsamer, Generationen dauernder Prozess sein, in dem der Sozialismus nicht auf dem Wege der Expropriation, sondern nur durch Verstaatlichung des Hypothekarkredits, des Getreide- und des Düngemittelhandels, des Transportes und des Handels mit landwirtschaftlichen Maschinen, durch all die kulturelle Hilfe, die der sozialistische Staat den Bauern leisten kann, sich durchsetzen wird.

Das Proletariat wird nach seinem Siege über die Bourgeoisie überall auf einen Kompromiss mit den Bauern angewiesen sein, aber es wird diesen Kompromiss eben erst dann schließen können, wenn es die Bourgeoisie besiegt haben wird und die Bauern genötigt sein werden, auf einen Kompromiss einzugehen.

War aber dieser Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie nicht möglich auf einem andern Wege als dem des Bürgerkrieges und der Diktatur? Ging das nicht friedlich auf dem Wege der Demokratie? Die ganze Geschichte der russischen Revolution gibt doch auf diese Frage eine verneinende Antwort. An der Unmöglichkeit nicht nur der Expropriierung der Bourgeoisie auf friedlichem Wege, sondern sogar der Rettung der Volksmassen aus den Klauen des Weltkrieges, an dem nur die Spitzen der Bourgeoisie – das Finanzkapital und seine Nutznießer – ein Interesse hatten, scheiterte die Politik der Menschewiki. Die Bourgeoisie müsste niedergeworfen, die Diktatur der am Frieden interessierten Volksmassen aufgerichtet werden, bevor man auch nur daran denken konnte, die einfachsten Lebensinteressen der arbeitenden Massen durchzusetzen.

Die weiteren direkten und indirekten Versuche der Bourgeoisie und ihrer Helfershelfer, die Sowjetmacht niederzuwerfen, bestimmten mit eiserner Zwangsläufigkeit die Form und den Inhalt der Diktaturmaßnahmen. Auf die Versuche der bürgerlichen Intelligenz, die durch die Banken unterstützt wurde, das Wirtschaftsleben und die Staatsmaschine zu sabotieren, musste mit der Verfolgung der bürgerlichen Presse, der Saboteure usw. geantwortet werden. Das führte allerdings für eine gewisse Zeit viel primitivere Formen der Produktionskontrolle und Leitung herbei, und zwar, bis die Intelligenz den Widerstand aufgab. Gegen die Versuche der Bourgeoisie, ihren Besitz dem Volke durch offenen Landesverrat vorzuenthalten, indem die Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers sich nach dem Brester Frieden hinter deutschem Schutz zu verstecken, ihre Vermögen durch allerhand Schwindeltransaktionen als „deutsche" zu immunisieren suchten, musste einerseits mit Einschüchterungsmaßregeln, andererseits mit schnellen Nationalisierungsmaßnahmen vorgegangen werden. Um eine große Anzahl von Industrien vor einer Verschacherung an das deutsche Kapital zu retten, mussten sie während der Verhandlungen über die Zusatzverträge zum Brester Frieden schnell in Staatseigentum übernommen werden, ohne dass man mit genügender Ruhe diese tief einschneidenden Maßregeln vorbereiten konnte. Als danach die Bourgeoisie sich wieder auf die Seite der Entente stellte und alle Ententekomplotte zu unterstützen begann – vom Einzelterror bis zur Organisation von Aufständen –, musste zum roten Terror gegriffen werden, der wirklich großen Umfang erst dann bekam, als die Heere Koltschaks und Denikins, ausgerüstet von der Entente, aber gestützt durch alle kapitalistischen Elemente Russlands, den offenen Krieg gegen Sowjet-Russland begannen.

In der gesamten zweijährigen Geschichte der proletarischen Diktatur in Russland gibt es inhaltlich keine einzige größere Maßnahme, die auf doktrinärem Wege, nicht aus Notwendigkeit, entstanden wäre. Der Zusammenbruch der Kerenski-Regierung erfolgte dank ihrer vollkommenen Unfähigkeit auch nur zu einem Versuch, Russland aus der blutigen Sackgasse herauszuführen, d. h. dank der Unmöglichkeit der Durchsetzung der primitivsten Volksinteressen gegen den Widerstand der Bourgeoisie auf einem anderen als diktatorischen Wege wurde die Diktatur zur Notwendigkeit.

Diese Notwendigkeit verstanden die Bolschewiki von Anfang an und forderten alle Macht für die Arbeiterräte seit April 1917. Aber es war klar, dass nicht nur die Volksmassen ihres Glaubens an die Nationalversammlung sich erst im Prozess des Kampfes gegen ihre kapitalistische Politik entledigen können, sondern dass angesichts der kontrolllosen Cliquenwirtschaft der Kerenski-Regierung sogar eine parlamentarische Tribüne einen Fortschritt darstellen würde. Dank der Verschleppung der Einberufung der Nationalversammlung durch die Kerenski-Regierung kam die Konstituante zusammen erst im Moment, wo die proletarische Diktatur schon aufgerichtet war. Sie kam als Leichnam zur Welt. Trotzdem war es zulässig, sie sich selbst begraben zu lassen. Wenn die Sowjetregierung es aber übernahm, ihr das Begräbnis zu bereiten, so darum, weil die Gefahr drohte, dass sie noch als Leichnam der Kerenski-Regierung das Blut des Volkes trinken könnte, Sowjetrussland stand in Friedensverhandlungen mit einem rücksichtslosen Feind, und jedes Spielen der Nationalversammlung mit dem Friedensgedanken konnte der deutschen Militärpartei helfen, die Friedensverhandlungen abzubrechen und das junge, erst im Werden begriffene Sowjetrussland niederzuwerfen Die Gleichgültigkeit, mit der alle Volksschichten dem Begräbnis der Konstituante zuschauten, zeigte, dass sie keine lebendige Volkskraft hinter sich hatte. Sie war ein Schatten der Vergangenheit.

Niemand, der die Geschichte der russischen Revolution als Historiker, nicht als moralischer Räsonneur, verfolgt, kann umhin, in der Politik der Bolschewiki eine konsequente, den Notwendigkeiten angepasste Politik anzuerkennen. Niemand, der sie als Revolutionär studiert, kann umhin, sie als die einzige mögliche revolutionäre Politik anzuerkennen. Darüber ist jetzt jeder Streit unmöglich. Es haben dies selbst die Menschewiki in ihrer Kundgebung zum ersten Jahrestag der November-Revolution anerkannt. Aber mehr als diese Anerkennung bedeutet die Tatsache, dass die einzige Kraft, die die Proletarier-Diktatur ablösen könnte, die Diktatur der russischen feudal-kapitalistischen Cliquen wäre, die sich nur mit Hilfe der Weltdiktatur des Finanzkapitals halten könnten.

Die russische Revolution kann besiegt werden; dann kommt an die Stelle der Diktatur des Proletariats die der weißen Generale. Aber die russische Revolution kann nur als Diktatur des Proletariats siegen, das die Volksmassen zum Kampfe gegen das Kapital führt.

Noch röchelnd würde die proletarische Revolution Russlands dem Weltproletariat als ihr Testament die Worte zurufen: Diktatur des Proletariats!

Da stehen wir vor der letzten Frage: Wird sich die proletarische Diktatur aufrechterhalten lassen bei einem Kompromiss mit dem Weltkapital? Wir kommen somit zu den Grenzen der Kompromisse, die ein Arbeiterstaat in seiner auswärtigen Politik machen kann."

Welche Grenzen aber haben die ökonomischen Zugeständnisse, die Sowjetrussland machen kann? – fragte ich in meinem Artikel weiter. – Wie sich Sowjetrussland während der Brester Periode nicht zu einem Vasallen des deutschen Imperialismus erniedrigen ließ, so kann es sich jetzt nicht zur Rolle des Vasallen des angelsächsischen Imperialismus erniedrigen. Während aller Verhandlungen, die Sowjetrussland mit den Vertretern des deutschen und des englischen imperialistischen Konzerns geführt hat, erklärte es: die Welt ist durch den Krieg so verarmt, dass eine der kriegführenden Parteien gar nicht imstande ist, die enormen wirtschaftlichen Bedürfnisse Sowjetrusslands zu befriedigen. Russland muss Maschinen, organisatorische Hilfe überall dort nehmen, wo es sie findet und dazu am billigsten findet. Hat der Ausgang des Krieges daran etwas geändert? Deutschland ist zusammengebrochen, aber trotzdem stehen sein technischer Apparat und sein technisches Können sehr hoch. Die angelsächsischen Länder sind Sieger, aber trotzdem ist ihre wirtschaftliche Zersetzung so weit vorgeschritten, dass sie gar nicht imstande sind, Frankreich und Italien genügend zu helfen. In kapitalistischen Kreisen Frankreichs wächst die Tendenz, in möglichst hohem Grade die wirtschaftlichen Kräfte Deutschlands auszunützen, was noch durch die Tatsache gefördert wird, dass der Franc im Verhältnis zum Shilling2 und Dollar immerfort fällt (auch ein schönes Beispiel des Nutzen des Sieges und der „Solidarität der Sieger"). Polen und Böhmen, die Vasallen der Entente, sind genötigt, mit Deutschland wirtschaftliche Verträge zu schließen, erstens weil die Hilfe, die sie von der Entente bekommen, nicht genügend ist, zweitens, weil durch keinen Sieg die wirtschaftlichen Zusammenhänge aufgehoben werden können, die die geographische Nachbarschaft mit sich bringt. Dazu kommt noch eine sehr wichtige wirtschaftliche Tatsache. Die fortschreitende Zersetzung der kapitalistischen Weltwirtschaft bringt es mit sich, dass selbst, wenn Russland eine so kurzsichtige Politik treiben wollte, in erster Linie Waren zu beziehen, statt an die Mobilmachung seiner Wirtschaftskräfte zu denken, es diese Waren nicht in genügender Anzahl bekommen könnte. Es muss mit dem Minimum an Produktionsmitteln, die es vom kapitalistischen Ausland bekommt, an die Organisation seiner Wirtschaft gehen. Es wird bald darauf angewiesen sein, auch die ihm notwendigen Maschinen in Russland selbst herzustellen. Fasst es diese Notwendigkeit ins Auge, so gehören zu den wichtigsten Dingen, die aus dem Ausland eingeführt werden müssen, geschulte technische Kräfte, die Russland immer mangelten. Deutschland hat dank dem Zusammenbruch seiner Auslandsbeziehungen und dem Niedergang seiner Wirtschaft Tausende von Ingenieuren, Chemikern, geschulten Arbeitern, die brotlos und arbeitslos herumlaufen, die Sowjetrussland die besten Dienste bei dem Wiederaufbau leisten können. Natürlich werden die Entente-Journalisten bei der Lektüre dieser Worte ein Geschrei beginnen: Na, also, die Bolschewiki wollen den Deutschen helfen, auf russischem Boden die Macht des deutschen Kapitalismus wieder aufzurichten. Dieses Geschrei über die neue bolschewistisch-deutsche Verschwörung ist ebenso verlogen wie das alte Gezeter. Wir bieten dem deutschen Kapitalismus nicht einmal die Konzessionen an, die wir dem Ententekapitalismus anbieten. Nicht nur darum, weil er keine Kraft hat, sie von uns zu ertrotzen, sondern weil er damit wenig anzufangen wüsste. Zur Expansion des Kapitals ist Kapitalausfuhr notwendig: Deutschland ist aus dem Kriege als bettelarmes Land herausgekommen. Es bettelt resultatlos um Kredite in Amerika, kann selbst keine Expansion treiben. Auf alter kapitalistischer Basis sind die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen, die wir ohne die Rücksicht auf die Zugeständnisse, die Sowjetrussland England machen muss, für notwendig halten, überhaupt nicht aufzubauen. Nicht Warenaustausch und Kapitalausfuhr, sondern Arbeitshilfe, das ist die neue Grundlage der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen. Sie werden den Deutschen keine Beherrschung Russlands ermöglichen, aber indem sie Russland helfen werden, seine Wirtschaftskräfte neu aufzubauen, werden sie nicht nur Tausenden deutscher Kopf- und Handarbeiter Brot und eine Arbeitsstätte geben, sondern auch die Basis für den späteren deutsch-russischen Warenaustausch schaffen. Diese Politik müsste Russland treiben, selbst wenn es ein bürgerlicher Staat wäre. Es ist eine durch die russischen Interessen diktierte Politik. Aber sie fällt zusammen mit den Linien, von denen ein proletarischer Staat auch in der Not [nicht] abgehen darf: er darf sich nicht zum Organ der Aushungerung und Absperrung anderer Völker machen. Natürlich gehören zum politischen wie zum Liebesverhältnis zwei. Wenn die deutsche Regierung ihre stupide Angst vor dem Bolschewismus und vor der Entente weiter treibt, wenn sie weiter vollkommen passiv bleibt, in der Hoffnung, dass der Teufel schließlich Sowjetrussland holen wird, und sie brünstig in die Arme der Denikinschen Jünglinge und Greise sinken kann, nun, dann wird sie sich die Schuld für die Selbstblockade zuschreiben müssen.

