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Leo Trotzki 19090211 Das weiße Stierlein und die Kultur

Leo Trotzki: Das weiße Stierlein und die Kultur

[Kiewskaja Mysl, Nr. 29, 29. Januar/11. Februar 1909, Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 268-271, s. auch den russischen Text]

Lasst uns, Herrschaften, eine Kultur aufbauen! … Wie macht man das? Das wissen sie nicht? Ich weiß es eigentlich auch nicht … Aber es ist doch „an der Zeit, endlich an der Zeit, dieses Skythentum von uns abzuwerfen!“ – wie der stschedrinsche General Subatow vor etwa sechzig Jahren gesagt hat – „irgendwann müssen doch auch wir uns auf das Niveau Europas erheben …“

Unvergleichlicher General! – Man verstand ihn nicht – er war seinem Jahrhundert zu weit voraus … Dafür könnte er, wenn er noch am leben wäre, heute sehen, dass seine von ihm gesäten Ideen hundertfach aufgegangen sind. Man kann sagen, dass die neueste russische Publizistik einen mächtigen Nachhall der Sehnsucht des Generals nach „Kultur“ darstellt. Nun ist es schon ein Jahr, wenn nicht länger, dass dieses Wort uns aus jeder Zeitungsspalte entgegen schreit.

Die Kultur hat große Bedeutung!“

Die Kultur hat absolute Bedeutung!“

Die Kultur hat religiöse Bedeutung!“

Im Namen der Kultur schlägt Herr Struve vor, auf oppositionelle Tändeleien zu verzichten und sich für einen Kreuzzug gegen die Linken zusammenzuschließen. Prof. Kotljarewski, der offensichtlich in der dunstigen Atmosphäre der Binsenweisheiten nicht das geringste Unbehagen empfindet, verbürgt sich mit der ganzen Autorität eines Historikers für den hohen Wert der Kultur. Die Herren Isgojew und Galitsch ergänzen einander glücklich im Kampf um das Recht auf Kultur. Wenn der schmutzige Neid einiger Intelligenzler nicht wäre, erklärt Isgojew, würden bei uns schon längst in der Tundra römische Gurken wachsen … Fjodor Sologub aber hat sogar, wie es heißt, eine „Vorstellung“ geschrieben, die zwar außerordentlich schlecht ist, dafür aber sehr anschaulich zeigt, wie abstoßend Kulturlosigkeit ist, die das Wechseln von Wäsche nicht kennt, sich mit den fünf Fingern kämmt und das Maul Schnauze nennt – und wie anziehend der Page Jean ist, der seine Jeanne nicht einfach so in die Arme schließt, sondern unter Beachtung aller Formen und Gebrauche der Kultur

Hélas!“ – wie die Generalin Subatowa sagt – „nous sommes encore si peu habitués de jouir des bienfaits de la civilisation!(O weh, wir haben es noch immer nicht gelernt, uns der Segnungen der Zivilisation zu erfreuen! …)

Da hat doch bei uns der Advokat bei der Namenstagsfeier den Stadthauptmann in den Bauch gebissen. Nun – was ist denn schon Gutes an solcher Urtümlichkeit? Bei uns hat Musjö Schompolow sich mit Wodka volllaufen lassen und während der Probe mit Madame Simias sich Dinge erlaubt … Bei uns in der Tundra, in der römische Gurken gedeihen könnten, machen die Verbannten vor Hunger Jagd auf die Polizeiaufseher. Wie soll man da nicht mit seiner Exzellenz ausrufen: „Es wird Zeit, Zeit wird es, endlich das Skythentum von uns zu werfen!“

Die edle, aber etwas gegenstandslose Sehnsucht nach Kultur hat einst das Herz des Foma Fomitsch Opiskin beherrscht, desselben, der im Dorf Stepantschikowo Diktator war. Wenn sie sich daran erinnern, befand sich im herrschaftlichen Haus der Bursche Falalej, ein Vetter von Sologubs Wanka-Kljutschnik. Dieser wilde Falalej aus dem Schwarzerdegebiet übertrug seine Barbarei sogar in seine Träume und sah jede Nacht im Traum … das weiße Stierlein. Foma Fomitsch geriet außer sich. „Kannst du ungehobelter Klotz, du ungewaschenes Maul“ – mit annähernd solchen Worten wandte er sich an Falalej – „nichts Feineres im Traume sehen: einen Garten zum Beispiel, in dem Damen und Kavaliere Tee mit Konfitüre trinken und Karten spielen?“ Aber Falalej verharrte in seiner unausrottbaren Verstocktheit. Auch nach allen vor ihm ausgebreiteten Kulturperspektiven legte er sie eigensinnig auf seinen verlausten Pelz und sah im Traum … das weiße Stierlein.

