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Leo Trotzki 19190429 Gedanken über den Gang der proletarischen Revolution (Auszug)

Leo Trotzki: Gedanken über den Gang der

proletarischen Revolution

(Unterwegs)

[„Iswestija WZIK" Nr. 90 und 92, 29. April und 1. Mai 1919. Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen Übersetzung]

I

Einst sagte die Kirche: „Licht aus dem Osten". In unserer Epoche begann die Revolution vom Osten. Sie zog von Russland nach Ungarn, von Ungarn nach Bayern und wird zweifellos in den Westen Europas weiter gehen. Dieser Gang der Ereignisse vollzieht sich weitverbreiteter pseudomarxistischer Vorurteile weiter Kreisen der Intelligenzia, und nicht nur der russischen, zum Trotz.

Die Revolution, die wir erleben, ist proletarisch, und das Proletariat ist in den alten kapitalistischen Ländern stärker, zahlreicher, organisierter, bewusster. Natürlich wäre es, sollte man meinen, wenn sich die Revolution in Europa auf dem gleichen Weg wie der Kapitalismus entwickeln würde: England ist das erstgeborene kapitalistische Land, gefolgt von Frankreich, dann Deutschland, Österreich und schließlich als letztes Russland.

Diese Vorstellung war, kann man sagen, der Ausgangsfehler des Menschewismus, die theoretische Grundlage für seinen weiteren Niedergang. Nach diesem „Marxismus", der an den kleinbürgerlichen Gesichtskreis angepasst ist, müssen alle europäischen Länder in einer unüberwindbaren Abfolge zwei Stadien durchlaufen: das feudal-leibeigenschaftliche und das bürgerlich-demokratische, um zum sozialistischen zu gelangen. Laut Dan und Potressow hatte Deutschland 1910 gerade erst die Durchführung seiner bürgerlich-demokratische Revolution in Angriff genommen, um auf ihrer Grundlage eine sozialistische Revolution vorzubereiten. Was eigentlich diese Herren unter „sozialistischer Revolution" verstanden, konnten sie nie erklären. Sie sahen jedoch keine Notwendigkeit für eine solche Erklärung, da die sozialistische Revolution für sie zur jenseitigen Welt gehörte. Kein Wunder, dass sie ihnen als … bolschewistischer Dummerjungenstreich erschien, als sie sie auf der historischen Straße trafen. Aus der Sicht dieses flachen historischen Gradualismus erschien schon die Idee ungeheuerlich, dass die russische Revolution, zum Sieg gekommen, das Proletariat an die Macht bringen würde; dass das siegreiche Proletariat, selbst wenn es wollte – und es wollte nicht –1 , nicht in der Lage sei, die Revolution im Rahmen der bürgerlichen Demokratie zu halten. Obwohl diese historische Prognose fast anderthalb Jahrzehnte vor der Oktoberrevolution von 1917 entwickelt wurde, betrachteten die Menschewiki die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, auf ihre eigene Weise aufrichtig, als Unfall und „Abenteuer". Auf die gleiche Weise aufrichtig betrachteten sie das Sowjetregime als Produkt der Rückständigkeit und Barbarei der russischen Verhältnisse. Der Mechanismus der bürgerlichen Demokratie erschien diesen selbstverliebten Ideologen des halb aufgeklärten Kleinbürgertums als höchster Ausdruck der menschlichen Zivilisation: die konstituierende Versammlung stellten sie den Sowjets entgegen auf die gleiche Weise, wie man ein Auto einem Bauernkarren entgegenstellen könnte.

Jedoch der weitere Gang der Ereignisse stand weiterhin im Widerspruch zu diesen „gesunden" gesellschaftlich notwendigen Vorurteilen des durchschnittlichen Langweilers. Zunächst einmal entstand in Deutschland, trotz der Existenz einer konstituierenden Versammlung, die sich mit all ihren demokratischen Gaben in Weimar versteckte, eine immer größer werdende Partei, die sofort die heroischsten Elemente des Proletariats aufnahm, eine Partei, die auf ihr Banner „die Macht den Sowjets" schrieb. Die schöpferische Arbeit von Scheidemanns konstituierenden Versammlung bemerkt niemand, niemand auf der Welt interessiert sich dafür. Die ganze Aufmerksamkeit nicht nur des deutschen Volkes, sondern der gesamten Menschheit richtet sich auf den gigantischen Kampf zwischen der herrschenden Clique der konstituierenden Versammlung und dem revolutionären Proletariat, das sich unmittelbar außerhalb des Rahmens der legalen konstitutionellen „Demokratie" befand.