Die Grenzen, die den ökonomischen Zugeständnissen, die Sowjetrussland dem Ententekapital machen kann, gezogen sind, sind weiter sozialer Natur. Es kann nicht auf seinem Boden imperialistische Kolonien entstehen lassen, in denen das russische Proletariat die Rolle weißer Neger spielen soll. Falls Sowjetrussland gewisse Reichtümer an das ausländische Kapital auszuliefern genötigt sein wird, kann das nur auf Grund von Bedingungen geschehen, die konkret zwischen den vertragschließenden Staaten festgesetzt werden. Es handelt sich in der ersten Linie um die Arbeitsbedingungen, die nicht schlechter sein dürfen als die des übrigen russischen Proletariats, wenn die russischen Arbeiter sich überhaupt zur Arbeit stellen sollen, und dann um das Verhältnis der Produktion der konzessionierten Betriebe zu dem allgemeinen Wirtschaftsplan der Sowjetrepublik. Die Verträge müssen den Teil der Produktion bestimmen, der der russischen organisierten Wirtschaft zugute kommen soll. Russland muss, wenn es wirtschaftlich wieder erstehen soll, von der Entwicklung der konzessionierten Betriebe sofort Nutzen ziehen, indem es von ihnen zu Selbstkostenpreisen einen bestimmten Teil der Produktion bezieht, den es dann als Produktionsmittel verwendet. Nur dann werden die Tribute, die es dem ausländischen Kapital zahlen muss, nicht eine Verblutung Russlands bedeuten. Es würde zu weit führen, hier auf andere Einzelheiten der Frage einzugehen, obwohl darüber schon im vorigen Jahre in den Kreisen, die die Wirtschaftspolitik Sowjetrusslands leiten, sehr eingehende und konkrete Beratungen stattfanden. Wenn im vorigen Jahr es zweifelhaft sein konnte, ob besonders die an individualistische Wirtschaftsweise gewohnten kapitalistischen Kreise auf eine Einschränkung ihrer Privatinitiative durch gesellschaftliche Kontrolle eingehen würde, so hat sich inzwischen die Lage merklich geändert. Sie stehen doch in den eigenen Ländern vor denselben Problemen, und wie sehr sie sich gegen all die Versuche der gesellschaftlichen Kontrolle wehren mögen, es unterliegt keinem Zweifel, dass angesichts des Druckes der Arbeiterbewegung, der Notwendigkeit irgendwelcher Bändigung der wirtschaftlichen Anarchie, sie auf ihren alten schrankenlosen Individualismus werden verzichten müssen. Was sie aber den englischen und amerikanischen Arbeitern werden zugestehen müssen, noch bevor diese die politische Gewalt erobert haben, das werden sie auch den russischen Arbeitern zugestehen müssen, hinter denen der russische Proletarierstaat steht.

Wir möchten hier nicht beschönigen und rosig malen. Wie groß auch die Konzessionen sein werden, die das ausländische Kapital den Forderungen des russischen Proletariats zu machen genötigt sein wird, wenn es sich Profite in Russland holen will, die Tatsache, dass russische Arbeiter für fremden Profit arbeiten werden, dass russische Naturschätze einer fremden kapitalistischen Wirtschaft nutzbar gemacht werden, wird einen Fremdkörper in Sowjetrussland entstehen lassen. Aber solange Sowjetrussland selbst noch einen Fremdkörper im kapitalistischen Staatensystem bildet, kann es solche Gefahren nicht überspringen.

Dass hier eine Gefahr vorliegt, ist klar. Denn ganz abgesehen von der Schwierigkeit der Lage der proletarischen Regierung bei Konflikten zwischen den Proletariern und den konzessionierten fremden Kapitalisten, droht die Gefahr, dass um die privaten fremden kapitalistischen Unternehmungen sich die Überreste der geschlagenen russischen Bourgeoisie sammeln könnten. Diese Gefahr würde wachsen, je größere Zugeständnisse die Sowjetrepublik dem fremden Kapital bei langer Dauer des jetzigen Übergangsstadiums machen müsste. Darauf rechnen eben Lloyd George und andere Ententeführer, die geneigt sind, Frieden mit Sowjetrussland zu schließen. Von der voraussichtlichen Dauer dieser Zusammenarbeit hängt es ab, ob sich ihre Hoffnungen erfüllen, hängt der Einfluss des Friedens mit dem Ententekapitalismus auf die Entwicklung des russischen Proletarierstaates ab. Wenn diese Zusammenarbeit lange Jahre dauern würde, so würde aus der Sowjetrepublik im besten Falle ein Staat werden nach der Art von Neuseeland oder Australien, ein kapitalistischer Staat, regiert durch Arbeiter und Farmer, in dem das Finanzkapital dem Proletariat weitgehende Zugeständnisse, was die Lebenshaltung anbelangt, macht. Dies ist zwar ein Zustand, der viel besser ist als der in Europa und Amerika herrschende – eine Proletarierdiktatur zur Verwirklichung des Kommunismus ist das jedoch nicht. Wenn aber die Weltrevolution sich zwar langsam aber sicher durchsetzt, wie anzunehmen ist, wird die Rücksichtnahme auf die Interessen des fremden Kapitalismus weder einen Umfang noch eine Dauer haben, die die wirkliche Macht des Proletariats bedrohen können. Dann wird diese Rücksichtnahme, wenn sie Sowjetrussland den Frieden und die Möglichkeit gibt, an die Restauration seiner Wirtschaft zu schreiten, sogar erlauben, die faktische Macht des Proletariats zu steigern. Denn es ist klar, dass es stärker sein wird, wenn seine Transportverhältnisse sich bessern, die Fabriken Rohstoffe und Heizungsmaterial bekommen, den Bauern Waren für Brot geliefert werden können, – wenn dafür auch mancher Pflock einstweilen zurückgesteckt wird.

Je stärker die Sowjetregierung wird, desto mehr kann sie auf den Terrorismus, der nur ein Abwehrmittel ist, verzichten, desto milder kann sie die Diktatur handhaben Die Diktatur darf nicht aufgehoben werden, solange der Herrschaft des Proletariats Gefahren drohen. Aber von der Höhe der Gefahr hängt die Schärfe der Diktatur ab, von der Milderung der Gefahren die Größe des Kreises der schwankenden Schichten, denen man die Ausübung der politischen Rechte gewähren kann. Paragraph 2 des politischen Teiles des Programmes der Kommunistischen Partei Russlands (vom März 1919) besagt: „Im Gegensatz zur bürgerlichen Demokratie, die den Klassencharakter des Staates verhüllt, erkennt die Sowjetregierung offen die historische Unumgänglichkeit des Klassencharakters jedes Staates an, bis die Klassenteilung der Gesellschaft und damit jede Staatsgewalt verschwunden ist. Der Sowjetstaat ist seinem Wesen nach gerichtet auf die Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter, und die Sowjetverfassung, die von dem Gesichtspunkt ausgeht, dass jede Freiheit ein Betrug ist, wenn sie der Befreiung der Arbeit vom kapitalistischen Drucke widerspricht, schreckt nicht zurück vor der Ausschließung von politischen Rechten. Die Aufgabe der proletarischen Partei besteht darin, dass sie die Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter ohne Wanken durchführt, den geistigen Kampf gegen den tief eingewurzelten Aberglauben von dem absoluten Charakter der bürgerlichen Gesetze und Freiheiten führt, aber gleichzeitig darüber Aufklärung verbreitet, dass die Entziehung der politischen Rechte und jede andere Freiheitsbeschränkung nur eine vorübergehende Maßregel im Kampfe gegen die Ausbeuter darstellt, die ihre Privilegien verteidigen oder deren Wiederherstellung erstreben. Im Maße wie die objektive Möglichkeit der Ausbeutung der Menschen durch den Menschen verschwindet, wird auch die Unumgänglichkeit der vorübergehenden Unterdrückungsmaßregeln verschwinden, und die Partei wird bestrebt sein, sie einzuschränken und schließlich völlig abzuschaffen."

