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Leo Trotzki 19010227 Über ein alte Frage

Leo Trotzki: Über ein alte Frage

[Östliche Rundschau, Nr. 33-34, 14./27. und 15./28. Februar 1921. Eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Сочинения. Том 4. Перед историческим рубежом. Политическая хроника. Москва-Ленинград, 1926 {Werke, Band 4. Vor der historischen Grenze. Politische Chronik, Moskau-Leningrad 1926}, S. 12-16]

Aus dem Gebiet der Frauenbewegung“. Unter dieser Rubrik bringt die „Mir Boschij“ alles, was die Emanzipationsbewegung der Frauen betrifft. Hier bemühen sie sich, nach Möglichkeit, jedes Frauendiplom, jeden von einer Frau besetzten Katheder zu registrieren und, natürlich, wirklich sorgfältig nachzuverfolgen, dass ihnen nicht irgendein Frauenverband entgeht. aber solche Verbände gibt es in der gegenwärtigen Zeit nicht wenige. In Deutschland beteiligten sich nach den Worten der genannten Zeitschrift (1900, XI) an einer vor kurzem stattgefundenen gemeinsamen Versammlung 132 Frauenassoziationen, die etwa 70.000 Mitglieder zählten.

Im Prinzip kann man selbstverständlich nichts gegen die Begierde der Zeitschrift haben, die Leser mit allen jähen Wendungen der feministischen Bewegung bekannt zu machen – aber das sichtbare Fehlen eines bestimmten sozialen Blickwinkels auf den Gegenstand beim Autor der genannten Chronik und die hypertrophe Sorgfalt, mit welcher er in seine Chronik alle Splitter der Bewegung einträgt – bis einschließlich einem „sehr prunkvoll ausgestatteten“ Frauenklub in Wien, dessen Tätigkeit, das ist wahr, noch „nicht geklärt ist“, aber in dem man „zu sehr mäßigen Preisen“ kalte Imbisse bekommt (1900, XII) – nötigt einen, sich gezwungenermaßen an die geistreiche Bemerkung N. K. Michailowskis zu erinnern: „Nehmen wir an, dass Sie … zu der Zahl der Leute gehören, die schief auf den Beruf eines Konservators der öffentlichen Ruhe blicken, und dass es zwei Ihnen nahestehende Personen gibt, eine männlichen, aber die andere weiblichen Geschlechts, welche gleichzeitig ähnliche Plätze einnähmen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Sie aus diesem Anlass zwei vollkommen unterschiedlichе Ausrufe ausstoßen würden: Oh Grauen! Er gelangte in ein Stadtviertel! – Oh Begeisterung! Sie gelangte in ein Stadtviertel!“ (Band II, S. 654). Worüber wird man sich hier in der Tat besonders erfreuen: na, „prunkvoll ausgestattete“ Frauenklubs, na, eine Advokatin, na, kalte Frauenimbisse „zu sehr mäßigen Preisen“ – aber was weiter?

Man bringe uns nicht in Verdacht einer negativen Beziehung zur „Frauenemanzipation“. Solche Fehler lasten nicht auf unserem Gewissen. Aber unser – selbstverständlich nicht nur „unser“ – Unterschied zum vulgären Feminismus besteht darin, dass wir auf die Frauenfrage – man erlaube mir zu sagen – unvergleichlich tiefer sehen als sehr viele Verfechter der Gleichberechtigung der Frau.