In Ungarn und Bayern ist der Prozess bereits weiter gegangen: als Ersatz für die formale Demokratie, das verspätete Überbleibsel des gestrigen Tages, das zur Bremse für die Revolution des morgigen Tages geworden ist, wurde eine echte, reale Demokratie in Form der Herrschaft des siegreichen Proletariats geschaffen.

Aber wenn der Gang der Ereignisse überhaupt nicht dem Weg der kleinbürgerlichen Gradualisten folgt, die sich nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst lange Zeit als Marxisten ausgegeben haben, dann bedarf andererseits der Gang der revolutionären Entwicklung einer Erklärung. Tatsache ist, dass die Revolution begann und zum Sieg des Proletariats führte in den am wenigsten entwickelten der großen europäischen Länder, in Russland. Ungarn war zweifellos die rückständige Hälfte der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, die im Allgemeinen in Bezug auf die kapitalistische, wie auch die kulturell-politische Entwicklung zwischen Russland und Deutschland stand. Bayern, wo nach Ungarn die Sowjetmacht gegründet wurde, ist nicht ein fortgeschrittener, sondern im Gegenteil in Bezug auf die kapitalistischen Entwicklung ein rückständiger Teil Deutschlands. So begann die proletarische Revolution mit dem zurückgebliebensten Land Europas und ging dann von Schritt zu Schritt in Richtung der Länder mit der höchsten wirtschaftlichen Entwicklung.

Was erklärt dieses „Missverhältnis"?

Das älteste Land im kapitalistischen Europa und der Welt ist England. Indessen war England, besonders im letzten halben Jahrhundert, aus der Perspektive der proletarischen Revolution das konservativste Land. Konsequente Sozialreformer, d.h. diejenigen, die versuchten, die Enden zusammenzuführen, zogen die für sie notwendigen Schlüsse und argumentierten, dass es England sei, das den Weg der politischen Entwicklung für andere Länder vorzeichne, und dass in Zukunft das gesamte europäische Proletariat das Programm der sozialen Revolution aufgeben werde. Für Marxisten enthielt das „Missverhältnis" zwischen der kapitalistischen Entwicklung und der sozialistischen Bewegung Englands als Ergebnis der vorübergehenden Kombination historischer Gründe jedoch nichts Entmutigendes. Gerade das frühe Eintreten Englands auf den Weg der kapitalistischen Entwicklung und des Weltraubs schuf nicht nur für seine Bourgeoisie, sondern auch für einen Teil der Arbeiterklasse eine privilegierte Position. Die Insellage Englands befreite es von den unmittelbaren Härten des Landmilitarismus. Der mächtige Marinemilitarismus erforderte zwar enorme Ausgaben, stützte sich aber auf geringe Kader von Söldnern und erforderte nicht den Übergang zum allgemeinen Militärdienst. Die Bourgeoisie machte sich diese Bedingungen geschickt zunutze, indem sie die Oberen der Arbeiterklasse von den Unteren trennte, eine Aristokratie der „Qualifizierten" schuf und sie mit Kasten-Gewerkschaftertum durchtränkte. Flexibel bei all seinem Konservatismus, schuf der parlamentarische Mechanismus Großbritanniens, der fortwährende Kampf der beiden historischen Parteien, der Liberalen und Konservativen – ein Kampf, zeitweise äußerst angespannt in der Form, wenn auch ziemlich flach im Inhalt – immer zur richtigen Zeit ein künstliches politisches Ventil für die Unzufriedenheit der Arbeitermassen. Dies wurde vollendet mit der teuflischen Geschicklichkeit der herrschenden bürgerlichen Clique in Sachen manchmal sehr „verfeinerter" geistiger Bearbeitung und Bestechung von Führern der Arbeiterklasse. So verfügte die Bourgeoisie dank der frühen kapitalistischen Entwicklung Englands über solche Mittel, dass sie der proletarischen Revolution systematisch entgegenwirken konnte. Im Proletariat selbst, oder genauer gesagt in seiner Oberschicht, entwickelten sich dank der gleichen Bedingungen die gleichen hoch konservativen Tendenzen, die sich im Verlauf der Jahrzehnte zeigten, die dem Weltkrieg vorausgingen … Wenn der Marxismus lehrt, dass Klassenverhältnisse im Produktionsprozess gebildet werden und dem bekannten Zustand der Produktionskräfte entsprechen; dass alle Formen der Ideologie und der hauptsächlich des Politik Klassenverhältnissen entsprechen, bedeutet das nicht, dass es einfache mechanische Beziehungen zwischen Politik, Klassengruppen und Produktion gibt, die nach den vier Grundrechenarten gemessen werden. Im Gegenteil ist die Beziehung äußerst komplex. Dialektisch den Gang der Entwicklung eines Landes, einschließlich seiner revolutionären Entwicklung, zu interpretieren, ist nur durch das Zusammenspiel aller materiellen und Überbau-Faktoren, national und weltweit, möglich und nicht auf dem Wege äußerlicher Vergleiche und formaler Analogien.