In dem Maße, wie die Siege der Roten Armee über die Heere der Konterrevolution die Hoffnung der russischen Junker und Ausbeuter auf die Wiederherstellung ihrer Herrschaft mindern, wachsen auch die Möglichkeiten der Milderung der proletarischen Diktatur in Russland. Diese Diktatur hat zum ersten Male in der Geschichte der Welt den breitesten Volksmassen die wirkliche Möglichkeit gegeben, an dem geistigen Leben und an der Leitung des Staates teilzunehmen, also eine wirkliche Demokratie zu bilden, wie sie in keinem Staate existiert. Aber gleichzeitig hat diese Diktatur dem Bürgertum und den es stützenden Intellektuellen die politischen Rechte entzogen, weil sie sie gebrauchten, um die Befreiung der Volksmassen zu verhindern. Der bewaffnete Kampf des russischen Proletariats gegen die Konterrevolution wäre schon lange zu Ende, wenn die kapitalistischen Staaten (zuerst Deutschland und dann die Entente) die russische Konterrevolution nicht mit allen Mitteln unterstützt und so Sowjetrussland genötigt hätten, seine Verteidigungsmaßregeln zu verschärfen. In diesem Kampfe hat die Konterrevolution große Niederlagen erlitten. Wenn der Ententeimperialismus endlich aufhört, den russischen Bürgerkrieg zu schüren, wenn er den Todeskordon aufhebt, dann wird die siegreiche Arbeiterklasse in der Lage sein, auf ihre Kriegsmaßregeln nach Maßgabe des Aufhörens des Bürgerkrieges zu verzichten. Dies wird kein Verzicht auf die Leitung des Staates gemäß den Arbeiterinteressen sein, sondern umgekehrt, die einzig reale Entwicklung des Proletarierstaates: durch den Sieg des Proletariats über die Unterdrückung der Bourgeoisie zur Demokratie. Diese Entwicklung wird allmählich vor sich gehen. Jeder Versuch der Beschleunigung dieser Entwicklung durch den Druck des Ententekapitals wird sie hemmen. Jede Einmischung zugunsten der Mitglieder der früheren Bourgeoisie wird das tiefste Misstrauen im Proletariat wecken, den Bürgerkrieg schüren, ob die Sowjetregierung es will oder nicht.

Wir haben die Konzessionen geschildert, die Sowjetrussland machen kann. Viele Revolutionäre werden sie als eine tiefe Erniedrigung empfinden. Was, das stolze Sowjetrussland, das die Kriegsschulden annulliert hat, wird sie zahlen? Sowjetrussland, das die russische Bourgeoisie besiegt hat, wird dem fremden Kapital Konzessionen machen? Ja, eben weil Sowjetrussland das Weltkapital nicht besiegen kann – dies kann nur das Weltproletariat tun – muss es der Weltbourgeoisie Tribute bezahlen. Darüber hilft keine Entrüstung hinweg. Dieser Zustand wird solange dauern, bis die steigende kapitalistische Zersetzung in die Weltrevolution ausmündet. Ein Teil der kapitalistischen und die Presse der angeblich sozialistischen Verräter des Proletariats wird vom Damaskus der Sowjetrepublik, von der Kapitulation der Kommunisierung sprechen. Sie soll nur schwatzen, sie hat dies alles schon nach Brest-Litowsk geschrieben, und wir leben, die Sieger von Brest-Litowsk aber sind unter das Rad der Geschichte gekommen. Wir verzichten auf nichts. Alles, was wir über die Diktatur des Proletariats lehrten, bleibt in vollem Umfange bestehen, und wie sich auch die Formen ihrer Ausübung ändern können, so wird die Sowjetregierung Russlands doch stets die Vertreterin der Macht des Proletariats sein, oder sie wird nicht sein. Eins mag Feind und Freund wissen: Eine Schein-Sowjetrepublik wird es nicht geben. Wenn die Sowjetrepublik keine Kraft hätte, die wirkliche Macht zu verteidigen, würde sie ein Scheindasein nicht verteidigen, sondern offen kapitulieren oder im Kampfe untergehen. Dass sie dies nicht zu tun braucht, zeigt der Ausgang des Herbstansturmes gegen die Hauptstädte. Wäre sie am Ende ihrer Kräfte, wozu hätte sie gekämpft? Hat sie gekämpft, hat sie die schwere militärische Probe überstanden, so wird sie auch die wirtschaftliche Probe des schweren Winters überstehen. Bei den Koltschaks und Denikins sind die wirtschaftlichen Verhältnisse weit schlimmer und dazu kommt noch in Betracht: während in Sowjetrussland die Arbeiterklasse sieht, dass die proletarische Regierung alles tut, um ihr zu helfen, wird sie in der Denikinerei und Koltschakerei hungernd zusehen müssen, wie die Reichen prassen. Halb Europa wird in diesem Winter höllische Folter leiden und nirgends hilft die Entente. Sie hilft nicht, weil sie nicht kann. Die Hilfe erfordert Milliarden und Abermilliarden, und Frankreich und England stehen selbst am Rande des Bankrotts. Die Sowjetregierung hat keinen Grund zur offenen und zur maskierten Kapitulation. Um der schrecklichen Not zu steuern, ist sie gezwungen um des Friedens willen, Zugeständnisse zu machen. Die nächsten Monate werden die Entscheidung darüber bringen, ob die Entente als Ganzes zu irgend einem vernünftigen Gedanken in der russischen Frage fähig ist. Wird sie versagen, so wird Sowjetrussland sich unter größeren Opfern durchsetzen müssen; aber der Zusammenbruch des Entente-Imperialismus wird schneller sein, weil auch er von neuem unerhörte Anstrengungen wird machen müssen, um Sowjetrussland zu besiegen. Zwischen unseren Gegnern und uns besteht der Unterschied, dass die Zeit für uns arbeitet. Wir haben uns entschieden, Zugeständnisse zu machen, weil wir wissen, dass wir endgültig siegen werden; bei ihnen aber kann die Vabanquepolitik Oberhand gewinnen. Nun, ob dies geschieht, wird viel von der Haltung der Ententearbeiter in diesem Winter, von der Entwicklung in allen Teilen der Welt abhängen. Eines ist in allem diesem Wirrwarr der Tendenzen sicher: das Fortschreiten der kapitalistischen Zersetzung, das Wachsen der proletarischen Revolution. Wir, ihre Vorposten, können noch schwierige Augenblicke haben. Sie jedoch wird ganz gewiss siegen!"

Diese Ausführungen waren wie gesagt geschrieben im Dezember des Jahres 1919, im Moment der entscheidenden Siege Sowjetrusslands über die Weißen, im Moment, als Koltschak und Judenitsch erledigt und Denikin bis zum Kaukasus zurückgeworfen waren. Und was besagen diese Ausführungen? Sie besagen, dass wir in dem Moment der größten Siege für keinen Augenblick folgende Gesichtspunkte aus dem Auge verloren haben. Erstens: dass Russland ein Land mit einer überwiegenden kleinbürgerlichen Bevölkerung ist und dass aus diesem Grunde die kommunistische Politik vor dem Dorfe Halt machen muss, ist die Sozialisierung der Landwirtschaft ein Problem, das die Arbeit von Generationen erfordert. Endlich, dass im Augenblick die Sowjetregierung auf einen Kompromiss mit den Bauern hinarbeiten muss. Kurz, es wurde festgestellt, dass der überwiegende Teil der russischen Volkswirtschaft auf kleinbürgerliche Warenproduktion für absehbare Zeit eingestellt sein wird. Zweitens wurde festgestellt, dass die Weltrevolution sich nach dem Überwinden der Demobilisationskrise langsam entwickelt und dass darum die Sowjetregierung für absehbare Zeit sich auf einen Modus vivendi mit den kapitalistischen Staaten einrichten und zu diesem Zwecke bereit sein muss, dem Kapital Zugeständnisse zu machen. „Solange in allen wichtigsten Staaten das Proletariat nicht gesiegt hat, solange es nicht in der Lage ist, alle Produktionskräfte der Welt zum Aufbau zu gebrauchen, solange neben proletarischen noch kapitalistische Staaten existieren, solange werden sie genötigt sein, Kompromisse zu schließen, solange wird es weder einen reinen Sozialismus noch einen reinen Kapitalismus geben, sondern, territorial voneinander abgegrenzt, werden sie sich auf den eigenen Staatsgebieten Konzessionen machen müssen." Diese Auffassung war nicht nur meine Auffassung, sie war die einheitliche Auffassung der leitenden Instanzen der Kommunistischen Partei Russlands und der Sowjetregierung. Und diese Auffassung war nicht erst das Resultat der Erfahrungen des Jahres 1919. Diese Auffassung hatte Lenin nicht nur während des Streites um den Abschluss des Brester Friedens, sondern er hat sie vertreten im April des Jahres 1918 in seiner großen Rede über die nächsten Aufgaben der Sowjetregierung. Diese Rede wurde am 27. April 1918 zur Auffassung des Vollzugsausschusses der Arbeiter- und Soldatenräte erhoben. In seiner Rede hat Lenin folgende Gedanken vertreten: Auf dem Gebiete der auswärtigen Politik ist es notwendig, einerseits die Rote Armee zu bilden, andererseits dem internationalen Kapital solange Zugeständnisse zu machen, wie die Weltrevolution nicht siegt. Auf dem Gebiete der Wirtschaftsorganisation vertrat er nicht nur die Notwendigkeit der Heranziehung der bürgerlichen Spezialisten bei höherer Entlohnung, nicht nur den Kompromiss mit den kleinbürgerlichen Genossenschaften, sondern sogar einen Kompromiss mit kapitalistischen Konzernen, die unter der Kontrolle des Staates bei seiner Beteiligung an dem Profit die Schwer-Industrie organisieren sollten. Wie man den Sozialismus organisieren soll, müssen wir bei den Trust-Königen erlernen, erklärte im April des Jahres 1918 Lenin, und er forderte die zeitweilige Einstellung der weiteren Angriffe auf das Kapital, weil er der Meinung war, dass die Sowjetregierung schon mehr expropriiert habe, als sie imstande sei, zu beherrschen. Nun steht die Frage vor uns: warum hat die Sowjetregierung diese von Lenin im April des Jahres 1918 vertretene Politik, die theoretisch vielmals auch im Jahre 1919 von den Führern der Sowjetrepublik immer wieder vertreten wurde (siehe die Rede Lenins über das Verhältnis zum mittleren Bauerntum im April 1919, siehe die ununterbrochenen Friedens- und Konzessionsvorschläge, die von der Sowjet-Regierung dem ausländischen Kapital im Jahre 1919 gemacht worden sind), warum hat also die Sowjetregierung in der Zeit vom Herbst 1918 bis zum März 1921 eine entgegengesetzte Politik getrieben, die Politik der Konfiskationen im Dorfe, die Politik der Nationalisierung aller Produktionsmittel in der Stadt, ja sogar die Politik der vollkommenen Aufhebung des inneren Handels, der als Spekulation verfolgt wurde? In seiner Rede auf dem Kongress der Abteilung für politische Volksaufklärung im Oktober 1921 erklärte Lenin die Politik dieser drei Jahre als Irrtum, und er proklamierte die Rückkehr zu der Politik des Jahres 1918. Diese seine Erklärung wurde von den Gegnern des Kommunismus aufgegriffen als das Eingeständnis des Bankrotts des russischen Kommunismus, als Gewährleistung der Richtigkeit alles dessen, was nicht nur die Menschewiki, sondern auch die ganze kapitalistische Presse der Welt über die Politik des russischen Kommunismus ausgeführt hat. Nun, Lenin ist zweifelsohne ein Mann von Bekennermut, ein Mann, der niemals Angst hat, die gemachten Fehler einzugestehen. Aber es ist klar, dass er als Leiter einer großen Regierung ganz gewiss seine Reden nicht zu dem Zwecke hält, um sein Herz vor den Kapitalisten der ganzen Welt und vor den Menschewiki auszuschütten, sondern dass seine Reden politischen Zwecken dienen. In einer späteren Rede, die er am 29. Oktober hielt (sie ist abgedruckt in der Moskauer „Prawda" vom 3. November) hat er erklärt, warum er von Fehlern und Irrtümern gesprochen hat. Es gilt, erklärte er, die Wirtschaftspolitik der Sowjetrepublik nicht nur neu zu orientieren, was seit dem März des Jahres 1921 geschieht, sondern es gilt auch, die neue Politik durchzuführen. Die Partei aber, die seit dem Herbste des Jahres 1918 die Politik der schroffsten Nationalisierung geführt hat, ist nicht imstande, im Nu umzulernen, und darum ist es notwendig, in der krassesten Form ihr die Änderung der Bedingungen der Weiterentwicklung der Sowjetrepublik zum Bewusstsein zu bringen. Und das tut Lenin, indem er von früheren Fehlern spricht. In dieser Rede sucht Lenin das Wesen des Fehlers klar zu machen, indem er den Vergleich zieht zwischen zwei verschiedenen Taktiken, die der japanische General Nogi angewandt hatte, um Port Arthur zu besiegen. Er griff zuerst die Festung in wütenden Frontalangriffen an, die ungeheure Opfer gekostet haben. Als Port Arthur auf diese Weise nicht eingenommen werden konnte, ging Nogi zur langsamen systematischen Belagerung über und er nahm die Stadt in zähem Kampfe, in dem die Arbeit der Sappeure und der Artillerie keine geringere Rolle spielten als die Sturmangriffe der Infanterie. Und Lenin fragt: Waren die ersten Sturmangriffe ein Fehler? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Sie waren ein Fehler, da es sich später zeigte, dass sie nicht genügten zur Eroberung der Festung. Sie waren kein Fehler, da sich die Widerstandskraft des Gegners ohne Angriff nicht feststellen lässt, da der Feldherr verpflichtet ist, zu versuchen, den Feind in kürzester Zeit niederzuwerfen, und da schließlich sogar der abgeschlagene Angriff den Gegner geschwächt hat, also eine Vorbedingung war, ihn später durch die Belagerung zu besiegen. Ebenso, sagt er, war es zulässig, zu versuchen, den Kapitalismus in Russland in frontalen Angriffen niederzuschlagen. Als aber die frontalen Angriffe zu keinem gewünschten Resultat geführt haben, war es die Pflicht, den Rückzug anzutreten, und die Belagerung des Feindes, seine Besiegung mit neuen Mitteln zu organisieren. Jeder Vergleich hinkt, aber dieser Vergleich Lenins hinkt auf beiden Füßen, und die Analyse dieses Vergleichs hilft sehr zur Klärung der Ursachen der Politik der Sowjetrepublik in der Zeit vom Herbst 1918 bis März 1921 und ihrer jetzigen Änderung.