Die Jahre vergingen. Falalej wuchs heran und mit ihm wuchs das weiße Stierlein seiner Träume und wandelte sich, den Naturgesetzen folgend, zu einem Stier. Und es kam der Augenblick, in dem es schien, dass Falalej, der sich nie anders als mit dem Strick in der Hand schlafen legte, jeden Augenblick den Stier mit der Schlinge einfangen und dann ein so glanzvolles Leben führen werde, dass selbst der Page Jean vor giftigem Neid platzen müsste. Damals dachten eben alle, die Hauptaufgabe der Kultur bestände darin, den Stier bei den Hörnern zu packen (1905!). Aber der Stier schüttelte den Kopf und entkam. Falalej schnaufte trübsinnig durch die Nase, doch seine Träume änderte er nicht. Die gebildeten Damen und Kavaliere jedoch, die eben erst ihren Tee mit Konfitüre im Garten zu sich genommen hatten, überfiel ein großer Zweifel, und sie begannen, einander zu fragen: liegt denn alles nur am Stierlein? Und ist das weiße Stierlein nicht etwa ein gewisses Zeichen? Vielleicht ist das ein transzendentes Stierlein, und wenn es mit dem Schwanze schlägt, dann in einem höheren mystischen Sinn, um uns von hier in andere Welten zu locken?

Sag doch, Falalejchen, was siehst du im Traum?“ – fragte Herr Mereschkowski eindringlich.

Aber Falalej, dem es damals gerade zustand, im Traum die segensreichen Folgen des Gesetzes vom 9. November zu sehen, erwies sich wegen seiner Kulturlosigkeit sogar unfähig, sich etwas Angenehmes auszudenken, und schnaufte rätselhaft durch die Nase.

Ein Einfaltspinsel ist er, euer Falalej!“ – rief M. Engelhardt aus, wie ein Geck unter dem neuen Torbogen hervortretend.

Ein für allemal muss der politische Unsinn liquidiert werden“ – erklärte Herr Isgojew, „nur die Kultur kann Falalej retten!“

Das allerschlimmste an der reaktionären Epoche ist vielleicht, dass sie im gesellschaftlichen Bewusstsein die Herrschaft der Dummheit fördert. Wenn die Kurve der historischen Entwicklung ansteigt, wird der gesellschaftliche Gedanke klarsichtiger, kühner und klüger. Er lernt sofort Wichtiges von Unbedeutendem zu unterscheiden und die Proportionen der Wirklichkeit nach Augenmaß abzuschätzen. Er fängt die Tatsachen im Fluge und verknüpft sie ebenfalls im Fluge mit dem Faden der Verallgemeinerung. Er verfällt hierbei zwar gelegentlich in sogenannte „Extreme“; er sagt zum Beispiel ohne Parlamentsgarantien gibt es bei Geburten einen hohen Prozentsatz an Fehlgeburten; oder: ohne zwangsweise Enteignung verliert Chinin seine Wirksamkeit. Aber in Wirklichkeit hat er sogar in seinen extremen Äußerungen Recht.

Wenn aber die politische Kurve sinkt, dann wird das gesellschaftliche Denken von der Dummheit beherrscht. Gewiss – einige Bruchstücke verallgemeinernder Phrasen bleiben, gleichsam als Nachhall der vorüber gerauschten Ereignisse, noch im Gebrauch: „ohne wirksame Garantien“ – „Zustände, die zu Tsuschima geführt haben".

Doch der innere Gehalt dieser Phrasen hat sich verflüchtigt, das wertvolle Talent der politischen Verallgemeinerung ist spurlos verschwunden. Jede Frage ragt für sich allein empor wie ein Baumstumpf im gerodeten Wald. Die Dummheit wird unverschämt und verhöhnt, die verfaulten Zähne fletschend, jeden Versuch einer ernsthaften Verallgemeinerung. In dem Gefühl, dass sie das Feld beherrscht, beginnt sie mit ihren Mitteln herum zu fuhrwerken. Erst rückt sie dem „Sexualproblem“ auf den Leib. Sie steckt ihre Pfoten in die Physiologie, Ästhetik und Psychopathologie, kehrt das Unterste zu oberst und geht unter Hinterlassung von Gestank zur Seite ab.

Sie wirft sich auf die Außenpolitik und erteilt Stachowitsch und Maklakow das Mandat, Serbien zu retten. Sie wendet sich der Frauenfrage zu und beschließt, das Tier im Manne zu zügeln. Alles fällt ihr aus den Händen. Nur den Glauben an sich selbst verliert sie offensichtlich nicht und führt sogar der Welt ihr abgeschlossenes Programm vor: Russland braucht Kultur Eine Gesinnungsgleichheit ohne Gesinnung macht sich breit: die „Torgowo-Promyschlennaja Gaseta“ (Zeitung für Handel und Industrie“) beruft sich auf Struwe, Galitsch und auf den „wahren Marxismus“, Isgojew auf „Russkaja Starina“ („Russische alte Zeiten“), Mereschkowski auf den Teufel, „Rossija“ – auf ihr Gewissen. Und alle fordern sie Kultur.

Man könnte auf den ersten Blick denken, dass das gesellschaftliche Denken, der eigenen Zersplitterung müde, jetzt endlich seine eigene rettende Verallgemeinerung, eine eigene Aktionsformel gefunden hätte. Aber das ist eine Täuschung „Die Kultur“ als Parole – was ist das, wenn nicht ein feierlicher öder Platz, auf dem man alles abladen kann, auf dem aber nichts zu holen ist? Und doch: ist diese leere Formel nicht ein Symptom? Wenn Heuchelei der Tribut ist, den das Laster der Tugend zahlt, ist dann der Aufruf zur „Kultur“ nicht der Tribut, den die Dummheit dem wiedererstehenden Bedürfnis nach Verallgemeinerung zahlt? Eine Frage, auf die wir vorerst noch nicht positiv zu antworten wagen.

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