Es ist selbstverständlich gut, dass schließlich die Mauer durchschlagen wurde, die die Frau von der Welt der männlichen Interessen abtrennt, eine Mauer, die eine Art Anachronismus in der Umgebung der bürgerlichen Gesellschaft war. Aber sobald die Mauer durchschlagen war, kann man sagen, dass die Frauenbewegung bereits einen Weg betrat, welchen sie nicht verlassen kann – und es gibt keine Möglichkeit, jeden ihrer Erfolge in dieser Richtung zu verfolgen. Die Frauenbewegung wird ihre Bahn verfolgen, ungeachtet der Rage offener Feinde und der Vernichtungen falscher Freunde … Die Gruppe der letzteren ist beträchtlich. Wirklich aus Freundschaft zu den Frauen, natürlich, trat der französische Senator Gurjus [??] im Senat der Zulassung von Frauen zur Beschäftigung in der Advokatur entgegen. Seien sie barmherzig, gnädige Herren! Er, Senator Gurjus, sah mit eigenen Augen Advokaten, die nach „langen Verteidigungsreden“ „bei der vollen Erschöpfung der Kräfte“ anlangten, Advokaten, welche spezielle Maßnahmen ergreifen mussten, um einer ihnen drohenden Lungenentzündung vorzubeugen“. Ach! Über die Kräfte von schwachen Frauen geht das, deren wahrhafte Berufung ist, „über die Welt durch ihre Schönheit, Herzensgüte und alle ihre seelischen Eigenschaften und Tugenden zu herrschen“. Mit einem Wort, mesdames, seien Sie willkommen in den Schlafzimmern und Küchen!

Aber Sarah Bernhardt“ – antwortet dem Senator Marguerite Durand in einem feministischen Organ – befindet sich nach einer Aufführung von „Phaedra“, „Hamlet“ oder „L’Aiglon“ genau in demselben Zustand und setzt sich ebensolchen Gefahren aus, an Lungenentzündung zu erkranken, jedoch findet es der Senat nicht notwendig, sich über ihr Schicksal zu betrüben“. Mit Erlaubnis von Frau Durand würden wir für den achtbaren Senatsschwätzer schroffere Beispiele als Sarah Bernhardt finden. – Ist jene Wäscherin, Herr Senator, welche „zu sehr mäßigen Preisen“ Ihre Wäsche reinigt, natürlich durch Ihre Fürsorge bereits vor der Gefahr geschützt, sich infolge übermäßiger Anspannung eine Lungenentzündung zu holen? Und die Arbeiterinnen der Zigaretten- und Zigarrenfabriken sind von Ihnen, selbstverständlich, bereits vor Schwindsucht geschützt? Und so weiter, und so weiter, und so weiter …

Für diese Art Herren können manche Bemerkungen eines sehr geistreichen deutschen Artikels von Frau Oda Olberg völlig angebracht sein sein, einer Schriftstellerin, welche um ein ganzes Haupt über durchschnittlichen Feministinnen steht. Wenn manche Leute über Forderungen der Frauen sprechen – schreibt genannte Schriftstellerin, – dann nimmt es bei ihnen ein solches Aussehen an, „als ob Frauen den eigenen Tod und den Tod der Gesellschaft wollen – und bloß aus reiner „Leidenschaft“ für „Gleichberechtigung“; indessen bestehen „Rechtsforderungen von Frauen, die außer ihrer Natur schweben und im Widerspruch zu ihren Geschlechtsbesonderheiten stehen, bloß im Kopf unserer Gegner … hat aber wirklich in der Tat eine so große Zahl von Frauen den Selbsterhaltungsinstinkt eingebüßt?“

Aber lohnt es sich, solchen Herren zu antworten, welche unter dem breiten Banner von Frauen- „Gönnern“ stehen, die sich im Wesen bloß darüber betrüben, dass es immer schwieriger wird, eine Frau zu finden, welche „geeignet wäre einen pikanten Kuss zu geben“, und dass, falls uns unter den Kokotten höchsten Stil nicht hier und da eine geniale Schöpfung begegnete, die sich auf Grund der eigenen Intuition zu ästhetischen Gesten der Liebe, zu verwickelter feinsinniger Wollust erheben würde, dann ein rechtschaffener Mensch nicht wert wäre, auf der Erde zu leben. (Morasso „Contro quelli che non hanno e che non sanno“ [Gegen die, die nicht haben und nicht wissen]. Jedoch, wir schweiften etwas zur Seite ab …