Einleitend möchten wir sagen, dass die Legende von den Kriegsplänen eine alte Legende ist, gegen die alle wirklichen kriegshistorischen und Geschichtsschreiber der Strategie gekämpft haben. Die Generalstäbe aller Armeen suchen sich ein Bild von dem zukünftigen Krieg zu machen; der Laie nennt es den Kriegsplan. Aber es gab in der Geschichte keinen Krieg, der mehr als ein Handstreich oder ein Überfall war, der nach einem Plane irgend eines Generalstabes gemacht worden ist. In der deutschen militärischen Literatur entstand nach dem Zusammenbruch des Jahres 1918 ein großer Streit darüber, ob der Krieg nach dem Plane Schlieffens geführt worden ist oder nicht. Die historische Untersuchung hat gezeigt, dass es überhaupt keinen Kriegsplan gegeben hat. Schlieffen hatte eine Idee von der Lage, in der Deutschland einen Zweifrontenkrieg zu führen haben würde, und er entwarf die Grundgedanken der Aufstellung der deutschen Armee-Korps für den Fall, dass der Krieg in den von ihm in Betracht gezogenen Bedingungen geführt wird. Schlieffen rechnete mit der langsamen russischen Mobilisation, und darum dachte er daran, bevor Russland seine Hauptkräfte in Bewegung setzen könne, sich abwehrend auf der Ostfront zu halten und zu versuchen, mit ausschlaggebenden Kräften Frankreich vorerst niederzuwerfen. Einen Plan der Kriegführung hatte er nicht aufgestellt, denn er wusste sehr gut, dass sich der konkrete Plan erst herausarbeiten kann nach den ersten Zusammenstößen mit den feindlichen Kräften, die die Linien des weiteren Vorgehens selbst schaffen. Die Voraussetzungen Schlieffens sind nicht eingetroffen, und darum konnte sogar sein Grundgedanke nicht richtig angewandt werden. Wenn die Kriegführung einen allgemeinen, im Voraus ausgearbeiteten Kriegsplan nicht kennt, so kennt sie jedoch den Plan der einzelnen Schlacht. Der Feldherr verfügt über die Nachrichten, über den Zustand der Kräfte des Feindes in einer konkreten Schlachtsituation. Auch seine Kräfte sind eine gegebene, klar umrissene Größe. Und er sucht alle Möglichkeiten der Überwindung der gegnerischen Kräfte durchzudenken und wählt dann die Idee, die ihm am günstigsten zu sein scheint. Er hat gewöhnlich die Möglichkeit der Wahl. So war es auch mit Nogi. Nogi konnte von vornherein sehen, dass die Einnahme Port Arthurs im Sturmangriff unmöglich ist. Er konnte bei richtiger Einschätzung der gegnerischen Kräfte den gemachten Fehler vermeiden. Nogi überschätzte die Chance des Angriffes, unterschätzte die Kräfte der Verteidigung, und darum war sein Angriff ein Fehler. Nun, unser Nogi, Lenin, schätzte die Kräfte des Weltkapitals sehr hoch ein. In seiner Rede im April des Jahres 1918 hatte er einen Kriegsplan ausgearbeitet, der von der richtigen Einschätzung der Kräfte des Gegners und unserer Schwäche ausging. Und darum schlug er Zugeständnisse an das Bauerntum und das Kapital vor, und darum führte er die Politik des Kompromisses mit dem Weltkapital, indem er in Brest-Litowsk den Frieden mit Deutschland schloss und alles tat, um es zu keinem Kriege mit der Entente kommen zu lassen. Das, was Lenin jetzt als die neue ökonomische Politik vertritt, bedeutet nichts anderes als die Weiterentwicklung seines Kriegsplanes vom Jahre 1918. Was hat ihn also dazu gebracht, im Herbste des Jahres 1921 seinen klugen Plan aufzugeben? Hat Homer zwei Jahre geschlafen? Nein. Lenin, die Sowjetrepublik hatte nicht die Freiheit des Handelns, die Freiheit der Entscheidung. Seit dem tschechoslowakischen Aufstand im Sommer 1918, seit der Besetzung Archangelsk durch die Engländer hat der Feind die Initiative in die Hand genommen. Er diktierte der Sowjetrepublik das Gesetz des Handelns. Der Feind war stärker als wir, und er nahm die Initiative in seine Hände und, indem er zum Angriff überging, war die Möglichkeit eines Kompromisses mit ihm ausgeschlossen. Es galt zu kämpfen, und dieser Kampf entwickelte sich wieder nicht nach einem vorgefassten neuen Plane, sondern er entwickelte sich zwangsläufig nach den Notwendigkeiten der Kampflage.

Wir verstanden ausgezeichnet, dass wir auf einen Kompromiss mit den Bauern angewiesen sind, die Warenproduzenten sind, die Kleinbürger sind und die wir noch Generationen lang für die kommunistische Politik nur durch große Vorteile, die die modernen technischen Mittel der Agrikultur geben, werden gewinnen können. Und trotzdem mussten wir zu einer Politik greifen, die uns im Dorfe Gegner schuf, und die gleichzeitig, mehrere Jahre hindurch getrieben, die landwirtschaftlichen Kräfte des Landes sehr schwächen musste: die Politik der Requisition. Sibirien war erst in den Händen der Tschechoslowaken und dann Koltschaks. Die Ukraine war in den Händen der Deutschen, dann Skoropadskis, dann Petljuras, schließlich Denikins. Wir hatten die Städte, wir hatten die immer mehr anwachsende Armee zu ernähren aus den Vorräten Zentralrusslands und der Wolgagebiete. Der Bauer hatte eben den Grund und Boden erobert. Er kam in das Dorf aus dem Kriege, der sein Selbstbewusstsein gesteigert hat, er hatte Waffen und einen Begriff von der Freiheit und dem Verhältnis zum Staate, der sich sehr der Auffassung näherte, dass solch ein Teufelsding wie der Staat für den Bauer überhaupt nicht notwendig ist. Würden wir damals versucht haben, die Naturalsteuer aufzuerlegen, so hätten wir sie doch nicht einsammeln können, weil uns dazu der Apparat gefehlt und weil der Bauer sie nicht freiwillig gegeben haben würde. Es galt, ihm zuerst durch sehr robuste Mittel klar zu machen, dass der Staat nicht nur ein Recht hat, für seine Bedürfnisse einen Teil der Produkte der Bürger zu beanspruchen, sondern auch, dass er sogar die Macht hat, dieses Recht durchzuführen. Weiter: weil vom Herbst an unser Lebensmittelgebiet sehr beschränkt war, hätte auch die Naturalsteuer dem Bauern alles wegnehmen müssen, was ihm nicht zu seiner Ernährung notwendig war. Eine Naturalsteuer, die das ganze Mehrprodukt wegnimmt und mit Militärkraft eingetrieben wird, ist eben nichts anderes als die Requisition.

Suchten wir aber von dem Bauern das ganze Mehrprodukt wegzunehmen, so musste mit allen Kräften verhindert werden, dass er einen Teil des uns absolut notwendigen Nährgetreides verkaufte3. Wir mussten ihm verbieten, Getreide zu verkaufen, und wir mussten den Handel in der Stadt unterdrücken, der einen Anreiz für den Bauern bildete, Getreide zu verschieben.

