Die Zarenmeute am Werke

Die Zarenmeute am Werke

Die Liquidierung des Oktoberstreiks durch den Arbeiterdeputiertenrat fällt in die Periode jener finsteren Schreckenstage, da das Wimmern der gemarterten Säuglinge, die rufenden Flüche der Mütter, das Todesröcheln der Greise und wilde Schreie wahnsinniger Verzweiflung an allen Enden des Landes zum Himmel emporstiegen. Hundert Städte und Flecken Russlands hatten sich zu Höllenstätten umgewandelt. Der Rauch der Feuersbrünste verdüsterte das Sonnenlicht, ein Flammenmeer verzehrte ganze Straßenzuge samt den Häusern und den Menschen. Das alte Regime war am Werke, für die ihm bereitete Demütigung Rache zu nehmen.

Die Regierung hatte die Streittruppen zu diesem Kreuzzuge überall angeworben, in allen Winkeln, Spelunken und Lasterhöhlen. Hier sieht man den Kleinkrämer und den Landstreicher, den Schenkwirt und seinen Stammgast, den dwornik (Hausbesorger) und den Polizeispitzel, den Berufsdieb und den Gelegenheitsräuber, den kleinen Handwerker und den Bordellportier, den hungrigen, in geistiger Finsternis dahinvegetierenden Muschik, der vielleicht gestern erst sein Heimatdorf verlassen und dessen Kopf der Lärm der Maschinen ganz wirr gemacht hatte. Die erbitterte Armut, das lichtlose Dunkel, die schamloseste Korruption hatten sich unter das Banner des privilegierten Eigennutzes und der rang- und ordengeschmückten Anarchie gestellt.

Bei den patriotischen Manifestationen zu Beginn des russisch-japanischen Krieges wurde den Pogromhelden zum ersten Male Gelegenheit gegeben, sich die zur Veranstaltung von Straßenaktionen en masse nötige Routine anzueignen. Schon damals traten die drei Hauptrequisiten in Erscheinung, das Kaiserbild, die Schnapsflasche und die dreifarbige Nationalfahne. Von dieser Zeit an hatte die planmäßige Organisierung des Abschaums der Gesellschaft eine ungeheure Entwicklung erfahren: und wenn auch die Masse der Pogromteilnehmer – sofern hier von „Masse" die Rede sein kann –, eine mehr oder minder zufällige bleibt, so ist der Kern dieser Truppe dennoch stets nach militärischem Muster diszipliniert und organisiert. Dieser Kern empfängt von oben Losung und Parole und gibt sie nach unten weiter; er ist es auch, der den Zeitpunkt und die Dimension der zu veranstaltenden blutigen Aktion bestimmt. „Pogrome lassen sich in jedem beliebigen Maßstabe arrangieren", äußerte der Beamte des Polizeidepartements Kommissarow. „Wenn Sie wünschen, auf 10 Personen, und wenn Sie wünschen – auf 10000." (Eine von dem Ex-Ministergehilfen des Innern Fürst Urussow in der ersten Duma als authentisch mitgeteilte Tatsache.)