Also, wiederholen wir, der Kampf für Frauengleichberechtigung hat es bereits geschafft, die Eiskruste der dumpfen Abgeschlossenheit der Frauen der Mittelschicht und das ängstliche Misstrauen sogar der „freisinnigsten“ Männer zu durchschlagen, – aber von diesem Moment an hört die Frauenfrage für sich allein, an sich und für sich1, auf, zu bestehen: Der grandiose gesellschaftliche Strom unserer Zeiten greift sie auf und trägt sie mit seiner Strömung davon. Das Schicksal der Frauen-, wie auch vieler anderer Teilfragen, ist unauflöslich verbunden mit der Geschick des großen Weltproblems, das den so abgedroschenen Namen soziale Frage trägt …

Genau diese Verbindung und Abhängigkeit gerät bei der Erörterung der Befreiungsbewegung der Frau meist aus dem Blick. Indessen stellt die Frauenfrage nicht nur nichts Eigenständiges Einheitliches dar – sie ist nicht einmal ein Ganzes –, so dass es, genau gesagt, nicht eine Frauenfrage, sondern Frauenfragen gibt. Diese Fragen sind so viele, wie die gegebene gesellschaftliche Differenzierung gesellschaftliche Gruppen hervorbrachte. Und deshalb müssen wir uns ganz und gar nicht über die ganzen widersprüchlichen Stimmen erstaunen, welche man bei der Erörterung der Frauenfrage hören muss. Die Meinung eines Mitglieds der befehlenden Klasse – sei es Mann oder Frau – wird sich derart von der Meinung eines Proletariers unterscheiden, wie allgemein ihre Lage auf Stufen der gesellschaftlichen Treppe verschiedenartig ist. Und das hängt nicht so sehr von einem ungleichen Grad ihrer moralischen und intellektuellen Entwicklung ab als von der Lage, die in jeder gegeben gesellschaftlichen Gruppe die Frau einnimmt.

Was die Frau einer Klasse im Übermaß verwendet, ist für die Frau einer anderen Klasse bloß ein Ideal. Eine am Nichtstun leidende Frau der privilegierten Klasse träumt davon, mit dem Mann auch nur einen Teil der gesellschaftlichen Arbeit zu teilen; indessen „legt sich auf die Arbeiterin das (mit einer schlechten Organisation der Arbeit verbundene) Unheil als eine schwerere Last als auf den Arbeiter“ (Hobson, „Probleme der Armut und Arbeitslosigkeit“). „In den höchsten Schichten der Gesellschaft“ – sagt Ziegler – „ berührt die Frauenfrage hauptsächlich Familie und Bildung, hier aber (in der Sphäre der Fabrikarbeit) ist sie zuallererst eine Frage der materiellen Lage der Fabrikarbeiterin“ („Geistige und gesellschaftliche Strömungen des XIX Jhdt.“). Hier, können wir sagen, sind die Forderungen der Frau im Allgemeinen derart solidarisch mit den Forderungen des Mannes, dass eine Arbeiterinnenfrage, kann man sagen, beinahe nicht vorhanden ist. Wenn Arbeiterinnen auch noch einige von den männlichen Arbeitern getrennte Forderungen aufstellen, die sich in Abhängigkeit von der Besonderheit der physischen Organisation der Frau befinden, dann versinken diese Detailunterschiede in der Masse der gemeinsamen Interessen beider Geschlechter.

