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Leo Trotzki 19180201 Plenarsitzung der Friedenskonferenz

Leo Trotzki: Plenarsitzung der Friedenskonferenz

1. Februar 1918

[Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 17, часть 1. Москва-Ленинград, 1926, S. 78-84]

Deklaration1 der Beauftragten des Volkssekretariats des ukrainischen Exekutivkomitees, verlesen vom Genossen Medwedjew

[Sewrjuk (der neue Vorsitzende der Delegation der Ukrainischen Volksrepublik anstelle von Golubowitsch) wies in einer langen Rede die Argumente des Genossen Trotzki in dessen Reden auf der vorigen Sitzung zurück und überreichte eine Note über die Ausrufung der Ukrainischen Volksrepublik und schlug vor, sie als „völlig selbstbestimmten und unabhängigen Staat" anzuerkennen.]

Medwedjew. Verehrte Sitzung! Die Große Russische Revolution hat das Joch der zaristischen Unterdrückung, der nationalen Knechtschaft und der Herrschaft der Grundbesitzer und Kapitalisten abgeworfen, den Bauern Land gegeben, die Arbeiter an die Spitze der Unternehmen gestellt und auf dem Dritten Sowjetkongress die Große Russische Föderation der Arbeiter- und Bauernrepubliken – eine freie Union freier Völker –, die Sowjetrepublik der Arbeiter- und Bauerndeputierten geschaffen.

Hier in Brest-Litowsk ist bis zum jetzigen Zeitpunkt im Auftrag der Volksrepublik Ukraine die Delegation der Kiewer Rada aufgetreten.

Die ukrainischen Sowjets, die einzige von den arbeitenden Menschen unseres Landes anerkannte Macht, waren hier nicht vertreten. Das ukrainische Exekutivkomitee, das souveräne Organ des ukrainischen Volkes, erkannte von Anfang an das Recht der Kiewer Rada nicht an, in seinem Namen zu sprechen. Die Delegation der Kiewer Rada, die ihre Schwäche und Isolation von der werktätigen Bevölkerung der Ukraine fühlte, führte Verhandlungen hinter dem Rücken des ukrainischen Volkes heimlich, hinter vier Wänden, getrennt von der russischen Delegation. Die Nachrichten über diese Verhandlungen riefen einen tiefen Protest der werktätigen Masse des ukrainischen Volkes hervor und untergruben schließlich die Grundlagen der Kiewer Rada-Macht. Das ukrainische Volk will einen schnellen Frieden. Aber es möchte diesen Frieden mit der gesamten Russischen Föderativen Republik schließen, in brüderlicher Einheit mit seiner arbeitenden Bevölkerung. Diejenigen, die glauben, dass nur die Ketten des Zarismus Russland mit der Ukraine verbanden, irren sich zutiefst. Diese Ketten sind gefallen, aber die tiefen wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen zwischen den brüderlichen Völkern sind geblieben, und gegenwärtig wird dieser Zusammenhang auf den Grundlagen eines freien Abkommens festgelegt. Wir betrachten es als unsere Pflicht, die Völker von Österreich-Ungarn und Deutschland davor zu warnen, dass Versuche, die Ukraine und Russland einander gegenüberzustellen und auf dieser Gegenüberstellung den Frieden aufzubauen auf falschen Voraussetzungen beruhen und daher von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die Kiewer Rada hat den Weg einer solchen Politik eingeschlagen, und am Schicksal der Kiewer Rada kann sich jeder weitsichtige Staatsmann überzeugen, dass die Politik des Friedensschlusses mit bestimmten Teilen der Russischen Föderativen Republik von Grund auf falsch ist. Wer in den kommenden Jahren nicht Augenblickserfolge, sondern dauerhafte friedliche Beziehungen anstrebt, muss mit allen Nationalitäten Russlands, die durch gemeinsame wirtschaftliche, kulturelle und staatlich-föderative Interessen verbunden sind, einen allgemeinen Frieden aushandeln.

Wir, die Vertreter des Volkssekretariats des ukrainischen Exekutivkomitees, das Teil der russischen Friedensdelegation ist, erklären:

Das Volkssekretariat strebt danach, solche Bedingungen zu schaffen, unter denen alle in der Ukraine, in Galizien, der Bukowina und Ungarn lebenden Ukrainer unabhängig von den Staatsgrenzen, die sie heute zerteilen, als Ganzes leben können, und die Frage des weiteren Staatsstellung der Ukraine in der Reihe der anderen Staaten durch freie Abstimmung des gesamten vereinten ukrainischen Volkes gelöst werden sollte. Wir sind uns der Einstellung der österreichisch-ungarischen Regierung zu dieser Frage bewusst, die eine Berücksichtigung der gesamtukrainischen Frage in echten Friedensverhandlungen nicht erlaubt.2 Aber wir drücken unser tiefes Vertrauen in den endgültigen Sieg demokratischer Prinzipien aus, einen Sieg, der in der nahen Zukunft dem lange leidenden ukrainischen Volk die Einheit und brüderliche Einheit mit allen benachbarten Nationen gewährleisten wird.