Von dem bevorstehenden Pogrom sind alle bereits lange vorher unterrichtet, Pogromaufrufe werden verbreitet, in dem offiziellen „Gouvernements-Anzeiger" erscheinen blutrünstige Artikel, manchmal wird auch ein speziell der Pogromagitation dienendes Blatt ins Leben gerufen. Ist der Boden genügend vorbereitet, erscheinen auf der Bildfläche aus fremden Städten zugereiste Fachleute sozusagen Spielgäste. Mit ihnen zugleich tauchen in der finsteren Masse allerlei unheilverkündende Gerüchte aus: Die Juden führen einen Überfall auf die rechtgläubigen Christen im Schilde – Sozialisten haben ein Heiligenbild entweiht – Studenten haben ein Kaiserbild in Fetzen gerissen. Wo keine Universität vorhanden ist, da muss schon die liberale Semstwoverwaltung ja selbst das Gymnasium – herhalten, um den für die Gerüchte nötigen Stoff zu liefern. Die Schauermären werden mit Hilfe des Drahts von Ort zu Ort weitergegeben, häufig mit offiziellem Gepräge. Zu derselben Zeit werden mit Volldampf die technischen Vorarbeiten betrieben: man stellt ProskriptionsIisten auf mit Bezeichnung der Personen und ihrer Wohnungen, die vor allen anderen geplündert und demoliert werden sollen, arbeitet einen allgemeinen strategischen Plan aus und bestellt aus den Vorstädten auf einen bestimmten Zeitpunkt das beutehungrige Krähengezücht. An dem festgesetzten Tage – weihevoller Gottesdienst in der Kathedrale. Feierliche Ansprache seiner Bischöflichen Hochwürden, patriotischer Zug mit dem Klerus an der Spitze. Voran das aus der Polizeiverwaltung entliehene Bild des Zaren. Ein Wald wehender Nationalfahnen. Ununterbrochen spielt eine Militärkapelle. Zu beiden Seiten und in der Arrieregarde Polizei. Der Gouverneur salutiert militärisch vor dem Zuge, und der Polizeimeister umarmt und küsst coram publice, die Häupter der Schwarzen Bande. Während der Zug sich durch die Straßen fortbewegt, erschallt feierliches Geläute der Kirchenglocken. „Mützen ab!" In der Volksmenge sind die auswärtigen Instruktoren verstreut und mit ihnen Beamte der einheimischen Polizeibehörde in Zivilkleidung, die aber nicht selten an der Uniformhose zu erkennen sind. Sie spähen scharf umher, reizen die Menge, hetzen sie auf, suchen ihr das Bewusstsein einzuflößen, dass sie alles tun dürfe, was sie wolle, und warten nur einen guten Vorwand ab, um zur offenen Aktion überzugehen. Inzwischen werden als Introduktion Fensterscheiben zertrümmert und einzelne Passanten misshandelt. Alle auf dem Wege liegenden Schenken werden gestürmt, der Schnaps fließt in Strömen. Die Militärkapelle wird nicht müde, immer von neuem das „Bosche, Zarja chrani" („Gott schütze den Zaren") zu intonieren, dieses Trutz- und Streitlied der Pogrome. Ist kein geeigneter Vorwand da, so wird ein solcher einfach geschaffen: man klettert auf den Dachboden eines Hauses und gibt von dort Schüsse auf die Menge ab. Die mit Polizeidienstrevolvern bewaffneten „druschini" (Kampfabteilungen) sorgen dafür, dass die Wut der Menge nicht etwa durch die Furcht paralysiert werde. Sie beantworten die Provokateur-Schüsse mit Salven, die sie gegen die Fenster vorher genau bezeichneter Häuser richten. Stößt man auf Widerstand seitens der Selbstwehr, so eilen die regulären Truppen zu Hilfe: mit zwei, drei Salven vernichten sie die Selbstwehr oder verurteilen sie zu völliger Ohnmacht, indem sie sie auf Flintenschussweite fernhalten. Vorne und im Rücken von Militärpatrouillen gedeckt, von einer Kosakenabteilung zu Rekognoszierungszwecken begleitet, mit Provokateuren als Anführern, mit Mietlingen für die untergeordneten Rollen, und Freiwilligen, die gierig nach Beute schnüffeln so wälzt sich die Menge in bluttrunkenem Rausch durch die Straßen der Stadt fort.

Der bossjak (Barfüßler) herrscht. Vor einer Stunde noch zitternder Sklave, von Polizei und Hunger gehetzt, fühlt er sich jetzt als unumschränkter Despot. Ihm ist alles erlaubt, er darf alles, er ist Herr über Gut und Ehre, über Leben und Tod. Wenn er die Lust dazu verspürt, schleudert er aus einem Fenster im dritten Stockwerk eine alte Frau zusammen mit einem Konzertflügel aufs Straßenpflaster hinunter, zerschmettert einen Stuhl am Kopfe eines Säuglings, vergewaltigt ein kleines Mädchen vor den Augen der Menge, treibt Nägel in lebendiges Menschenfleisch … Er schlachtet ganze Familien hin; er begießt das Haus mit Petroleum, verwandelt es in einen lodernden Scheiterhaufen und gibt jedem, der sich aus dem Fenster aufs Pflaster wirft, mit dem Knüttel den letzten Rest. Er bricht in Scharen in armenische Armenhäuser, mordet Greise, kranke Frauen, Kinder … Es gibt keine solche Marter, wie sie nur ein von Schnaps und Wut toll gemachtes, delierendes Hirn aushecken kann, vor der er gezwungen wäre, Halt zu machen. Denn ihm ist alles erlaubt, er darf alles…

Bosche, Zarja chrani"

Da ist ein Jüngling, der dem Tode ins Auge blickte und dessen Haar in einem einzigen Augenblicke grau wurde! Dort ein zehnjähriger Knabe, der angesichts der zerfleischten Leichname von Vater und Mutter den Verstand verlor! Dort ein Militärarzt, der wohl alle Schrecken der Belagerung von Port Arthur, aber wenige Stunden des Odessaer Pogroms nicht überstehen konnte und dessen Geist von der ewigen Nacht des Wahnsinns umfangen wurde!…

Bosche, Zarja chrani"