Und konnten wir in den Händen der Bourgeoisie die Industrie- und Produktionsmittel belassen? Wir wussten sehr gut, dass wir die kleine und mittlere Industrie nicht selbständig verwalten können, unsere Kräfte langen nicht dazu. Wir wussten, dass uns die Kapitäne der Industrie sehr notwendig sind, und dass die staatliche Syndizierung der Industrie mit Beteiligung des Staates, aber unter praktischer Leitung der vom Staate kontrollierten Kapitalisten, für uns augenblicklich die günstigste Form der industriellen Organisation ist. Aber die Herren Kapitäne der Industrie liefen zum Feinde über, um zuerst mit Hilfe der Deutschen, und dann mit Hilfe der Alliierten uns niederzuwerfen. Sie wollten weder Pächter sein noch unter Kontrolle des Arbeiterstaates stehen. Kurzum, sie wollten nicht mit uns paktieren, weil sie die Hoffnung hatten, uns besiegen zu können. Die Politik des Kompromisses mit den Führern des Großkapitals war unmöglich, weil diese unsere Macht nicht anerkannten, sondern umgekehrt überzeugt waren, dass es ihnen gelingen würde, uns zu besiegen. Aber nur die gegenwärtige Anerkennung der Macht gibt den Boden ab für den Kompromiss. Was die kleinere und mittlere Industrie anbetrifft, so war es natürlich von dem Moment an, wo der große Bürgerkrieg begann, notwendig, sie zu schließen. Die Fronten des Bürgerkrieges unterscheiden sich von den Fronten des Krieges zwischen den Staaten dadurch, dass die Weißen wie die Roten immer gegnerische Kräfte im Rücken haben. Die Linie der Front teilt das Land nur geographisch, nicht sozial. Auf der einen Seite der Frontlinie haben die Roten Übergewicht, aber auf ihrem Territorium sind darum die konterrevolutionären Kräfte nicht verschwunden. Auf der andern liegt die Macht in den Händen der Weißen, aber die Kräfte der Roten, die Kräfte der Revolution existieren und bilden eine große Bedrohung für die weiße Diktatur. Die weiße wie die rote Diktatur muss, um an der Front zu siegen, die gegnerischen Kräfte im Hinterlande voll unterdrücken. Die Kraft der Arbeitermassen besteht in ihrer Organisiertheit. Darum unterdrückt die weiße Diktatur jede Form der Organisation der Arbeiter. Die Kraft der Bourgeoisie besteht in ihrer Verfügung über Produktionsmittel und Waren. Wir können noch so gründlich jede parteipolitische Organisation der Bourgeoisie unterdrücken, wenn wir den bürgerlichen Handel, die bürgerliche Industrie, sogar die kleine und mittlere, bestehen lassen, so wird die Bourgeoisie auf dem Boden der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen ihre Verbindungen als Klasse aufrecht erhalten und ihre materiellen Mittel als Feind der Arbeiterklasse für den Kampf gegen uns ausnützen. Darum mussten wir sogar die kleine und mittlere Industrie nationalisieren, selbst wenn die Nationalisierung nur ein Pseudonym für die Schließung der Betriebe war. Der Kampf war ausgebrochen, und der Feind musste niedergeworfen werden. Wir oder sie, so stand die Frage, und es gab keinen Platz für Kompromisse.

Aber die Nationalisierung war auch aus ökonomischen Gründen notwendig. Wir hatten den Krieg zu führen gegen einen Feind, dem die modernsten kriegerischen und technischen Mittel zur Verfügung standen. Wir aber hatten die Armee auszurüsten, zu bewaffnen mit den Mitteln einer durch den Weltkrieg desorganisierten Industrie, einer Industrie, die schon vor dem Weltkriege viel niedriger stand als die westeuropäische. Wir konnten also nur siegen, wenn wir alle industriellen Kräfte des Landes zusammenrafften und rücksichtslos für den Sieg verwandten. Wir ruinierten entlegene Eisenbahnlinien, wenn es sich darum handelte, das Eisenbahnnetz auf dem Kriegsschauplatz zu stärken. Ich wiederhole noch einmal den Ausspruch, den Trotzki auf dem Parteikongress im Jahre 1920 gemacht hat: Wir haben das Land ausgeplündert, um die Weißen zu besiegen. Dies war ganz gewiss keine ökonomische Politik, geschweige denn kommunistischer Wiederaufbau. Es war die Politik des Krieges und des Sieges, und da wir anders nicht siegen konnten und wir auf diesem Wege gesiegt haben, so hat damit die Geschichte über diese Methoden ihren Spruch gefällt. Und dieser Spruch lautet: dieser Weg war kein Irrtum. Es war der Weg des Sieges.

Aber wir mussten diesen Weg nicht nur im Hinblick auf die Bourgeoisie, nicht nur aus Rücksicht auf die wirtschaftlichen Notwendigkeiten marschieren, wir mussten ihn auch marschieren aus Rücksicht auf die Hauptkraft, auf die wir uns stützten, aus Rücksicht auf die Arbeiterklasse. Jede Klasse hat ihr Maximalprogramm, von dem sie nur ablässt oder das sie nur begrenzt, wenn sie muss, unter dem Drucke der andern Klassen, unter dem Drucke der Notwendigkeit. Die bürgerlichen Sozialreformer haben wenigstens seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Bourgeoisie immer wieder erzählt, dass es in ihrem eigenen Interesse liege, die Arbeiterklasse nicht wie Sklaven zu behandeln. Sie erklärten der Bourgeoisie, dass eine gut entlohnte, kulturell entwickelte Arbeiterklasse auch viel besser arbeiten könne; die Bourgeoisie aber kümmerte sich um all die klugen Ratschläge nicht, bis die Arbeiterklasse ihrem Willen zur rücksichtslosesten Exploitation den eigenen entgegensetzte. Die russische Bourgeoisie fühlte schon das Feuer der Revolution auf den Nägeln, und trotzdem dachte sie nicht daran, durch Staatssyndizierung, durch den Kampf gegen die Spekulation, durch Zugeständnisse an die Arbeiter der Revolution den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die russischen Bauern wollten den Städten, den Arbeitern, die ihnen den Grund und Boden gaben, kein Brot kreditieren, bis sie dazu gezwungen wurden. Die russischen Arbeiter, die von der Bourgeoisie geknechtet und unterdrückt waren, haben die Macht in einem Ansturm erobert. Die Bourgeoisie schien machtlos zu sein, und wer konnte von ihnen erwarten, dass sie unter diesen Bedingungen die reelle Einsicht in die wirklichen Kräfteverhältnisse haben, dass sie wirklich die Schwierigkeiten des neuen Regimes, die Schwierigkeiten der Festsetzung ihrer Gewalt verstehen sollten. Lenin und die Führer der Partei hatten im Jahre 1917 wie 1918 die richtige Einsicht in das Kräfteverhältnis. Die Masse ganz gewiss nicht. Lenin in seiner Rede über die nächsten Aufgaben der Sowjetregierung und Trotzki in seiner Rede „Arbeit und Disziplin" hielten ganze Predigten einerseits gegen das, was sie als die kleinbürgerliche, individualistische Psychologie der Masse bezeichneten, die darin bestand, „uns gehört die Industrie, jeder Arbeiter ist der Herr im Hause, und er kann sich nehmen, was er will", andererseits gegen das Bestreben, den Sozialismus auf einmal durchzuführen. Wenn heute, nach vier Jahren der Revolution, nach den größten Entbehrungen der Masse, Lenin es für notwendig hält, um die energische und strikte Durchführung der Politik des Kompromisses zu sichern, der Partei zu sagen, dass die bisherige wirtschaftliche Politik ein Irrtum war, so ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass im Jahre 1918 die jetzige Politik sich hätte durchführen lassen, selbst ohne den Angriff der Entente. Es genügt, daran zu erinnern, dass gegen diese Politik im Jahre 1918 eine einflussreiche Gruppe von Parteischriftstellern und Organisatoren, wie Bucharin. Ossinski, Smirnow, Jakoblowa, Romow und meine Wenigkeit, in einem besonderen Blatt „Der Kommunist" Sturm lief, dass in der Partei nicht nur eine linkskommunistische Richtung bestand, sondern dass diese Richtung eine zentrale Organisation besaß. Und in dieser Stimmung des ersten gelungenen Sturmangriffes trat die Arbeiterklasse in den schweren Kampf gegen die Weißen und gegen die Intervention ein. Sie ertrug die schrecklichsten Entbehrungen, sie musste die größten Opfer bringen, und wer wird sich wundern, wenn Russland, das Kriegslager, Russland, die belagerte Festung, so leben musste, wie eine Festung zu leben hat. Während die Kämpfer der Revolution Not und Hunger litten, konnten sie da der Klasse, die sie mit Hilfe der Entente aus Feuerschlünden bekämpfte, irgend welche Machtmittel, irgend welche Privilegien belassen?

Die Notwendigkeiten des Krieges, die Notwendigkeiten des Kampfes verwandelten sich in den Köpfen der Masse in die Religion des Kommunismus. Und jede unsere Maßregel, mochte sie noch so begrenzten und vorübergehenden Zielen dienen, wurde eingereiht und verflochten in ein allgemeines System des Kommunismus. Ein kleiner Philister, wie der Menschewik Abramowitsch, fragt, wann und wo habe die kommunistische Partei ihre Maßregeln als vorübergehende bezeichnet? Warum sprach man vom Kommunismus? Der gute Mann hat nicht nur niemals an einem Sturm teilgenommen, sondern er hat auch niemals die Geschichte eines großen Emanzipationskrieges mitfühlend gelesen. Sonst würde er verstehen, dass die Revolution neben der Kühle des Urteils auch Illusionen erzeugt, die keine „Fehler", sondern die die Flügel des Sturmes sind, die ihm Kraft verleihen und die ihn zu dem Ziele führen, das ihm historisch gestellt ist. Wie es lächerlich wäre, zu verneinen, dass von uns im Kampfe viele Fehler gemacht wurden, ohne den Fehler zu machen, ohne fehlerhafte Politik zu treiben, so wäre es lächerlich, zu negieren, dass die verselbständigte Ideologie sehr oft das Zeitweilige, Vorübergehende unserer Maßregeln in ein System verwandelte, das seinerseits die Maßregeln beeinflusste und sie über das notwendige Maß hinaus weiterführte. Im Großen und Ganzen genommen, als historische Epoche, war die Politik, die wir jetzt ändern müssen, nicht nur kein Fehler, sondern nur durch diese mit eiserner Konsequenz durchgeführte Politik haben wir den Feind vom Lande abwehren und im Innern niederwerfen können und konnten so die Bedingungen für die jetzige Politik schaffen. General Nogi hat durch die fehlerhafte Einschätzung des Kräfteverhältnisses, durch den Sturm auf Port Arthur sein Ziel verfehlt. Sowjetrussland hat sich in keinen Sturmangriff freiwillig begeben. Der Krieg mit der Entente, mit all seinen Folgen war ihm aufgezwungen, und unser Sturm wurde nicht abgeschlagen. Wir haben den Feind geschlagen, seine Ziele, unsere Niederwerfung vereitelt und somit die Bedingungen geschaffen für den Versuch, ein Kompromiss mit ihm zu schließen, das notwendig ist zum wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes.

