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Leo Trotzki 19180902 Vor der Eroberung von Kasan

Leo Trotzki: Vor der Eroberung von Kasan

Rede, gehalten in der Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees am 2. September 1918.

[nach Leo Trotzki: Die Geburt der Roten Armee. Wien 1924, S. 133-137]

Genossen! Ich glaubte nicht die Möglichkeit zu haben, in diesen Tagen vor Euch, vor dem obersten Organ der Sowjetrepublik zu sprechen, und kam hierher nicht in Sachen des Amtes, in dem ich tätig bin, sondern weil ich durch die Meldung über das Attentat auf Genossen Lenin herbeigerufen worden bin. Im Gespräch mit den Genossen konnte ich die jetzige Lage nicht anders bezeichnen, als eine Lage, wo zu den Fronten, die wir schon haben, eine neue Front hinzugekommen ist, nämlich die Front im Brustkasten des Genossen Lenin, in dem jetzt Leben und Tod kämpfen und wo, wie wir hoffen, der Kampf mit einem Sieg des Lebens enden wird.

An unseren Kriegsfronten lösen sich Sieg und Niederlage ab; es gibt viele Gefahren, aber alle Genossen werden unzweifelhaft zugeben, dass diese Front die Front im Kreml momentan die wichtigste ist. An der Front, an der Armeefront hat die Kunde von dem Attentat auf den Führer der Arbeiterklasse keine gedrückte Stimmung hervorgerufen, soweit ich nach dem ersten Eindruck urteilen kann, sondern erzeugte im Gegenteil eine Flut von Erbitterung und den Willen zum revolutionären Kampfe. Es braucht nicht erwähnt zu werden, wie sich die bewussten Kämpfer an der Front dem Genossen Lenin gegenüber verhielten, als sie erfuhren, dass er mit zwei Kugeln im Leibe auf dem Krankenbette liegt. Wir wussten, dass von Genossen Lenin niemand behaupten würde, seinem Charakter fehle es an Metall; jetzt hat er Metall nicht allein im Geiste, sondern auch im Leibe, und so wird er der Arbeiterklasse Russlands noch teurer werden.

Wenn ich von der Front rede, von der ich soeben gekommen bin, muss ich sagen, dass ich leider keine entscheidenden Siege zu melden habe, dafür aber darf ich mit voller Bestimmtheit erklären, dass diese Siege uns bevorstehen, dass unsere Lage fest und sicher ist; dass ein entschiedener Umschwung eingetreten ist; dass wir jetzt gegen große Überraschungen gesichert sind (soweit man überhaupt gesichert sein kann) und dass wir mit jeder Woche auf Kosten unserer Feinde erstarken werden. Was die Armeemassen betrifft, so haben sie eine bestimmte Schulung sowohl in militärischer wie in politischer Hinsicht durchgemacht, und in dieser Richtung spielte eine große Rolle jene Avantgarde von Arbeitern Petrograds, Moskaus und anderer Städte, die nach der Front geschickt worden sind. Die Bedeutung, die jeder klassenbewusste Arbeiter an der Front hat, lässt sich kaum ermessen. Im kritischsten Moment, als Kasan fiel und die Kämpfe wieder einsetzten, hatten die Genossen Kommunisten alle Schwierigkeiten der Lage auszubaden. Sie organisierten die Vortrupps. Fünfzig von ihnen zogen aus, 12 kamen zurück. Sie sind die Agitatoren, aber wenn es nötig ist, ergreifen sie die Gewehre als Kommissare, reihen sich in die unzuverlässigen Truppenteile ein und schaffen dort ein festes Gerüst. Sie führen überall ein straffes, mitunter raues Regime ein, denn der Krieg ist überhaupt eine raue Sache. Zugleich hat sich dank diesen Kräften und der engen Berührung der Truppen mit der Bevölkerung ein gewaltiger Umschwung in der Stimmung der Wolgabauernschaft vollzogen.