Als boshafte Ironie wird für die Arbeiterin die Forderung nach gleichen Rechten mit den Männern auf höhere Bildung klingen. Wozu sollen sie „Rechte“ erreichen, welche ihr Vater, Ehemann, Bruder besitzen, aber welche sie nicht nutzen können? Sollen sie wirklich ihre Kräfte dafür aufwenden, den Plewakos des weiblichen Geschlechts die Möglichkeit zu geben, die Mamontows zur Perle der Schöpfung zu erheben? Einer ganzen Masse bürgerlicher Frauen die Möglichkeit zu liefern, Arbeit aufzunehmen, die ihnen bisher unzugänglich war, bedeutet wirklich – Waffen des Feindes zu schärfen. Wirklich wird eine solche Flut neuer Kräfte wahrscheinlich für eine gewisse Zeit die bürgerliche Gesellschaft auffrischen. Unser genialer Satiriker schätzte diese Seiten der Frage durchaus ein. „Ich bin sicher“ – sagt er – „dass ich gerade da, im Kreis von Frauen, welche zugelassen werden, für mich regelrechten Rückhalt, regelrechte Säulen finden würde. Ich bestreite nicht, dass es viele Säulen auch unter Männern gibt, aber, bei Gott, kann etwa ein Mann eine echte, das heißt brennende, mit Enthusiasmus erfüllte Säule sein? Nein, er sieht auch auf die Beschäftigungen gleichgültig, weil weiß, dass sie ihm seit Menschengedenken zugestanden sind, und dass niemand sein Recht bestreitet, Säule zu sein. Etwas anderes wäre eine Säule, welche noch selbst nicht richtig weiß, ob sie eine Säule ist oder nicht, und deshalb lodert, lobpreist und die Begierde verkündet, das Leben hinzugeben“! („Wohlmeinende Rede“).

Was anderes kann eine emanzipierte Frau der herrschenden Klassen sein? Nicht umsonst bemühen sich auch alle Verteidiger der „Emanzipation“ zu beweisen, dass sie keine „Pfeiler“ bedroht. Und mit Recht!

Es stimmt, manche Träumer, wie sich z.B. auf dem Ausstellungskongress in Paris zeigte, bürden der Frau auch weitere Hoffnungen auf. Sie erträumen sich in Gestalt der emanzipierten Frau eine künftige Schlichterin des großen gesellschaftlichen Gegensatzes. Sie erhoffen, dass dank ihrer spezifischen Eigenschaften die Frau in der Lage sein werde, eine besänftigende Vermittlerin zwischen Arbeit und Kapital zu werden. Aber die Hoffnung auf eine Lösung der großen gesellschaftlichen Frage mit Hilfe besonderer Eigenschaften des Frauenverstandes und Frauenherzens ist ebenso vernünftig, wie auch Bedenken, die „Grundlage“ durch das Geben von „Rechten“ an Frauen zu erschüttern.

Neben solchen utopischen Träumern stehen „liberale“ und sehr wenig zu Platonismus geneigte Fabrikanten. „Die industrielle Emanzipation der Frauen“ – sagt Hobson – „die von liberalen Sichtweisen auf unser Jahrhundert unterstützt wurde, wurde von Unternehmern kräftig verwertet, die billige Arbeit suchten“, das bedeutet, genau von jenen Leuten, welche oftmals verschiedene Hindernisse für die Emanzipation der Frauen der eigenen Klasse aufstellen. Es ist auch verständlich: sie brauchen billige Arbeit, und brauchen ganz und gar nicht Konkurrenten.

Lassen Sie mich eine Schlussfolgerung anbieten.

Wir werden natürlich keinen Stock in die Speichen des Rades des bunt gemischten Wagens der Emanzipationsbewegung der Frauen der herrschenden Klassen stecken – Ja uns, als Außenstehenden, ist solche Macht auch nicht gegeben; wir werden sogar wohl den fortschreitenden Lauf dieses Wagens als Muster des Wachstums des Frauenselbstbewusstseins begrüßen – aber in dieser Bewegung und ihren Erfolgen eine Lösung „jener althergebrachten Frage gesamtmenschlicher Ideale, welcher die Menschheit in Beunruhigung hält“ sehen, aber aus Anlass ihrer Erfolge „lodern und lobpreisen“, aber „die Begierde verkünden, für diese Erfolge das Leben hinzugeben“ – nein, vergessen Sie es!

1 „an sich und für sich“ im Original auf Deutsch

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