IV.

Die neue ökonomische Politik wurde inauguriert im März des Jahres 1921. Sie fällt zusammen mit zwei Ereignissen; mit der Unterzeichnung des russisch-englischen Handelsvertrages und mit der Niederwerfung des Kronstädter Aufstandes. Diese zwei Ereignisse stehen nicht nur im chronologischen Zusammenhang mit der neuen ökonomischen Politik. Sie stehen im inneren Zusammenhang mit ihr. Das erste Ereignis, die Unterzeichnung des russisch-englischen Handelsvertrages zeigt, warum wir zu der neuen ökonomischen Politik nicht im Jahre 1920 nach dem Siege über Koltschak und Denikin gegriffen haben. Der Grund ist sehr einfach. Nach dem Siege über Koltschak und Denikin begann die stärkste europäische Macht, England, mit uns die Verhandlungen, aber es zog diese Verhandlungen über ein Jahr hinaus. In dieser Zeit mobilisierte die zweitstärkste kapitalistische Macht in Europa, Frankreich, Polen und Wrangel gegen uns. Noch im Spätsommer des Jahres 1920 wurde Wrangel offiziell von Frankreich als Vertreter der russischen Regierung anerkannt. England verhandelte mit uns, ohne auch nur einen Finger zu rühren, um die französische Politik zu hemmen. Das englische Kapital zog die Unterzeichnung eines provisorischen Handelsvertrages in die Länge, um abzuwarten, ob wir nicht von den Polen und Wrangel besiegt würden, um dann die Hände in Unschuld zu waschen. Wenn die neue ökonomische Politik in einem ihrer Teile auf einem Kompromiss mit dem Weltkapital beruht, so ist es klar, dass sie, solange wenigstens der russisch-englische Vertrag nicht unterzeichnet war, vollkommen in der blauen Luft hing. Noch heute, monatelang nach der Unterzeichnung dieses Vertrages, ist kein einziger größerer Konzessionsvertrag abgeschlossen. Alle Verträge stehen im Stadium der Vorbesprechungen. Der Hunger dieses Jahres hat in der Weltbourgeoisie neue Hoffnungen erweckt, und sogar die Teile des Weltkapitals, die nicht mehr auf unsere Niederlage hoffen, warten mit Abschlüssen bis zu dem Moment, wo der Druck der Not am größten sein wird und wo das Kompromiss zwischen ihnen und uns zu den für sie günstigsten Bedingungen geschlossen werden könnte.

Und in welchen Beziehungen zur neuen ökonomischen Politik stehen die Kronstädter Ereignisse? Die Kronstädter Ereignisse waren nur ein Echo eines tiefen Gärungsprozesses in der Bauernmasse. Sie waren nur ein Echo der Bauernaufstände in der Ukraine und im Tambow-Gouvernement. Was besagten aber diese Bauernaufstände?

Sie zeigten, dass der imperialistische Krieg und der Bürgerkrieg die Bauernwirtschaft sehr geschwächt haben. Sie zeigten, dass die Wirtschaftskrise Russlands nicht nur in der Zerrüttung seiner Industrie besteht, sondern auch in der Zerrüttung seiner Landwirtschaft. Sie zeigten, dass hier eine schnelle und gründliche Änderung der Politik notwendig ist, eine Änderung, die desto energischer, desto radikaler ausfallen muss, je unsicherer die Aussichten eines Kompromisses mit dem ausländischen Kapital sind, je schleppender der Gang der Verhandlungen mit dem ausländischen Kapital ist. Die Krise der Landwirtschaft und der schleppende Gang der Verhandlungen mit dem ausländischen Kapital, sie haben die Sowjetregierung genötigt, den ihr im Frühjahre des Jahres 1920 nach der Niederwerfung von Judenitsch, Koltschak und Denikin vorschwebenden Plan des Wiederaufbaues zu ändern. Worin bestand dieser Plan?

Er beruhte auf der Hoffnung auf die Anknüpfung intensiver Wirtschaftsbeziehungen zum kapitalistischen Auslande, die uns eine Masse von Produktionsmitteln geben sollten. Um diese auszunützen, um die Vorarbeiten für ihre Anwendung schnellstens zu Ende zu führen, sollte die rohe Arbeitskraft der breiten Bauernmassen ausgenützt werden durch die Organisationen der sogenannten Arbeitsarmeen. Der Wiederaufbau sollte in frontalem Angriff beginnen. Das war natürlich kein Kommunismus, denn wir waren doch bereit, große Teile der Industrie an das ausländische Kapital zu verpachten. Das Geschrei, dass das Zwangsarbeit sei, wie es nicht nur von der kapitalistischen Presse, sondern auch von ihren menschewistischen Lakaien erhoben wurde, zeigte nur, wie sehr die Bourgeoisie das schnelle Tempo des Wirtschaftsaufbaues Russlands fürchtet. Da dieser Wirtschaftsaufbau nicht weniger im Interesse der Bauern als in dem der Arbeiter lag, so hatten die Arbeitsarmeen an und für sich nichts Kommunistisches. Sie waren eine Maßregel, die notwendig war und notwendig sein wird, wann und wo die proletarisch-bäuerliche Regierung imstande sein wird, den Wiederaufbau im schnellen Tempo durchzuführen. Der Plan scheiterte erstens daran, dass die Arbeitsarmeen, bevor sie noch organisiert waren, in Kriegszustand versetzt werden mussten für den Kampf gegen die Polen und gegen Wrangel. Er scheiterte gleichzeitig an der sehr langsamen Zufuhr der Produktionsmittel aus dem Auslande. Der frontale Wirtschaftsangriff zeigte sich in diesem Momente unmöglich. Am Anfang des Jahres 1921 wurde es klar, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau nur sehr langsam vor sich gehen wird. Das Weltkapital, das unfähig war, uns niederzuwerfen, zeigte sich auch unfähig, einen schnellen Kompromiss mit uns zu schließen. Aus all den Momenten ergab sich die Notwendigkeit des Rückzuges, insofern die Sowjetregierung im Jahre 1920 an den schnellen Wiederaufbau der staatlichen Groß-Industrie mit den Produktionsmitteln des Auslandes und der Hilfe der konzentrierten Bauernkraft dachten. Das Wesen der neuen ökonomischen Politik besteht darin, dass die Sowjetregierung erst die wirtschaftlichen Kräfte in Bewegung setzen muss, auf Grund deren man in der Zukunft an den kommunistischen Wirtschaftsaufbau wird treten können.

V.

Die neue ökonomische Politik der Sowjetregierung begann mit der Aufgabe der Requisitionspolitik im Dorfe und mit ihrer Ersetzung durch die Naturalsteuer. Der Unterschied zwischen den beiden bestand erstens darin, dass von nun an die Bauern nur zu einer einmaligen bestimmten Abgabe verpflichtet sind, während sie bisher von den Requisitionen nach dem jeweiligen Bedarf der Armee und der Städte heimgesucht worden sind. Die angesetzte Naturalsteuer ist viel niedriger als das, was die Bauern bisher abzugeben hatten. Sie gibt ihnen dadurch die Anregung, das Aussaatgebiet zu vergrößern und sorgfältiger den Acker zu bearbeiten, denn über das hinaus, was sie zum Lebensbedarf brauchen, was sie als Steuer dem Staate bezahlen, bleibt ihnen ein Überrest, den sie auf dem Wege des Handels in Industrieprodukte verwandeln können. Somit führte das Zugeständnis an die Bauern zu einem Zugeständnis an das städtische Bürgertum, an das in der Form der Spekulation illegal erhalten gebliebene Handelskapital. An und für sich wäre es keinesfalls notwendig, aus den Zugeständnissen an das Bauerntum dieses Zugeständnis an das Handelskapital abzuleiten. Würde Sowjetrussland über größere Warenfonds verfügen, so könnte der Bauer die ihm verbliebenen Getreideüberschüsse durch die Genossenschaften beim Staate in Industriewaren eintauschen. Das Zugeständnis an das Handelskapital resultiert aus der industriellen Schwäche des Staates, aus dem Ausbleiben von Krediten. Daraus ergeben sich aber weitere Konsequenzen. Auch die Handelsbourgeoisie verfügt nicht über genügende Warenvorräte. Sie sucht dieselben zu sammeln, sei es auf dem Wege des Schmuggels – der auswärtige Handel bildet ein Monopol des Staates – sei es auf dem Wege des Einkaufes auf dem inneren Markte. Hier konnte die Handelsbourgeoisie Waren nur bei den Kustari, den kleinen Handwerkern, beziehen. Der Hausfleiß des Kustari erzeugt aber nur eine wenig bedeutende – der Masse und der Art nach – Zahl von Waren. Will Sowjetrussland nicht künstlich den Warenmangel steigern – und es ist klar, dass dafür kein vernünftiger Grund spricht –, so muss es selbstverständlich die Neubildung der mittleren und der kleinen Industrie zulassen. Der Staat muss bewusst auf die Leitung dieser Industrie verzichten. Sie erfordert von ihm eine Zersplitterung seiner ganz gewiss nicht zu reichen organisatorischen Kräfte. Aus diesem Grunde erlaubt die Sowjetregierung die Pacht der kleinen und mittleren Unternehmungen durch Arbeiter-Genossenschaften, wie auch durch Privatleute. Damit ist die Grenze der Zugeständnisse des Rückzuges der Sowjetregierung nicht erreicht. Die Sowjetregierung braucht die technische Hilfe des Auslandes. Ihre Geldmittel reichen nicht aus, um genügend Maschinen vom Auslande zu kaufen. Um sie zu erlangen, muss die Sowjetregierung das ausländische Kapital durch andere Mittel heranzuziehen suchen. Es sind dies die Konzessionen, d. h. die Erlaubnis an das ausländische Kapital, auf Grund bestimmter Bedingungen entweder existierende oder erst zu bildende Industrien zu übernehmen. Dadurch drängt sich das ausländische Großkapital in ein Gebiet, dessen Beherrschung lebenswichtig für Sowjetrussland ist: in die Großindustrie.

