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Leo Trotzki 19190110 Der Wissenschaft zufolge oder – so Gott will?

Leo Trotzki: Der Wissenschaft zufolge oderso Gott will?

Brief an einen Freund.

[nach Leo Trotzki: Die Geburt der Roten Armee. Wien 1924, S. 176-180]

Lieber Freund! Du fragst, wie es geschehen konnte, dass die Frage der Fachleute, wie die der Offiziere des Generalstabs, eine so große Bedeutung in unserer Mitte erlangen konnte. Gestatte, Dir zu sagen, dass es sich hierbei eigentlich gar nicht um die militärischen Fachleute handelt: die Frage geht tiefer und ist umfassender.

Wir sind eine Partei der Arbeiterklasse. Mit den besten Elementen der Arbeiterklasse saßen wir jahrzehntelang in der Illegalität, kämpften auf den Barrikaden, fochten, stürzten das alte Regime, schoben alle Zwischengruppen, wie die Sozialrevolutionäre und Menschewiki beiseite und ergriffen, an der Spitze der Arbeiterklasse, die Macht. Wenn aber unsere Partei blutsverwandt ist mit der Arbeiterklasse, so konnte und kann sie nicht eine einfache Lobhudlerin der Arbeiterklasse sein, die sich mit allem begnügt, was die Arbeiter tun. Wir blickten mit Verachtung auf Jene herab, die uns belehrten, dass das Proletariat ,,zu früh" zur Macht gelangt sei: als ob eine revolutionäre Klasse die Macht nach Belieben, zu jeder Zeit ergreifen kann, und nicht dann, wenn die Geschichte sie dazu zwingt! Aber zugleich behaupteten wir niemals und behaupten auch jetzt nicht, dass unsere Arbeiterklasse völlige Reife erlangt habe und „spielend" leicht mit allen Aufgaben fertig werden und alle Schwierigkeiten überwinden kann. Das Proletariat und um so mehr die Bauernmassen sind ja gerade jetzt erst aus der jahrhundertelangen Sklaverei herausgekommen und tragen in sich noch alle Folgen der Unterdrückung, der Unwissenheit und der Rückständigkeit. Die Machteroberung an sich modelt noch die Arbeiterklasse nicht um und verleiht ihr noch nicht alle notwendigen Eigenschaften und Tugenden: Die Machteroberung eröffnet ihr bloß erst die Möglichkeit, richtig zu lernen, sich zu entwickeln und sich von ihren welthistorischen Fehlern zu reinigen.

In der Oberschicht der russischen Arbeiterklasse hat sich in höchster Anspannung eine historische innere Umwälzung vollzogen. Aber selbst in dieser Oberschicht steckt noch zu viel Halbwissen und Halbkönnen; es gibt noch zu wenige Arbeiter, die ihren Kenntnissen, ihrem Gesichtskreis und ihrer Energie nach für ihre Klasse das leisten könnten, was die Vertreter, Platzhalter und Agenten der Bourgeoisie für die herrschenden Klassen leisteten.

Lassalle sagte einmal, dass die deutschen Arbeiter seiner Zeit – vor mehr als einem halben Jahrhundert – arm an der Erkenntnis ihrer Armut wären. Die revolutionäre Entwicklung des Proletariats besteht eben darin, dass es zur Erkenntnis seiner unterdrückten Lage und seines Elends gelangt und sich gegen die herrschenden Klassen wendet. Das ermöglicht dem Proletariat, im Kampf die politische Macht zu erobern. Aber der Besitz der politischen Macht entrollt vor ihm eigentlich zum ersten Mal das volle Bild seiner Armut in Fragen der allgemeinen und speziellen Bildung und der Staatserfahrung. Die Erkenntnis der eigenen Mängel ist für die revolutionäre Klasse ein Unterpfand deren Überwindung.