England vollbrachte seine bürgerliche Revolution im 17. Jahrhundert und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts. Auf dem europäischen Kontinent ist Frankreich seit langem das vorderste und „kulturellste" Land. Die französischen Sozialpatrioten glaubten noch zu Beginn dieses Krieges aufrichtig, dass sich das ganze Schicksal der Menschheit um Paris drehe. Aber auch hier, gerade wegen seiner frühen bürgerlichen Zivilisation hat Frankreich in seinem Kapitalismus mächtige konservative Tendenzen entwickelt. Das langsame, organische Wachstum des Kapitalismus zerstörte das französische Handwerk nicht mechanisch, sondern zog es mit sich, verlagerte es nur auf andere Positionen und gab ihm eine zunehmend untergeordnete Rolle. Der Verkauf des feudalen Landes an die Bauern durch die Revolution mit dem Auktionshammer schuf ein extrem zähes, hartnäckiges, beharrliches kleinbürgerliches französisches Dorf. Bürgerlich in ihren letztlichen Zielen und Ergebnissen, war die Große Französische Revolution des XVIII. Jahrhunderts zur gleichen Zeit tief national in dem Sinne, dass sie die Mehrheit der Nation und vor allem ihre schöpferischen Klassen zusammenführte. Diese Revolution verband für fünf Vierteljahrhunderte durch gemeinsame Erinnerungen und Traditionen einen bedeutenden Teils der französischen Arbeiterklasse mit den linken Elementen der bürgerlichen Demokratie. Jaurès war der größte und letzte Vertreter dieser konservativen ideologischen Verbindung. Unter diesen Bedingungen konnte die politische Atmosphäre Frankreichs nicht anders als breite, vor allem halb handwerkliche Schichten des französischen Proletariats mit kleinbürgerlichen Illusionen zu infizieren. Auf der anderen Seite machte die reiche revolutionäre Vergangenheit das französische Proletariat geneigt auf den Barrikaden mit der Bourgeoisie abzurechnen. Der theoretisch unklare, aber praktisch extrem angespannte Charakter des Klassenkampfes ließ die französische Bourgeoisie auf der Hut sein und zwang sie frühzeitig zum Export von Finanzkapital. Auf der einen Seite verführte die französische Bourgeoisie die Volksmassen, unter ihnen auch Arbeiter, mit einem dramatischen Spiel antidynastischer, antiklerikaler, republikanischer, radikaler und anderer Tendenzen, auf der anderen Seite nutzte sie den Vorteil ihrer frühen Entstehung und die Stellung als Weltwucherer, um in Frankreich selbst das Wachstum neuer, revolutionärer Formen des Industrialismus aufzuhalten. Nur eine Analyse der wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der Entwicklung Frankreichs, nicht nur der nationalen, sondern auch der Weltbedingungen, kann erklären, warum das Proletariat Frankreichs nach dem heroischen Ausbruch der Pariser Kommune zersplittert zwischen Gruppen und Sekten, auf dem einen Flügel anarchistisch und auf dem anderen Flügel possibilistisch, zu offenem revolutionären Klassenhandeln, direktem Kampf um die Staatsmacht nicht in der Lage war.