Was die laufenden Friedensverhandlungen anbelangt, so hängt das Volkssekretariat der Ukrainischen Republik voll den Prinzipien eines demokratischen Friedens an, der von der russischen Revolution verkündet und von den ukrainischen Sowjets bestätigt wurde – eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen – eines Frieden, der den Völkern das Recht auf Selbstbestimmung gibt.

In Bezug auf die besetzten Gebiete halten wir an der von der russischen Delegation hier vorgetragenen Bestimmung fest, dass die interessierten Völker selbst ihr Schicksal durch Volksabstimmung entscheiden müssen, der der Abzug ausländischer Truppen vorausgehen muss.

Abschließend erklären wir noch einmal und mit aller Entschiedenheit, dass Vereinbarungen und Verträge mit der Kiewer Rada nur ins Leben eingehen und vom ukrainischen Volk anerkannt werden, wenn sie von der Delegation der Russischen Föderativen Sowjetrepublik genehmigt und anerkannt werden, von der wir ein Teil sind.

Diskussion der Deklaration

Trotzki. Die Behauptung der russischen Delegation ist absolut unbestreitbar, dass die Konflikte, die die Regierung des Rates der Volkskommissare mit der Kiewer Rada hat, in keiner Weise unsere Anerkennung der Unabhängigkeit der Ukrainischen Republik einschränken. Aber wir müssen von vornherein auf die Verwirrung der Konzepte hinweisen, die darin besteht, die Unabhängigkeit des Landes mit der Anerkennung der einen oder anderen seiner Regierungen zu identifizieren. Niemand zweifelt hier an der Unabhängigkeit der Russischen Republik, aber jeder weiß, dass die Regierung des Rates der Volkskommissare von einer Reihe von Staaten noch nicht anerkannt wurde. Finnland wird von einer Reihe von Regierungen als unabhängige Republik anerkannt, aber nach neuesten Informationen wurde die von den Mächten anerkannte Regierung der unabhängigen Republik Finnland durch eine neue Regierung der finnischen Arbeiter und Bauern ersetzt. Die finnische Regierung äußerte unmittelbar nach der Anerkennung der Unabhängigkeit Finnlands ihren Anspruch auf Teilnahme an Friedensverhandlungen. Wir haben unserer Ansicht nach keine Hindernisse für eine solche Beteiligung gesehen, und soweit uns bekannt ist, gab es auch keine Einwände seitens der Vierbundmächte. Es versteht sich von selbst, dass der Regierungswechsel in Finnland an der internationalen Rechtslage der Republik Finnland nichts ändert. Als die Frage der Anerkennung der Delegation des Kiewer Sekretariats vor uns lag, war der Prozess der Selbstbestimmung der Ukrainischen Republik noch lange nicht abgeschlossen; diese Ungewissheit der Stellung der Ukraine wurde durch die Weigerung der Herren Vertreter des Vierbundes bestätigt, die unabhängige ukrainische Republik sofort anzuerkennen und sich das Recht vorzubehalten, ihre endgültige Haltung zu dieser Frage im Einklang mit der Bedeutung und der Unterzeichnung der Friedensvertrag zu bestimmen. Inwieweit die international-rechtlichen Beziehungen und die staatliche Bestimmung der Ukraine noch nicht ermittelt sind, zeigt sich auch daran, dass wir heute von den Lippen des Vorsitzenden der ukrainischen Delegation eine neue, sehr wichtige prinzipielle Änderung erfahren haben, die von der Kiewer Rada in die Definition der internationalen Position der ukrainischen Republik vorgenommen wurde, nämlich, dass die Kiewer Rada sich weigert, an der Republikanischen Russischen Föderation teilnehmen, und dies zu einer Zeit, wo der Dritte Allrussische Sowjetkongress unter direkter Beteiligung von Vertretern der ukrainischen Sowjets den russischen Staat als föderative Republik anerkennt, zu deren Bestand die Republik der Ukraine gehört.

Unter den zahlreichen Zitaten aus meinen Aussagen, auf die sich der Vertreter der Kiewer Rada bezieht, sind keine, die für diese Frage von großer Bedeutung ist.