Das Gefährlichste, was der Arbeiterklasse passieren könnte, wäre entschieden, wenn ihre Spitzen sich einbilden wollten, dass mit der Eroberung der Macht die Hauptsache bereits getan sei, und ihr revolutionäres Gewissen sich dabei beruhigen würde. Wahrhaftig, das Proletariat hat die Revolution nicht gemacht, um Tausenden oder Zehntausenden von fortgeschrittenen Arbeitern Ämter in den Sowjets und Kommissariaten zu verschaffen. Unsere Revolution wird sich erst dann ganz rechtfertigen, wenn jeder Arbeiter, jede Arbeiterin fühlen werden, dass sie es leichter, freier, reiner und würdiger zu leben haben. Das ist noch nicht der Fall. Ein schwerer Weg trennt uns noch von der Erreichung dieses grundsätzlichen und einzigen Zieles.

Damit das Leben der werktätigen Millionen leichter, großartiger und inhaltsreicher werde, muss auf allen Gebieten die Organisation und Zweckmäßigkeit der Arbeit gesteigert werden, muss ein unvergleichlich höheres Kenntnisniveau, ein weiterer Horizont aller berufenen Vertreter der Arbeiterklasse auf allen Tätigkeitsgebieten erreicht werden. Es heißt arbeiten und lernen. Man muss von allen lernen, von wem man etwas lernen kann. Man muss alle Kräfte heranziehen, die man einspannen kann. Noch einmal: man darf nicht vergessen, dass die Volksmassen letzten Endes die Revolution nach ihren praktischen Resultaten bewerten werden. Und sie werden vollkommen recht haben. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass unter einem Teil der Sowjetarbeiter ein solches Verhältnis zu den Dingen Platz gegriffen hat, als ob die Aufgabe der Arbeiterklasse im Grunde schon dadurch erreicht worden wäre, dass an der Macht Arbeiter- und Bauerndeputierte sind, die schon „irgendwie“ fertig werden werden.

Das Sowjetregime ist deswegen das beste Regime für die Arbeiterrevolution, weil es am treusten die Entwicklung des Proletariats, seinen Kampf, seine Fortschritte, aber zugleich auch seine Mingel und darunter die Mängel der leitenden Schicht widerspiegelt. Neben den Tausenden hervorragender Gestalten, die vom Proletariat ausgesondert worden sind, die lernen und vorwärtsschreiten und denen unzweifelhaft eine große Zukunft beschieden ist, gibt es im leitenden Sowjetapparat viele Halbwisser, die sich für Allwisser halten. Selbstgefälligkeit, die sich mit kleinen Erfolgen zufriedengibt, dieser schlimmste Zug des Kleinbürgertums ist den welthistorischen Aufgaben des Proletariats konträr. Aber dieser Zug kommt dessen ungeachtet auch im Kreise jener Arbeiter vor, die mit mehr oder weniger Recht sich als die Avantgarde bezeichnen dürfen: das Erbe der Vergangenheit, die kleinbürgerlichen Traditionen und Einflüsse, schließlich, einfach das Bedürfnis der überspannten Nerven nach Ruhe tun das ihre. Daneben stehen die recht zahlreichen Vertreter der Intelligenz und Halbintelligenz, die sich aufrichtig der Sache der Arbeiterklasse angeschlossen haben, aber innerlich noch nicht reif geworden sind und viele Eigenschaften und Methoden im Denken beibehalten haben, die dem kleinbürgerlichen Milieu eigen sind. Diese ärgsten Elemente des neuen Regimes sind bestrebt, sich als Sowjetbürokratie zu kristallisieren.

Ich sage „ärgsten“, und vergesse dabei nicht die vielen Tausende der einfach gedankenlosen Techniker, deren sich alle Sowjetämter bedienen. Die Techniker, die „unparteiischen" Fachleute erfüllen, ob schlecht oder recht, ihre Aufgabe, ohne die Verantwortung für das Sowjetregime zu tragen, und ohne unserer Partei die Verantwortung für sich aufzuerlegen. Sie muss man auf jede Weise ausnutzen, und man darf von ihnen nicht fordern, was sie nicht geben können. … Dafür aber ist geradezu ein historischer Ballast unsere eigene Bürokratie, die schon konservativ, träge und selbstzufrieden ist, die nichts lernen will und sich sogar feindselig Jenen gegenüber verhält, die sie an die Notwendigkeit des Lernens erinnern.