Unser Land ist riesengroß und erfordert gewaltige Kräfte und politische Energien. Wir haben an der Wolga und am Ural die Bauernmassen noch nicht so umgegraben, wie man Wald rodet; unter den armen Bauern ist das Bewusstsein noch nicht erwacht, aber schon kommen sie in Berührung mit den Rotarmisten, die nicht sengen und brennen, nicht plündern. Wenn auch Exzesse vorkommen, haben wir doch im Großen und Ganzen straff disziplinierte Truppen; eine große Rolle spielen hier wiederum die Petrograder und Moskauer Arbeiter. Die politischen Umstände gestalten sich ganz zu unsern Gunsten, unsere Truppen erstarken und wachsen moralisch und numerisch. Was aber den Feind betrifft, so herrscht, laut den Nachrichten, die wir von unseren Kundschaftern erhalten haben, in den Truppen des Feindes völlige Zersetzung und Zerfall, und diejenigen Arbeiter und Bauern, die ihnen früher gleichgültig oder kaum feindlich gegenüberstanden, sind jetzt ihre Feinde und unsere Freunde. Das wird daraus ersichtlich, dass, sobald unsere Artillerie verstummt, die Bourgeoisie von Kasan sich sofort den Weißgardisten anschließt, aber wenn unsere Artillerie dröhnt, unsere Aeroplane in den Lüften schwirren und die bürgerlichen Stadtteile mit Dynamit belegen, dann beginnen in den Arbeitervierteln die Meetings und die Bourgeoisie verkriecht sich, die Weißgardisten bleiben isoliert. Insofern unsere Truppenteile die Offensive ergreifen müssen, muss unser Kommando eine vorsichtige Taktik einschlagen. Wir haben kein Recht, ihm eine andere Taktik vorzuschreiben, wenn es glaubt, dass dies dem Charakter der Truppenteile, die in diesem Kriege stehen, mehr entspricht; zugleich bewahrt uns diese Taktik vor Gefahren und großen Überraschungen, so dass der Erfolg als sicher angesehen werden kann.

An den anderen Fronten ist die Lage ebenfalls schwankend, aber an jeder Front haben wir jetzt bedeutend mehr Chancen auf Erfolg. Am besten steht die Sache in der Richtung von Poworino-Zarizyn, wo wir gegen die Banden Krasnows kämpfen. Die letzten Meldungen, die Ihr wohl kennt, berichten uns von der Einnahme von Katschalinsk. Hier wurde das 6. Kosakenregiment entwaffnet und ein anderes, ebensolches Regiment ging zu uns über und verfolgte zusammen mit unseren Truppen den flüchtenden Gegner. Genossen, dies geschah nicht zufällig. Dies hat tiefe innere Ursachen. Die Arbeiterklasse, die werktätigen Massen haben eingesehen, dass es um Leben und Tod geht, dass sie in den Todeskampf gehen, dass unsere Lage mit jedem Tage eine günstigere wird. Deshalb müssen wir arbeiten, ohne auszuruhen, rastlos und angespannt arbeiten.

In Sachen des Kommandos steht es besser als früher, obwohl immer noch nicht glänzend. Unsere Front entstand zu der Zeit, als der alte Kommando-Apparat überhaupt im Sterben lag und der Apparat der Kriegsorganisation auf die alte Front zugeschnitten war. Daraus ergibt sich das Zwiefache der Organisation. Wir formierten die Division nach dem Prinzip der Freiwilligkeit und bildeten dementsprechend große Divisionsstäbe. Das Freiwilligkeitsprinzip wurde von uns bereits aufgegeben. Wir haben die Zwangsmobilisierung der Arbeiter und Bauern, die keine fremde Arbeit ausbeuten, aufgenommen, und die Stäbe der alten Divisionen müssen dorthin verlegt werden, wo die Formierung mit dem größten Erfolg durchgeführt wird. In der Nähe der neuen Front, dort, wo der Bauer am unmittelbarsten von den Tschechoslowaken und Weißgardisten bedroht wird, kommt uns der Bauer immer mehr und lieber entgegen bei der Bildung der neuen Formationen.

In den Spitzen unseres Militärapparates haben wir bis jetzt die notwendige Einheitlichkeit nicht. Wir haben den früheren Obersten Kriegsrat, der für die Bedürfnisse der alten Front zugeschnitten war, und haben den Revolutionären Kriegsrat in Arsamas, der für die Bedürfnisse der Ostfront organisiert war, und dem wir gegenwärtig auch die Nord-Ostfront unterstellt haben.