Für Deutschland begann die Zeit mächtiger kapitalistischer Blüte nach den siegreichen Kriegen von 1864-66-71. Der Boden der nationalen Einheit, bewässert durch den goldenen Regen französischer Milliarden, wurde zum Boden der glänzenden Gründerzeit, endloser Spekulationen2, aber auch beispielloser technischer Entwicklungen. Im Gegensatz zur französischen wuchs die Arbeiterklasse Deutschlands außerordentlich schnell, und der größte Teil ihrer Energie wurde genutzt, um ihre eigenen Reihen zu sammeln, zu vereinen und zu organisieren. In ihrem unaufhaltsamen Aufstieg war die Arbeiterklasse Deutschlands sehr zufrieden damit, ihre automatisch wachsende Stärke in Bulletins über Parlamentswahlen oder in Kassenberichten der Gewerkschaften zu zählen. Deutschlands siegreiche Konkurrenz auf dem Weltmarkt schuf ebenso günstige Bedingungen für das Wachstum letzterer wie für die unbestreitbare Verbesserung der Stellung eines Teils der Arbeiterklasse. Unter diesen Umständen wurde die deutsche Sozialdemokratie eine lebendige – und dann zunehmend tote – Verkörperung des Organisationsfetischismus. Verwurzelt in Nationalstaat und nationaler Industrie, angepasst an die Komplexität und Vertracktheit der deutschen gesellschaftlich-politischen Beziehungen, die eine Kombination aus modernem Kapitalismus und mittelalterlicher Barbarei darstellten, wurde die deutsche Sozialdemokratie zusammen mit den von ihr geführten Gewerkschaften schließlich zur konterrevolutionärsten Kraft in der europäischen politischen Entwicklung. Auf die Gefahr einer solchen Degeneration der deutschen Sozialdemokratie wiesen Marxisten seit langem hin, obwohl man zugeben muss, dass niemand vorausgesehen hatte, dass der Prozess schließlich einen solchen katastrophalen Charakter annehmen werde. Erst nachdem es das tote Gewicht der alten Partei von sich abgeworfen hat, hat sich das fortgeschrittene deutsche Proletariat auf dem Weg des offenen Kampfes um die politische Macht begeben. […]

II

Die kapitalistische Produktion in ihrer „natürlichen" Entwicklung ist erweiterte Produktion. Die Technik steigt an, die Menge der materiellen Güter steigt an, und die Masse der Bevölkerung proletarisiert sich. Die Ausweitung der kapitalistischen Produktion vertieft die kapitalistischen Widersprüche. Das Proletariat wächst in seiner Zahl und macht einen wachsenden Teil der Bevölkerung des Landes aus, organisiert sich und schult sich – und bildet auf diese Weise eine immer größer werdende Kraft. Das bedeutet aber nicht, dass sein Klassenfeind, die Bourgeoisie, auf der Stelle tritt. Im Gegenteil, die expandierende kapitalistische Produktion impliziert das gleichzeitige Wachstum der wirtschaftlichen und politischen Macht der Großbourgeoisie. In ihren Händen sammelt sie nicht nur kolossalen Reichtum an, sondern konzentriert auch den staatlichen Regierungsapparat, den sie mit immer zunehmender Kunst zunehmend ihren Zielen unterordnet, indem sie gnadenlose Wildheit mit demokratischem Opportunismus abwechselt. Das imperialistische Kapital versöhnt sich mit den Formen der Demokratie umso leichter, je brutaler und unwiderstehlicher die wirtschaftliche Abhängigkeit kleinbürgerlicher Bevölkerungsschichten vom Großkapital wird: aus dieser wirtschaftlichen Abhängigkeit zieht die Bourgeoisie auf dem Wege des allgemeinen Wahlrecht die politische Abhängigkeit.