Bluttriefend, halb versengt, wahnsinnig vor Schrecken, stürzen die Opfer bald hierhin, bald dorthin, Rettung suchend in dieser einem wüsten Fiebertraum gleichenden Panik. Die einen ziehen den Toten die blutbedeckten Kleider vom Leibe, hüllen sich in dieselben, legen sich mitten unter die Leichenhaufen und bleiben so manchmal tagelang liegen … Die anderen werfen sich auf die Knie vor den Offizieren, Polizisten, Plünderern, erheben flehend die Arme, wälzen sich im Staube, küssen die kotbedeckten Soldatenstiefel und betteln um Hilfe. Aber nur ein trunkenes Hohngelächter wird ihnen zur Antwort: „Ihr wolltet ja die Freiheit so erntet jetzt ihre Früchte!” In diesen Worten ist die ganze teuflische Moral der Pogrompolitik enthalten.

Im Blute watend stürmt der bossjak vorwärts. Ihm ist alles erlaubt, er darf alles, er herrscht. Der „weiße Zar” hat ihm ja alles erlaubt – es lebe der weiße Zar!

In dem finsteren Oktoberbacchanal, mit dem verglichen alle Schrecken der Bartholomäusnacht als harmlose Theatereffekte erscheinen, hatten 100 Städte 3500-4000 Tote und etwa 10.000 Verstümmelte als Opfer zu verzeichnen. Der materielle Schaden, der auf mehrere Dutzend, wenn nicht Hunderte von Millionen beziffert wird, übersteigt um ein vielfaches die Verluste der Gutsbesitzer während der Agrarrevolten. So nahm das alte Regime für die ihm bereitete Demütigung Rache.

Welche Rolle spielte nun der Arbeiter bei diesen erschütternden Ereignissen?

Ende Oktober sandte der Vorsitzende der Föderation der nordamerikanischen Gewerkschaften ein Telegramm an den Grafen Witte, in dem er die Arbeiterschaft Russlands energisch zum Widerstände gegen die Pogrome aufrief da sie in hohem Grade die eben errungene Freiheit gefährdeten. „Im Namen nicht nur der organisierten Arbeiter", so schloss das Telegramm, „sondern auch in dem aller Arbeiter der Vereinigten Staaten bitte ich Sie, Herr Graf, dieses Telegramm Ihren Mitbürgern und unseren Brüdern, den Arbeitern, zu übermitteln." Aber Graf Witte, der sich noch vor kurzem in Amerika als echter Plebejer aufgespielt und nach rechts und nach links demokratische Shakehands ausgeteilt hatte, besaß die Schamlosigkeit, das Arbeitertelegramm in aller Stille in das geheimste Fach seines Schreibtisches zu versenken. Indessen die russischen Arbeiter bedurften – zu ihrer Ehre sei es gesagt – nicht erst der warnenden Stimme ihrer Brüder von jenseits des Ozeans, um aktiv in die blutigen Ereignisse einzugreifen. In einer Reihe von Städten organisierten sie Kampfdruschinen, die den Räubern tätigen, oft heldenhaften Widerstand entgegensetzten, und dort, wo das Militär sich auch nur einigermaßen neutral verhielt, da gelang es der Arbeitermiliz mit Leichtigkeit, der Zügellosigkeit der Hooliganbanden Herr zu werden.

Seht", schrieb in jenen Tagen Nemirowitsch-Dautschenko, ein alter Schriftsteller, der dem Sozialismus und dem Proletariat unendlich fern steht, hier dieser fürchterliche Alp, diese tolle Walpurgisnacht eines sterbenden Ungeheuers – und dort die herrliche Standfestigkeit und Disziplin, mit der sich die grandiose Arbeiterbewegung entwickelte! Sie haben sich mit Raub und Mord nicht befleckt – im Gegenteil: überall eilten sie der Gesellschaft zu Hilfe und schützten sie natürlich viel wirksamer als Polizei, Kosaken und Gendarmen vor dem Zerstörungswahn der Brudermörder. Die Druschinen der Arbeiter warfen sich dorthin, wo die Hooligans ihr Unwerk beginnen wollten. Die neue, in die historische Arena einziehende Macht zeigte sich voller Ruhe im Bewusstsein ihres Rechts, voller Maß bei dem Triumphe der Ideale der Freiheit und des Edlen; organisiert und diszipliniert, wie ein wahres Heer, das weiß, dass sein Sieg der Sieg alles dessen ist, wofür die Menschheit lebt und kämpft und Leiden erduldet, was ihr Denken, ihre Freude und Lust ausmacht."