Ich habe zugleich ohne jeden Protest der Vertretung der Kiewer Rada erklärt, dass gerade wegen der Ungewissheit über die Stellung der Ukrainischen Republik, insbesondere hinsichtlich der Festlegung ihrer Grenzen, alle strittigen Fragen der Zustimmung beider hier vertretenen Delegationen bedürfen. Diese Behauptung unterstellt natürlich die entgegengesetzte negative Schlussfolgerung, nämlich dass jede Vereinbarung zwischen der Delegation der Kiewer Rada und den Mittelmächten – ein Abkommen, das wegen der Unsicherheit der Grenzen dieser Staaten, die Einwände vom russischen Delegation hervorruft – dadurch seinen Wert verliert. Natürlich können alle Hinweise auf innere Veränderungen im politischen Leben des ukrainischen Volkes keine entscheidende rechtliche Bedeutung haben, das sind wir bereit zuzugeben, aber gerade wegen des Fehlens einer bestimmten Position und einer juristischen Ausgestaltung in der uns interessierenden Frage müssen wir uns ihnen zwangsläufig aus einer praktischer Sicht nähern. Deshalb habe ich mir erlaubt, auf die tatsächlichen Beziehungen hinzuweisen, die das Ergebnis des Kampfes der beiden Organisationen waren, die beanspruchten, in der Ukraine die Macht zu haben. Die Frage, die jetzt an der Reihe ist, ist eine historische Frage. Die Mittelmächte sind wie andere Staaten daran interessiert, ihre Haltung gegenüber der Ukraine im Wesentlichen zu bestimmen; sie sind auch daran interessiert, imaginäre Werte nicht als echte Werte zu betrachten. Deshalb muss ich darauf hinweisen, dass es in manchen Kreisen vielleicht eine Tendenz gibt, die Stärke und Bedeutung der separatistischen Bestrebungen im revolutionären Russland neu zu bewerten. In verschiedenen Gebieten Russlands, besonders an seiner Peripherie, manifestieren sich separatistischen Tendenzen augenblicklich gerade bei den Klassen oder Gruppen der Bevölkerung, die vor der Revolution die Träger des rücksichtslosesten Zentralismus waren. In diesem Separatismus kann man keine lange historische Tendenz sehen; Dies ist nur ein vorübergehendes Instrument der Selbstverteidigung bestimmter Teile der Bevölkerung, die Angst vor der revolutionären Macht haben. Da die Macht der Sowjets im ganzen Lande gebilligt ist, verlagern die besitzenden Gruppen ihre separatistischen Bestrebungen immer weiter in die Außenbezirke, und das wird dadurch betont, dass gegenwärtig die lebhaftesten Erscheinungen des Separatismus bei den gutsbesitzenden Spitzen der Kosaken zu sehen sind, d.h. bei jenen Gruppen, die in der Vergangenheit die Träger des Prinzips des eisernen Zentralismus waren. Wenn wir für eine Minute den Sieg dieser Gruppen im heutigen Russland annehmen, dann ist es für jeden wirklich denkenden Politiker klar, dass sie wieder Träger des Zentralismus würden.

Ich glaube, dass aus diesem Grund Regierungen, die mit realen und nicht imaginären Werten rechnen wollen, die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen sollten, wenn sie ihre Beziehungen zur Russischen Republik bestimmen, wobei sie nicht künstlich auf hier verlesenen Erklärungen aufbauende Formulierungen berücksichtigen sollten, sondern echte Beziehungen, wie sie im gegenwärtigen Russland sind. Ich glaube natürlich nicht, dass die Vertreter des Vierbundes die Rolle eines Schiedsrichters im Bereich der inneren Beziehungen in Russland oder der Ukraine übernehmen können. Ich hielt es nur für notwendig, den wahren Zustand der Dinge nach bestem Wissen darzustellen. Unsere Regierung steht immer noch auf dem Standpunkt, den ich in dem Moment formuliert habe, als diese Frage zum ersten Mal vor uns auftrat. Solange die Delegation der Kiewer Rada ihr Mandat behält, erheben wir keine Einwände gegen ihre unabhängige Teilnahme an den Verhandlungen, aber jetzt, da unsere Delegation Vertreter des ukrainischen Exekutivkomitees umfasst, wiederholen wir mit Nachdruck, dass nur Vereinbarungen in Kraft treten können mit der ukrainischen Rada, die unsere Anerkennung erhalten wird.