Das bildet eine wirkliche Gefahr für die Sache der kommunistischen Revolution, das sind die wirklichen Helfershelfer der Konterrevolution, auch ohne Verschwörung. Unsere Fabriken arbeiten nicht besser als die bürgerlichen, sondern schlechter. Folglich ist die Tatsache, dass an ihrer Spitze als Verwaltung ein paar Arbeiter stehen, an sich noch nicht ausschlaggebend. Wenn diese Arbeiter entschlossen sind, hohe Resultate zu erkämpfen (und in den meisten Fällen ist es so oder wird so sein), dann werden alle Schwierigkeiten überwunden werden. Es gilt also, von allen Seiten eine vernünftigere, eine vollkommenere Organisation der Wirtschaft, der Verwaltung der Armee anzupacken. Es gilt, Initiative, Kritik, schöpferische Kraft zu wecken. Es gilt, dem Wetteifer Platz zu machen. Daneben müssen also Fachleute herangezogen werden, es müssen erfahrene Organisatoren, erstklassige Techniker gefunden werden. Man muss freie Bahn jeder Begabung machen – auch derjenigen, die von unten herauf gekommen, und denjenigen, die wir als Vermächtnis von dem bürgerlichen Regime übernommen haben. Nur der klägliche Sowjetbürokrat, der um seinen neuen Posten zittert und ihn für seine persönlichen Privilegien, nicht aber den Interessen der Arbeiterrevolution zuliebe beibehalten möchte, kann von vornherein mit Misstrauen jedem großen Sachkundigen entgegenkommen, jedem tüchtigen Organisator, Techniker, Spezialisten, Gelehrten, weil er sich von vornherein sagt, dass „wir auch selbst irgendwie fertig werden".

An unserer Generalstabsakademie studieren jetzt Parteigenossen, die durch Taten, am eigenen Fleische ehrlich kapiert haben, wie schwer dieses harte Kriegshandwerk ist, und die jetzt mit dem größten Eifer arbeiten unter Leitung von Professoren der alten Militärschule.

Personen, die der Akademie nahestehen, sagten mir, dass das Verhältnis der Hörer zu den Professoren nicht im Geringsten von politischen Motiven bestimmt wird; am meisten wird, glaube ich, ein Professor geschätzt, der zu den Konservativsten gehört. Diese Leute wollen lernen. Sie sehen neben sich andere, die über Wissen verfügen. Und sie tun sich nicht patzig, sie schreien nicht: „Wer wird an uns herankommen!“, sie lernen fleißig und gewissenhaft von den „Zarengenerälen“, weil diese Generäle das wissen, was die Kommunisten nicht wissen, aber wissen sollen. Ich zweifle nicht daran, dass unsere Roten Kriegsakademiker, nachdem sie ausgelernt haben werden, viele Korrekturen in den Sachen machen werden, die sie jetzt lernen, und vielleicht sogar manch neues Wort zu sagen haben werden.

Der Mangel an Wissen ist natürlich keine Schuld, sondern ein Unglück, aber ein Unglück, dem abgeholfen werden kann. Doch dieses Unglück wird zur Schuld, selbst zum Verbrechen, wenn es mit Selbstgefälligkeit, Hoffnung auf „vielleicht" und „es wird schon gehen“ und Neid und Feindseligkeit gegen jeden, der mehr weiß, gepaart wird.