In Petersburg fand kein Pogrom statt. Aber die offenen Vorbereitungen zu einem solchen wurden mit aller Macht betrieben. Der jüdische Teil der Bevölkerung befand sich in einem Zustande ewiger Angst. Vom 18. an wurden in verschiedenen Stadtteilen Studenten, agitierende Arbeiter und Juden misshandelt. Nicht nur in der äußeren Stadt, sondern selbst auf dem Newski-Prospekt wurden Passanten von einzelnen Trupps unter wildem Johlen und Pfeifen überfallen und mit Schlagringen, Nagaikas und finnischen Messern bearbeitet. Da auf einige Arbeiterdelegierte Anschläge versucht wurden, versehen sich dieselben mit Revolvern. Polizeiagenten suchten die Krämer und ihre Angestellten zu einem Überfall auf den am 5. November geplanten Trauerzug zu überreden. Und wenn trotz alledem das Schwarze Hundert sich mit einzelnen Guerillaaktionen begnügen musste, so ist dies nicht seine Schuld allein.

Die Arbeiter trafen Vorbereitungen zur Verteidigung der Stadt. Einige Fabriken verpflichteten sich, bis auf den letzten Mann auf die Straße hinauszutreten, sobald das Telefon sie an einen gefährdeten Ort riefe. Die Waffenhandlungen betreiben einen fieberhaften Handel mit Brownings unter Umgehung aller polizeilichen Beschränkungen. Aber Revolver sind teuer und daher für die breite Masse unerschwinglich. Die revolutionären Parteien und der Rat haben alle Händen voll zu tun, um wenigstens ihre Drushinen zu bewaffnen. Indes nehmen die Gerüchte von dem bevorstehenden Pogrom immer drohendere Form an. Am 29. Oktober werden die Proletariermassen Petersburgs wie von einem gewaltigen Zug ergriffen, jeder bewaffnet sich, womit er kann. Alle Fabriken und Werkstätten, die nur irgendwie mit Eisen oder Stahl zu tun haben, machen sich auf eigene Initiative an die Herstellung von kalten Waffen. Dolche, Piken, Drahtnagaikas, Schlagringe werden von tausend Hämmern zugleich geschmiedet. Am Abend, in der Sitzung des Rats, besteigen die Delegierten einer nach dem andern die Rednertribüne, demonstrieren die Waffenklingen, indem sie sie hoch in die Höhe halten, und übermitteln die eidliche Versicherung ihrer Wähler, den Pogrom beim ersten Aufflammen zu unterdrücken. Schon diese Demonstration allein war geeignet, der Masse der Pogromisten jede Initiative zu nehmen. Aber die Arbeiter begnügten sich damit nicht. Jenseits der Newskaja Sastawa, in den Fabrikvierteln, organisierten sie eine regelrechte Miliz mit ständigen Nachtwachen. Außerdem übernahmen sie die spezielle Bewachung der revolutionären Presselokale, und das war von überaus großer Bedeutung in jener Zeit der äußerste Spannung, da sowohl der Journalist, als auch der Setzer mit dem Browning in der Tasche arbeiten musste.

Indem sich das Proletariat so zur Abwehr der Schwarzen Hunderte bewaffnete, bewaffnete es sich zu gleicher Zeit auch gegen die zarische Gewalt. Der Regierung konnte der wahre Sinn dieses Vorgangs nicht entgehen, und sie schlug Lärm. Am 21. November brachte der „Regierungsanzeiger” zur allgemeinen Kenntnis, was alle ohnedies schon bekannt war: nämlich dass das Proletariat in der letzten Zeit begonnen habe, sich mit Revolvern, Dolchen, Piken und finnischen Messern zu bewaffnen. „Aus der Mitte der so ausgerüsteten Arbeiter", – fuhr die offizielle Mitteilung fort – „deren Zahl nach den vorliegenden Informationen sich auf etwa 6000 beläuft, hat sich die sogenannte Selbstwehr oder Miliz abgesondert, in der Stärke von beiläufig 300 Mann, die nachts in Abteilungen von 10 Mann die Straßen abpatrouillieren, unter dem Vorwande, die Stadt zu bewachen – in Wirklichkeit aber, um Polizei und Militär an der Festnahme der Revolutionäre zu hindern."

Und nun begann in Petersburg ein förmlicher Kreuzzug gegen die Milizionäre. Die Druschinen wurden gesprengt, die Waffen konfisziert. Aber zu dieser Zeit war die Pogromgefahr bereits geschwunden – um einer neuen, ungleich größeren Platz zu machen: die Regierung begann, ihre irregulären Truppen mit Urlaub zu entlassen, dafür aber ihre regulären Baschi-Bosuks – die Kosaken und die Garde – ins Treffen zu ziehen, sie rüstete sich zu einem Kampfe in voll entfalteter Front.

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