Diese Politik der Sowjetregierung enthält Elemente von Zugeständnissen für eine sehr lange Zeit, für die absehbare historische Epoche, und Elemente mehr vorübergehender Art. Die Zugeständnisse an die Bauern gehören zweifelsohne zu der ersten Art. In einem Lande mit überwiegend kleinbürgerlicher Bevölkerung, in einem Lande, wo das kleinere und mittlere Bauerntum die große Mehrheit der Bevölkerung bildet, kann der Übergang zu höheren kollektiven Wirtschaftsformen im Dorfe erst dann stattfinden, wenn der proletarische Staat imstande ist, den Bauern durch große technische Überlegenheit, durch große technische Hilfe den Weg nach vorwärts zu zeigen. Solange Sowjetrussland nicht bedeckt ist mit einem Netz elektrischer Zentralen, solange nicht die modernen landwirtschaftlichen Maschinen die weiteste Verbreitung im Dorfe gefunden haben, wird der Bauer freier selbständiger Kleinwirt sein. Anders ist es mit den Konzessionen an die Handelsbourgeoisie und an die kleinen kapitalistischen industriellen Pächter bestellt. Sobald die Großindustrie wieder zu wirken beginnt, sobald sie imstande sein wird, die Bedürfnisse an Waren irgendwie zu befriedigen, wird sie auf dem Wege der Konkurrenz die kleine Industrie niederringen. Die Entwicklung der Genossenschaften wird dem Kleinhandel immer mehr den Boden abringen, desto eher, je energischer die Unterstützung der Genossenschaften durch den Staat sein wird.

Die Konzessionen an das ausländische Kapital sind verbunden mit der internationalen Lage. Sie entstammen der doppelten Notwendigkeit, Produktionsmittel von dem ausländischen Kapital zu bekommen und die Interventionstendenzen des Weltkapitals einzudämmen. Die Länge der Dauer dieser Zugeständnisse ist gebunden an die Länge der Existenz des jetzigen relativen Weltgleichgewichtes.

Welche soziale Klassengruppierung ergibt sich auf Grund der neuen Politik der Sowjetregierung? Das Bauerntum bildet eine kleinbürgerliche Klasse. Zu ihm gesellt sich die sich restaurierende kleine und mittlere Bourgeoisie in der Stadt. Das ausländische Konzessionskapital bildet die große kapitalistische Klasse. Diesen Klassen gegenüber steht das Proletariat, einerseits in der staatlichen Großindustrie, andererseits in der kleinen und mittleren in Pacht vergebenen Industrie, drittens in der großen Konzessionsindustrie. Dass dies kein günstiges Kräfteverhältnis für die Arbeiterklasse ist, braucht nicht erst unterstrichen zu werden. Die Lage enthält in sich große Gefahren. Die kleine und mittlere Städte-Bourgeoisie, konzentriert in den kulturellen Zentren des Landes, wird versuchen, auf Grund ihres wirtschaftlichen Verkehrs mit dem Bauerntum, es als Klasse gegen das Proletariat zu organisieren. Sie wird versuchen, in erster Linie sich mit den kräftigeren Elementen des Bauerntums zu verbinden. Das ausländische Kapital, gestützt auf die kapitalistischen Regierungen, wird erstens versuchen, die Bedingungen, auf Grund deren es von der Sowjetregierung zugelassen worden ist, zu seinen Gunsten zu verändern. Es wird weiter zweifelsohne das wichtigste Hindernis für seine Ausbreitung, das staatliche Monopol des Außenhandels, zu durchbrechen suchen. Die Art der Hilfe für das hungernde Russland, wie sie Lloyd George in seiner Rede vom 16. September vorschlug, weist darauf mit voller Klarheit hin. Der ganze Plan sah doch die Erteilung von Warenkrediten durch die englische Regierung an englische Firmen vor, die dann in Russland im freien Handel diese industriellen Waren gegen Getreide austauschen sollten. Auf diese Weise würde das ausländische Kapital natürlich in selbständige wirtschaftliche Beziehungen zu den russischen Bauern treten.

Die Sowjetregierung verschließt für keinen Augenblick die Augen gegenüber der hier entstehenden Gefahr, deren Gegengewicht der Besitz der staatlichen Macht in den Händen des Proletariats ist. Das Proletariat als herrschende Macht ist der Besitzer der Produktionsmittel. Wenn auch der Bauer auf dem Boden frei wirtschaften wird, so bleibt doch der Boden nationalisiert, d. h. in den Händen des Staates. Dieses juristische Recht hat eine soziale Bedeutung. Es verhindert die Bildung des Großgrundbesitzes, es dämmt die Bildung des reichen Bauerntums als einer organisierten konterrevolutionären Kraft ein. Es gibt der proletarischen Staatsgewalt eine Reihe von Machtmitteln gegenüber der russischen und ausländischen Bourgeoisie in die Hand, deren industrielle Tätigkeit mit den Grund- und Bodenfragen verknüpft ist. Indem der Staat die industriellen Unternehmungen – inwieweit er sie nicht in eigenen Händen behält – Privatpersonen nur in Pacht gibt, die Industrie also nicht denationalisiert, behält er ihre Kontrolle in den Händen. Er statuiert nicht nur das Verhältnis der Pächter zu der Arbeiterklasse, was ihm als den Vertreter der proletarischen Interessen die Verbindung mit den Arbeitermassen sichert, sie als seine soziale Basen zu behalten erlaubt, sondern er hat auch die Möglichkeit der Beeinflussung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Pächter. Er hat die Handhaben, diese Tätigkeit mit der der staatlichen Industrie, wo möglich, in Einklang zu bringen. Der Besitz der Transportmittel hat in dieser Hinsicht eine entscheidende Bedeutung für die Beeinflussung der wirtschaftlichen Tätigkeit der bürgerlichen Elemente.

Das allgemeine Bild der sozialen Lage, die das Ziel und das Resultat der neuen ökonomischen Politik bildet, ist somit: Der proletarische Staat basiert auf dem Besitz der wichtigsten Industriezweige. Genötigt, sie zum Teil in den Händen des ausländischen Kapitals zu belassen, sucht er dauernd nicht nur seine soziale Basis zu stärken, sondern sie auch auszubreiten, indem er ihr aus allen Kräften neue Produktionsmittel zuführt. Er kontrolliert die mittlere und kleine in Pacht gegebene Industrie, wie auch den Teil der Industrie, die er dem ausländischen Kapital verpachten muss. Er ist nicht nur Beschützer der proletarischen Arbeitskraft, sondern auch, gestützt auf reale Machtmittel, der Regulator des Wirtschaftslebens. Während die Zugeständnisse an das Bauerntum den Zweck verfolgen, einerseits das Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und dem Bauerntum, das den Oktobersieg herbeigeführt hat, zu erneuern und zu stärken, andererseits vom Bauerntum durch die Entwicklung seiner Wirtschaft neue Hilfsmittel für die Großindustrie zu bekommen, bilden die Zugeständnisse an das Handelskapital und industrielle Pächterkapital ein Mittel, die notwendigen Waren für die Befriedigung der Bedürfnisse der Landwirtschaft zu erlangen. Die Zugeständnisse an das ausländische Großkapital sollen ihrerseits Mittel geben zur Entwicklung der eigenen staatlichen Industrie. Der so erstrebte Zustand bildet ganz gewiss keine kommunistische Organisation der Gesellschaft, aber er enthält eine Reihe von Maßregeln, die die Entwicklung der russischen Volkswirtschaft auf einer Basis gewährleisten, auf der die Macht der Arbeiterklasse gestärkt wird, auf der die Arbeiterklasse die Aussicht hat, immer mehr das Wirtschaftsleben zu organisieren, die wirtschaftliche kleinbürgerliche Anarchie einzudämmen.

VI.

Als die russische Arbeiterklasse am 7. November 1917 die Macht in die Hand nahm, benachrichtigte das revolutionäre Kriegskomitee, das im Namen des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates die Macht ergriff, die Arbeiterklasse Russlands und der Welt von dem vollzogenen Umschwung, indem es sagte: Die Sache des Friedens ist in die starken Hände des Proletariats genommen worden. Der Bauer wird endlich den Grund und Boden erhalten, und die Arbeiterklasse wird ihre Kontrolle über die Industrie ausbreiten. Nicht die sofortige Einführung des Sozialismus, sondern die Lösung der Frage des Friedens, der Bauernfrage und eine Übergangsmaßregel, wie es die Kontrolle der Produktion ist, wurde als das nächste Ziel der Revolution angegeben. Aber Revolutionen halten sich nicht an die ihnen bei ihrem Anfang von ihren Führern vorgeschriebenen Grenzen und an die Definitionen, die ihnen ihre Führer geben. Die russische Novemberrevolution war das Präludium der proletarischen Weltrevolution. Sie war das Präludium der kommunistischen Umwälzung in der kapitalistischen Welt, und wie historisch begrenzt die Ziele sein mochten, die sich die Führer der Revolution stellten, der Atem der russischen Novemberrevolution war der Atem der proletarischen, kommunistischen Weltrevolution. Nun ist die russische Revolution angelangt an einer sozialen Grenze, die ihre Grenze sein wird für die nächste historische Zeitepoche. Keine Revolution kann den Kommunismus auf einmal durchführen. Die Revolution bricht nur die Widerstände, die der neuen siegreichen Klasse in ihrer Entwicklung seitens der politischen Macht der alten herrschenden Klasse entgegengestellt waren. Wenn die Revolution überall die Kämpfe um die wirtschaftliche Umgestaltung einleitet, so ist der Weg dieser Umgestaltung in einem Lande kürzer, in dem anderen länger, je nach dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung, die diese Umgestaltung erleichtert oder erschwert. Die proletarische Weltrevolution bildet eine lange Periode des Kampfes, der Weg zur Macht wird im Westen viel schmerzvoller sein und viel länger dauern als in Russland. Die Organisation des Sozialismus, inwieweit es sich um die industriellen Verhältnisse handelt, wird in den kapitalistischen Ländern viel leichter sein als in Russland. Das Überwiegen der konzentrierten Industrie, der hohe Stand des technischen Könnens des Proletariats wird hier von ausschlaggebender Bedeutung sein. Aber trotzdem wäre es falsch, anzunehmen, dass die westeuropäische proletarische Revolution nicht die größten wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden haben wird. Ihre größte Schwierigkeit bildet die zu schmale landwirtschaftliche Basis. Die Entwicklung Westeuropas in der Richtung des Industrialismus hat alle industriellen Länder abhängig gemacht von der fremden Zufuhr von Lebensmitteln. Die Frage der Entwicklung der proletarischen Revolution im Westen ist somit aufs Engste verbunden mit der Frage der Entwicklung der proletarischen Revolution im Osten. Dies muss in Betracht gezogen werden bei der Beurteilung der Probleme der proletarischen Revolution in Russland, ihrer Wege, ihrer Notwendigkeiten und ihres Charakters.