Worin bestehen unsere dringendsten Aufgaben?

Hier wurde gemeldet, dass England sich anschickt, drei Jahre lang mit uns Krieg zu führen. Über die Dauer lässt sich schwer etwas voraussagen, Genossen. Als der Weltkrieg ausgebrochen war, glaubte man, er würde drei Monate dauern, nun dauert er das fünfte Jahr. Jetzt behaupten namhafte englische Diplomaten, dass der Krieg gegen Sowjetrussland drei Jahre währen würde; die Erfolge, die wir zu verzeichnen haben, sprechen keineswegs dafür, dass wir den Krieg in den nächsten drei Wochen oder drei Monaten zu Ende führen werden. Diese Erfolge zeugen bloß davon, dass die Arbeiterklasse kämpfen lernt, eine militärische Organisation schaffen lernt, und dass die Sowjetrepublik, wenn sie will, sich zu verteidigen wissen wird. Wie lange der imperialistische Druck dauern wird, welche Formen er annehmen wird, und zu welchen weiteren Maßnahmen wir zu unserer Verteidigung werden Zuflucht nehmen müssen, – das lässt sich nicht sagen. Man kann nur das eine sagen, dass die Gefahr noch sehr groß ist und dass sie besonders in den kommenden zwei Monaten groß sein wird, bis zum Eintritt der Winterkälte, die wenigstens die englische Hilfe für die Tschechoslowaken für diese Winterperiode lähmen wird. Die zwei nächsten Monate werden eine Zeit der angespanntesten, energischsten, ich möchte sagen, heroischen Arbeit unsererseits zur militärischen Festigung aller Grenzen der Sowjetrepublik sein. Wir sind erschöpft, wir sind in jeder Hinsicht arm, auch in militärischer Hinsicht, und wir müssen alle Ressourcen des Landes in den Dienst der Verteidigung der Sowjetrepublik stellen.

Ihr müsst verkünden, dass wir unter den Umständen, unter denen wir uns jetzt dem konzentrierten Angriff des Weltimperialismus gegenüber sehen, der uns sein englisch-französisches und sein japanisch-amerikanisches Gesicht zugewandt hat, verpflichtet sind, die Sowjetrepublik in ein einziges Heerlager zu verwandeln und alle unsere Mittel, alle Kräfte, alle Güter des Landes, der persönliche Besitz der Bürger und jedes einzelnen Bürgers direkt zum Schutze der Sowjetrepublik hingegeben werden müssen. Wir brauchen eine Mobilisierung der Menschen, der Soldaten, eine Mobilisierung des Geistes und der geistigen Kräfte des Landes, und diese Mobilisierung muss einen intensiven, heroischen Charakter annehmen, damit man überall, in der ganzen Welt und insbesondere an der englischen Börse, wo das Blut des russischen Volkes notiert wird, weiß, dass wir uns lebend niemandem ausliefern werden, dass wir bis zum letzten Blutstropfen kämpfen werden.

Die Maßnahmen, von denen ich rede, ergeben sich aus der objektiven Sachlage, aus jenen Gefahren, die uns umgeben, und die nicht etwa zu bemessen sind nach den tschechoslowakischen Streitkräften und dem kläglichen englisch-französischen Landungskorps, sondern die wachsen und ein anderes Gesicht und andere Dimensionen annehmen können.

Wir müssen stark, mächtig sein; dazu müssen wir in erster Linie die Versorgung unserer Armee sichern. Unter unseren wirtschaftlichen Verhältnissen ist dies bloß bei der Mobilisierung aller Hilfskräfte des Landes möglich. Die Verpflegungsarbeit muss zentralisiert werden. An der Spitze dieser Arbeit steht jetzt schon ein so energischer und tüchtiger Mann, wie Genosse Krassin. Ihm müssen die weitestgehenden Vollmachten und alle jene materiellen Mittel übertragen werden, die erforderlich sind, um unser Militärverpflegungswesen auf die nötige Höhe zu bringen. Alles muss den Organisatoren des Verpflegungswesens zur Verfügung gestellt werden!