Das mechanische Konzept der sozialen Revolution reduziert den historischen Prozess auf eine kontinuierliche Zunahme der Zahl des Proletariats und auf die Zunahme seiner organisatorischen Macht bis zu dem Moment, in dem das die „überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Landes" ausmachende Proletariat den Mechanismus der bürgerlichen Wirtschaft und des Staates ohne Kampf oder fast ohne Kampf als reife Frucht in die Hand nimmt. In der Tat geht die zunehmende Produktionsrolle des Proletariats Hand in Hand mit der zunehmenden wirtschaftlichen Macht der Bourgeoisie. Der organisatorische Zusammenhalt und die politische Schulung des Proletariats ermutigen die Bourgeoisie ihrerseits, den Herrschaftsapparat zu verbessern und neue Schichten der Bevölkerung gegen das Proletariat aufzubringen, einschließlich der so genannten neuen Mittelschicht3, d.h. der professionellen Intelligenz, die in der Mechanik der kapitalistischen Wirtschaft eine ansehnliche Rolle spielt. Beide Feinde werden parallel stärker.

Je kapitalistisch mächtiger ein Land ist, desto größer wird – wenn alle anderen Dinge gleich sind – die Trägheit der „friedlichen" Klassenbeziehungen, desto stärker muss der Stoß sein, um beide feindlichen Klassen – Proletariat und Bourgeoisie – aus einem Zustand des relativen Gleichgewichts herauszulösen und den Klassenkampf in einen offenen Bürgerkrieg zu verwandeln. Einmal angefacht, wird der Bürgerkrieg – wenn alle Dinge gleich sind – um so erbitterter und anhaltender sein, je höher das kapitalistische Entwicklungsniveau des Landes ist, je stärker und organisierter die beiden Feinde sind, je mehr materielle und ideologische Ressourcen sie haben.

Die in der Zweiten Internationale vorherrschenden Vorstellungen über die proletarische Revolution überschritten im Wesentlichen nicht den Rahmen des selbstgenügsamen nationalen Kapitalismus. England, Deutschland, Frankreich und Russland wurden als unabhängige Welten betrachtet, die sich auf der gleichen Bahn zum Sozialismus bewegten und sich in verschiedenen Etappen auf diesem Weg befanden. Die Stunde der Ankunft des Sozialismus schlage, wenn der Kapitalismus seine höchste Reife erreicht habe und somit die Bourgeoisie zwinge, ihren Platz an das Proletariat als Erbauer des Sozialismus abzutreten. Die national begrenzte Sichtweise der kapitalistischen Entwicklung ist die theoretische und psychologische Grundlage des Sozialpatriotismus: Die Sozialisten jedes Landes sehen sich verpflichtet, den Nationalstaat als natürliche, selbstgenügsame Grundlage für die sozialistische Entwicklung zu schützen.

Aber diese Sichtweise ist an der Wurzel falsch und zutiefst reaktionär. Indem sie weltweit wurde, zerriss die kapitalistische Entwicklung die Fäden, die in der vergangenen Epoche das Schicksal der sozialen Revolution mit dem Schicksal dieses oder jenes entwickelteren kapitalistischen Landes verbanden. Je mehr der Kapitalismus die Länder der ganzen Welt zu einem verwickelten Organismus verband, desto mehr wurde die soziale Revolution, nicht nur im Sinne ihrer gemeinsamen Schicksale, sondern auch im Sinne des Augenblicks ihrer Entstehung, abhängig von der Entwicklung des Imperialismus als Weltfaktor und vor allem von den militärischen Auseinandersetzungen, die er verursachen musste und die wiederum das Gleichgewicht der kapitalistischen Ordnung an der Wurzel erschüttern mussten.