[Danach spricht im Namen der ukrainischen Delegation Lubinski3, der das Recht der sowjetukrainischen Delegation, die Ukraine zu vertreten, bestreitet und auf der Rechtmäßigkeit der Delegation der Ukrainischen Volksrepublik beharrt. Im Namen der Delegationen des Vierbundes gibt Czernin eine Erklärung ab, dass sie die Ukrainische Volksrepublik als „freien souveränen Staat, der für den Eintritt in internationale Beziehungen rechtlich befähigt ist", anerkennen und die gleichzeitig auf den scheinbar veränderten Standpunkt der Delegation der RSFSR verweist.]

Trotzki. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass der Hinweis auf unsere veränderte Haltung gegenüber der ukrainischen Rade völlig falsch ist. Ich habe die Stelle meiner hier zitierten Aussage schon zweimal zitiert. Meine Worte lassen keine Neuinterpretationen zu. Jedenfalls besteht kein Zweifel daran, dass die interessierten Regierungen, unabhängig von der Stellung, die die Vierbund im Augenblick gegenüber der Ukraine einnimmt, nicht in der Lage sind, die geographischen Grenzen dieser gerade anerkannten unabhängigen Republik genau anzugeben, geschweige denn alles andere. Und da in Friedensverhandlungen die Grenzen eines Staates nicht gleichgültig sind, behält meine Aussage über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Lösung dieses Problems mit unserer Delegation aufgrund der Logik der Dinge ihre volle Bedeutung.

[Kühlmann fragt, „ob die Erklärung, die vom ukrainischen Mitglied der russischen Delegation verlesen wurde, auch eine offizielle Botschaft der russischen Regierung ist."]

Trotzki. Natürlich tragen wir die volle Verantwortung für diese Erklärung, soweit sie sich direkt auf den Verlauf der Friedensverhandlungen bezieht und die Ansichten der ukrainischen Delegation mit der Sichtweise der russischen Delegation übereinstimmen. Ich glaube, dass diese Erklärung nur in solchen Grenzen überprüft werden kann.

1 Dass diese Deklaration vom Genossen Trotzki stammt, wurde durch die Entdeckung des Manuskripts der Deklaration von der Hand des Genossen Trotzki im Archiv festgestellt.

2 Die Behandlung der Frage des Schicksals der Ukrainer, die Galizien und die Bukowina bewohnen, konnte natürlich im Interesse Österreich-Ungarns, in dessen Macht diese Gebiete lagen, nicht aufgenommen werden.

Selbst die Delegation der Zentralrada versuchte, in ihren getrennten Verhandlungen mit der österreichisch-deutschen Delegation,, auf Ostgalizien hinzuweisen, aber sie biss sich auf die Zunge. „Erst verlangten sie [die ukrainischen Delegierten, Red.]", schreibt Czernin in seinen Memoiren, in einem Eintrag vom 20. Januar, „Ostgalizien für die neue ,Ukraina'. Das war nicht diskutabel. Dann wurden sie bescheidener …“ [Ottokar Czernin, Im Weltkriege, Berlin und Wien 1919, S. 325] Nach dem Vertrag, der zwischen der Ukraine und der Vierbund (9. Februar) geschlossen wurde, blieb die ehemalige Grenze zwischen Österreich-Ungarn und der Ukraine bestehen. Allerdings hat die Ukraine von Österreich-Ungarn das Versprechen erhalten, in Ostgalizien eine autonome ukrainische Region zu schaffen.

3 Lubinskis grobe und heftige Rede, voller Schmähungen und Verleumdungen gegenüber den Bolschewiki, war von Czernin inspiriert. Über dies, wie auch über den Eindruck, den diese Art Rede auf die Sowjetdelegation machte, finden wir – vielleicht etwas übertrieben – in den Memoiren von Czernin im Eintrag vom 2. Februar folgendes:

Ich habe die Ukrainer ersucht", schreibt er, „endlich einmal offen mit den Petersburgern zu sprechen, und der Erfolg war ein fast allzu großer. Die Grobheiten, die die ukrainischen Vertreter den Petersburgern heute an den Kopf geworfen haben, waren direkt grotesk und beweisen, welche Kluft zwischen diesen beiden Regierungen liegt, und dass es nicht unsere Schuld ist, wenn wir sie nicht unter einen Friedenshut bringen können. Trotzki war in einem aufgelösten Zustande, dass er einem leid tun konnte. Ganz blass, sah er krampfhaft vor sich hin und zeichnete nervös auf seinem Fließpapier. Dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn herunter. Das peinliche Gefühl, von den eigenen Mitbürgern in Gegenwart der Feinde beschimpft zu werden, muss er tief empfunden haben.“ [Ottokar Czernin, Im Weltkriege, Berlin und Wien 1919, S. 332 f.]

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