Gleichzeitig müssen wir, wie ich bereits erwähnte, den militärischen Apparat zentralisieren. Jene Zersplitterung, die sich aus der doppelten Front – der verschwindenden und der neu entstehenden – ergab, muss aufhören. An die Spitze der Streitkräfte und der Kriegsmittel der Sowjetrepublik muss ein leitendes Organ in Gestalt des Revolutionären Kriegsrats und ein oberster Befehlshaber gestellt werden. Alle übrigen Ämter des Allrussischen Generalstabs, als Organ der Versorgung, müssen diesem Revolutionären Kriegsrat untergeordnet werden und von ihm die Aufgaben zugewiesen bekommen. Dadurch werden wir uns die Einheitlichkeit in der Verfügung über sämtliche Streitkräfte und Mittel des Landes, ihre Verschiebung aus einem Teil des Landes nach einem anderen, von einer Front nach der anderen, sichern, sowie die Kontrolle über das Verpflegungswesen und die Ausrüstung, die in allerkürzester Zeit angefertigt und beschafft werden muss. Daneben muss die agitatorische und organisatorische Arbeit weitergeführt werden, die hier im Hinterland geführt wurde und geführt wird. Jeder Zug, der uns 10–15 oder 20 Kommunisten mit einem Literaturvorrat an die Front brachte, war uns ebenso teuer, wie ein Zug, der ein gutes Regiment oder einen reichen Artillerievorrat brachte. Jeder Trupp, jede Gruppe Kommunisten verlieh dem Frontabschnitt neues Leben, vermehrte seine Standhaftigkeit, organisierte den Verbindungsdienst und – was ja nicht das Letzte dabei ist, – gewährleistete uns ein gewisses Verhalten der Offiziere, die jetzt an der Front sind. Ich muss, in Verbindung damit, darauf hinweisen, dass sehr viele, besonders unter den jungen Offizieren mit der früheren Erziehung, mit der neuen Armee, mit unserer Partei und der Sowjetregierung verwachsen sind und einen tiefen Respekt vor den Sowjetmännern bekommen haben. Unter den Generalstabsoffizieren, die so gesonnen sind, gibt es viele, die sich mit Herz und Hirn für die Sache einsetzen. Dies hat folgendes Beispiel gezeigt: bei der Einnahme von Kasan war es für die Offiziere ein Geringes, sich zu verkaufen. Aber viele sind in den Kämpfen zugrunde gegangen, andere hielten sich wochenlang verborgen und stießen insgeheim zu uns. Aber es gibt doch Elemente, die bei der ersten besten Gelegenheit uns verraten und verkaufen; es gibt schwankende Elemente, die eia eisernes Korsett brauchen, und ein solches Korsett geben ein paar gute Kommunisten ab. Ohne Kommunisten wird unsere Armee nicht schlagfähig sein, und wenn viele hier darüber klagen, dass wir eine ganze Reihe wichtiger Ämter entvölkern, so kann ich das durchaus nicht begreifen.

Diese Klagen, die von bestimmten Organen ausgehen, sind nicht ganz verständlich und natürlich. Wenn wir die feindlichen Kräfte nicht brechen, werden natürlich alle Sowjetämter flöten gehen; die wirkliche Sowjetrepublik wird jetzt bei Kasan, Simbirsk, Samara und den anderen Abschnitten unserer Front gemacht.

So gebt doch alles, was Ihr geben könnt. Ihr sollt verkünden, dass die Sache der Front momentan die Hauptsache ist, und dass das ganze Land das Reservoir zur Stärkung dieser Front bildet. Ihr müsst das Land in den Zustand eines Heereslagers versetzen; ihr müsst das Verpflegungswesen zentralisieren und ihm alle notwendigen Ressourcen des Landes zur Verfügung stellen; Ihr müsst die Militärverwaltung zentralisieren und die ganze militärische Macht dem Revolutionären Kriegsrat übertragen. Dadurch werdet ihr Euren Willen zum Sieg und zum Leben zeigen, und wir wollen hoffen, dass in wenigen Wochen, wenn der Führer der Arbeiterklasse genesen sein wird, wir auch an den anderen Fronten siegen werden, und dass die Kunde von der Niederlage unseres Feindes in Samara, Simbirsk, Ufa, Orenburg und Sibirien gerade zur Zeit der Sitzung unseres Zentralexekutivkomitees eintreffen wird, in der Genosse Lenin wieder unser Gast sein wird.

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