Die russische Revolution machte den ganzen Zyklus der Entwicklung durch von dem Kampfe um die demokratische Republik bis zum Kampf um die Sowjetrepublik. Die Sowjetrepublik schien identisch zu sein mit dem Siege des Kommunismus. Aber nicht umsonst haben ihre Führer in den Namen der Republik das Wort „Kommunismus" nicht aufgenommen, und auch dem Wort sozialistische föderative Republik haben sie mehrmals in ihrem Auftreten den Sinn gegeben: die um den Sozialismus kämpfende Republik. Nach vier Jahren Entwicklung ist die Sowjetrepublik an der Grenze angelangt, die ihren historischen Sinn bedeutet. Dieser Sinn ist: Russland ist ein Bauernland, in dem die Arbeiterklasse die Macht erobert hat, um sie zu benutzen als Mittel der Entwicklung des Landes zum Sozialismus. Sie muss in dieser Entwicklung ebenso mit dem kleinbürgerlichen Charakter des Landes wie mit dem weltpolitischen Kräfteverhältnis rechnen. Sie wird ihre Ziele realisieren oder mit ihnen untergehen, abhängig von der Entwicklung der Weltrevolution. Die Position der in Russland herrschenden Arbeiterklasse gegenüber den bürgerlichen Tendenzen und Kräften erinnert in vielem an die Lage der feudalen Elemente in Russland gegenüber den bürgerlichen Elementen. Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verstärkten sich immer mehr die kapitalistischen Notwendigkeiten und Tendenzen Russlands. Die feudale Klasse machte ihnen ein wirtschaftliches Zugeständnis nach dem andern, um sich nur politisch an der Macht zu halten. Die politischen Zugeständnisse verstand sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang aufzuschieben. Sie wurde schließlich geschlagen, indem sie, unter dem Druck der Arbeiterklasse, genötigt war, der Bourgeoisie politische Zugeständnisse zu machen. Die Lage der Arbeiterklasse der Bourgeoisie gegenüber ist natürlich nicht in allem der Lage der feudalen Elemente vergleichbar. Sie unterscheidet sich von ihr in dem ausschlaggebenden Moment, in der Frage der Richtung der Entwicklung, in der sich die ganze Welt jetzt befindet. Der Zarismus musste kapitulieren, da die Entwicklung der ganzen Welt in der Richtung des Kapitalismus, d. h. des Sieges der Bourgeoisie ging. Die kapitalistische Welt befindet sich jetzt in steigender Auflösung. Die russische Bourgeoisie bildet keine neue, starke, lebensfähige und lebenslustige Klasse, sondern sie bildet eine atomisierte, zerschlagene Klasse, die sich von neuem erhebt auf den Krücken einer vorübergehenden Stärkung der Weltbourgeoisie nach der Überwindung der Demobilisationskrise des Jahres 1918/19. Die neuen bürgerlichen Elemente in Russland, das vom feudalen Joch befreite Bauerntum, würden im Falle des internationalen Sieges des Kapitals natürlich den Boden für die Bildung einer neuen kräftigen Bourgeoisie bilden. Beim Sieg des europäischen Proletariats wird das russische Bauerntum zu schwach sein, um im Gegensatz zur Tendenz der Weltentwicklung eine konterrevolutionäre Kraft zu bilden. Dieser grundsätzliche Unterschied ist ausschlaggebend für die Beurteilung der Stellungnahme jener angeblich marxistischen Elemente, die wie Paul Levi behaupten: Da nach der Theorie des Marxismus die ökonomischen Beziehungen die entscheidenden sind, so wird Sowjetrussland, nachdem es der Bourgeoisie wirtschaftliche Zugeständnisse gemacht hat, genötigt sein, den Weg der Entwicklung zur bürgerlichen Demokratie zu machen. Diese Auffassung zeigt nur eins, dass der Verfasser zwar das Studium des Abc des Sozialismus betreibt, aber dass er die gelernten Buchstaben noch nicht zusammenzusetzen versteht. Kein Marxismus besagt, in welchem Tempo sich die ökonomischen Bedingungen in politische umsetzen. Sollte in absehbarer Zeit der Zerfall des Kapitalismus Platz machen entschiedenen Tendenzen der Wiederaufrichtung der kapitalistischen Herrschaft, so würde zweifelsohne der bürgerliche Druck auf die proletarische Macht in Russland sich mit jedem Tag stärken, und die Sowjetregierung hätte die Wahl, entweder im Kampfe unterzugehen oder sich in das Instrument der bürgerlichen Entwicklung zu verwandeln. Wer aus den Geschehnissen der letzten drei Jahre nicht den Schluss zieht, dass es der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gelingen wird, der zersetzenden Kräfte Herr zu werden, der braucht keineswegs der Meinung unseres Abc-Schützen zu sein, dass auf die gemachten wirtschaftlichen Zugeständnisse politische folgen müssen.

Die Geschichte aller Revolutionen des Zeitalters des Kapitalismus weist den Kampf sozialistischer und kapitalistischer Tendenzen auf. Die sozialistischen proletarischen Tendenzen der Leveller, der Digger, der Millenier in der englischen, der Enragés in der französischen Revolution wurden von den bürgerlichen besiegt, weil sich der Kapitalismus in einer aufsteigenden Linie der Entwicklung befand. Die russische Revolution bildet einen Teil der sich allmählich entwickelnden proletarischen Weltrevolution. Politisch siegreich, kann sie am wenigsten die Aufgaben der Weltrevolution, die Umgestaltung des Kapitalismus in den Sozialismus durchführen, weil dafür die Vorbedingungen in Russland am ungünstigsten sind. Gemessen an dem Programm der ganzen historischen Epoche, in die wir mit dem Umsturz am 7. November 1917 eingetreten sind, können die bisherigen Ergebnisse der russischen Revolution nur als sehr begrenzt gelten. Gründlich hat sie nur mit den feudalen Klassen und mit den feudalen Überresten aufgeräumt. Das Bürgertum, die bürgerlichen Tendenzen konnte sie nicht ausrotten, denn solange der Kapitalismus in Europa noch herrscht, werden sich diese Tendenzen immer wieder aus der bäuerlichen Wirtschaft heraus restaurieren und sie werden durch die kapitalistische Einkreisung Sowjetrusslands gestärkt. Die Macht in der Hand der Arbeiterklasse Russlands bildet ein Mittel der methodischen Überwindung des Kapitalismus. Isoliert kann Russland ihn nicht überwinden. Erst der Sieg der Weltrevolution in den industriellen Ländern wird die Möglichkeit einer schnelleren Entwicklung auf diesem Gebiete schaffen. Einer Überwindung nicht so sehr mit den Mitteln des roten Terrors wie durch wirtschaftliche Mittel.

Bis zu diesem Sieg der proletarischen Revolution in den Industrieländern hat die russische Sowjetrepublik die Aufgabe, die Macht der Arbeiterklasse über das ungeheure Land zu erhalten, damit dieses Land nicht zum Reservoir der menschlichen und materiellen Kräfte der Konterrevolution wird. Würde die Sowjetrepublik nur diese negative Aufgabe erfüllen, sie würde einen unermesslichen Dienst der Weltrevolution leisten. Sie würde nicht erlauben, dem Weltkapital die wachsende revolutionäre Bewegung des europäischen Proletariats mit den Bajonetten des russischen Bauern zu erdrücken. Gelingt es der Sowjetregierung, durch ihre realistische Politik der Anerkennung der Tatsachen, wie sie sind, und ihre Berücksichtigung, Sowjetrussland soweit zu stärken, dass es in den Kämpfen der nächsten Jahre eine aktive Rolle spielen kann, sei es militärisch, sei es durch Ausfuhr von Brot für die industriellen Länder, in denen die proletarische Revolution siegen wird, so wird damit die Frage nach dem Charakter der russischen Revolution endgültig beantwortet sein. Bisher war die russische Revolution das erste und darum das schwächste Glied der beginnenden sozialistischen Weltumwälzung. Die Vereinigung mit dem starken Strom der proletarischen Revolution in der Welt wird die weitere Entwicklung Sowjetrusslands – als der am meisten gesicherten militärischen Macht der Revolution, als der Macht mit der breitesten landwirtschaftlichen Grundlage in der Richtung des Sozialismus – zu einer strategischen Hauptaufgabe des internationalen Proletariats machen.

Die Gegner der proletarischen russischen Revolution, die sich mit den Federn des Marxismus schmücken, nützen den Stillstand der Entwicklung der Weltrevolution und die neue ökonomische Politik der Sowjetregierung, die zu einem Teile das Resultat der langsamen Entwicklung der Weltrevolution ist, um im Weltproletariat wie im russischen Proletariat selbst die Zuversicht in die eigenen Kräfte zu untergraben, indem sie der russischen Revolution den proletarischen Charakter absprechen, weil sie nicht imstande war, mit einem Schlage den Sieg über den Kapitalismus davonzutragen. Sie berufen sich darauf, dass sie es waren, die es schon früher vorausgesagt haben, dass die russische Revolution nur das Bürgertum zur Herrschaft bringen kann, dass sie nur den Feudalismus zu stürzen imstande ist. Nun, sie, die Vertreter des Bürgertums in der Revolution, überließen diese den Kräften, die den Feudalismus nicht liquidieren wollten. Die Menschewiki, die die Regierung des Fürsten Lwow unterstützten und die Bauern daran hinderten, den feudalen Großgrundbesitz zu liquidieren, sie haben am wenigsten Ursache, damit zu prahlen, dass sie die bürgerlichen Grenzen der Revolution sofort erkannt hätten. Sie wagten die russische Revolution nicht einmal zu diesen Grenzen zu führen. Unter der Führung der Bolschewiki hat die Revolution diese Grenzen durchbrochen, überschritten. Sie hat der Bourgeoisie die Gewalt aus den Händen gerissen und versucht, die sozialen Verhältnisse mit dieser Gewalt in Russland zu ändern. Jeder Schritt, den sie vorwärts macht, ist den Gegnern der proletarischen Revolution ein Gräuel. Jeden Aufenthalt auf dem Marsch nach vorwärts begrüßen sie als Zusammenbruch und Bankrott. Das darf die Kämpfer der Revolution nicht stören. Sie wissen aus der Erfahrung ihrer militärischen Kämpfe, dass ein Haltmachen auf dem Vormarsch, ja sogar ein Rückzug, oft die Vorbedingung neuer siegreicher Angriffe bildet.

1 In der Vorlage geschrieben „Prseglond socialdemokratyczoy“

2 Nach dem bis 1971 gültigen britischen Währungssystem entsprach ein Pfund 20 Shilling und ein Shilling 12 Pence. Wahrscheinlich schreibt hier Radek von Shilling, weil der Shilling nach seinem Wertbetrag eher den anderen Währungen entsprach. Nach dem vor dem Ersten Weltkrieg gültigen Goldstandard war 1 Shilling = 1 Mark = 1,25 Francs = 0.227 Dollar etc.

3 In der Vorlage: „nicht verkaufte

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