Du fragst, warum die Frage der militärischen Fachleute solche Leidenschaften auslöst. Das ist eben die Sache, dass hinter dieser Frage, wenn man auf den Grund schaut, zwei Tendenzen stecken: die eine, die aus dem Verständnis unserer gewaltigen Aufgaben kommt, ist bestrebt, alle Mittel und Kräfte auszunutzen, die das Proletariat vom Kapital übernommen hat, ist bestrebt, zu rationalisieren, d. h. die ganze gesellschaftliche Arbeit praktisch vernünftig zu machen, darunter auch die militärische Arbeit, auf allen Gebieten das Prinzip der Kräfteökonomie durchzuführen und die größten Resultate mit den geringsten Opfern zu erreichen – tatsächlich Bedingungen zu schaffen, die das Leben erleichtern. Die andere Tendenz, die glücklicherweise viel weniger stark ist, wird von den Stimmungen des unbeschränkten neidischen, selbstsüchtigen und zugleich selbstunsicheren kleinbürgerlich bürokratischen Konservativismus getragen …. „Wie wir bis jetzt fertig geworden sind, werden wir auch weiter fertig werden, – so Gott will“. Es ist nicht wahr! „So Gott will“ werden wir niemals fertig werden: entweder werden wir wirklich fertig werden, wie es sich gehört, nach allen Regeln der Kunst und der Technik, – oder wir werden überhaupt nicht fertig werden und werden kaputtgehen. Wer das nicht begriffen hat, hat nichts begriffen.

Indem ich, Freund, zu der von Dir aufgeworfenen Frage der militärischen Fachleute zurückkehre, will ich Dir folgende Beobachtung meinerseits übermitteln. Wir haben in der Armee einzelne Winkel, wo „das Misstrauen“ zu den militärischen Fachleuten besonders florierte. Was sind das für Winkel? Etwa die kulturellsten Massen, die an politischem Bewusstsein am reichsten sind? Mitnichten! Im Gegenteil: das sind die stiefmütterlichsten Winkel unserer Sowjetrepublik. In einer unserer Armeen galt es bis vor kurzem als Zeichen des kühnsten revolutionären Geistes, wenn man sich dämlich über „Militärspezialisten“ lustig machte, d. h. über jeden, der eine Militärschule durchgemacht hat. Aber unter den Truppen dieser Armee wurde fast keine politische Arbeit geleistet. Die kommunistischen Kommissare, diese politischen „Spezialisten" wurden dort ebenso angefeindet wie die militärischen Spezialisten. Wer hat diese Feindseligkeit gesät? – Der ärgste Teil der neuen Kommandeure. Die militärischen Halbignoranten, Halbpartisanen, Halbparteimenschen, die weder ernste Parteigenossen, noch ernste Militärfachleute an ihrer Seite dulden wollten. Das ist der schlimmste Kommandeurtypus. Sie sind unwissend, aber wollen nichts lernen. Für ihre Misserfolge – woher sollten sie Erfolge haben? – suchen sie stets eine Erklärung im Verrat der andern. Sie ziehen den Kürzeren vor jedem Wechsel der Stimmungen in der eigenen Truppe, denn sie sind jeder ernsthaften moralischen und militärischen Autorität bar. Wenn ein Truppenteil, der den festen Führer nicht fühlt, sich weigert, vorwärts zu marschieren, verstecken sie sich hinter dem Rücken der Soldaten. Sie klammern sich fest an ihre Posten und haben für jede militärische Wissenschaft nur Hass übrig. Für sie ist Wissenschaft gleichbedeutend mit Verrat und Imstichlassen. Viele von ihnen, die nicht mehr ein noch aus wussten, endeten damit, dass sie offen in den Aufstand gegen die Sowjetregierung traten.

In jenen Truppenteilen, wo das geistige Niveau des Rotarmisten höher ist, wo eine politische Arbeit geführt wird, wo verantwortliche Kommissare und Parteizellen da sind, dort hegt man keine Furcht vor den militärischen Fachleuten, im Gegenteil, man will sie haben, man benutzt sie und lernt von ihnen. Noch mehr: dort fängt man mit viel mehr Erfolg die wahren Verräter ab und knallt sie rechtzeitig nieder. Und – was die Hauptsache ist – dort siegt man.

So stehen die Dinge, lieber Freund! Jetzt wirst Du vielleicht die Wurzeln der Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Militär- und anderen Fachleute klarer verstehen.

Unterwegs, Tambow-Balaschow, den 10. Januar 1919. „Wojenoje Djelo" Nr. 5/6 (34/35), 25. Feb. 1919.

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