Der große Imperialistische Krieg war das schreckliche Werkzeug, mit dem die Geschichte die „organische", „evolutionäre" und „friedliche" Natur der kapitalistischen Entwicklung verletzte. Erwachsen aus der kapitalistischen Entwicklung in ihrer Gesamtheit und gleichzeitig vor dem nationalen Bewusstsein jedes einzelnen kapitalistischen Landes als externem Faktor erscheinend, lässt der Imperialismus den Niveauunterschied verschwinden, der in der Entwicklung einzelner kapitalistischer Länder erreicht wurde. Sie waren alle gleichzeitig an der imperialistischen Kriegsführung* beteiligt; ihre Produktionsgrundlagen, ihre Klassenbeziehungen erwiesen sich gleichzeitig als erschüttert. Unter dieser Bedingung wurden als erste die Länder aus dem instabilen kapitalistischen Gleichgewicht geworfen, bei denen die innere soziale Trägheit4 schwächer war, d.h. die Länder mit einer jüngeren kapitalistischen Entwicklung.

Hier drängt sich die Analogie zwischen der Entstehung des imperialistischen Krieges und dem Bürgerkrieg auf. Zwei Jahre vor dem großen Weltmassaker brach der Balkankrieg aus. Grundlegend ein und dieselben Kräfte und Tendenzen wirkten sowohl auf dem Balkan als auch im übrigen Europa. Diese Kräfte führten beharrlich die kapitalistische Menschheit in eine blutige Katastrophe. Aber auch in den großen imperialistischen Ländern gab es gleichfalls eine starke Trägheit des Widerstands, sowohl in den inneren als auch in den internationalen Beziehungen. Es erwies sich für den Imperialismus als einfacher, den Balkan in den Krieg zu treiben, gerade weil es kleinere, schwächere Staaten mit geringerem kapitalistischem und kulturellem Entwicklungsniveau waren – deshalb mit weniger Trägheit der „friedlichen" Entwicklung.

Entstanden infolge der unterirdischen Erschütterungen5 nicht des Balkans, sondern des europäischen Imperialismus als direkter Vorläufer der Weltgemetzels, erhielt der Balkankrieg dennoch für eine gewisse Periode selbständige Bedeutung. Sein Verlauf und sein unmittelbares Ergebnis waren von den Ressourcen und Kräften abhängig, die auf der Balkanhalbinsel selbst existierten. Daher die relativ kurze Dauer des Balkankrieges. Um ein Messen der nationalen kapitalistischen Kräfte auf der armen Halbinsel zu erreichen, reichten einige Monate aus. Früher entstanden, erreichte der Balkankrieg eine Lösung viel einfacher.

Der Weltkrieg brach später aus, gerade weil jeder der Feinde mit Furcht in die Tiefe des Abgrunds schaute, in den er vom ungezügelten Klasseninteresse gezogen wurde. Die ungewöhnlich vergrößerte Macht Deutschlands, im Gegensatz zur alten Macht Großbritanniens, war bekanntlich die historische Sprungfeder des Krieges, aber die gleiche Macht hielt die Feinde lange Zeit vom Bruch ab. Und als der Krieg ausbrach, führte die Macht beider Lager zu ihrem langen und heftigen Charakter.

Der imperialistische Krieg seinerseits stieß das Proletariat auf den Weg des Bürgerkriegs. Und hier beobachten wir eine analoge Reihenfolge: Die Länder der jüngeren kapitalistischen Kultur betraten als erste den Weg des Bürgerkriegs, denn gerade in diesen Ländern wurde das instabile Gleichgewicht der Klassenkräfte leichter gestört.

Das sind die allgemeinen Gründe für die auf den ersten Blick unerklärliche Erscheinung, dass sich im Gegensatz zur Richtung des Kapitalismus von West nach Ost die proletarische Revolution von Ost nach West entwickelt. Aber da wir einen sehr verwickelten Prozess vor uns haben, ist es natürlich, dass es neben den genannten Hauptgründen viele zweitrangige gibt, von denen einige die Wirkungen der Hauptfaktoren verstärken und zuspitzen, andere sie schwächen.

Bei der Entwicklung des russischen Kapitalismus spielte das europäische Finanz- und Industriekapital eine führende Rolle, im Einzelnen und Besonderen das französische. Es wurde bereits erwähnt, dass die französische Bourgeoisie bei der Entwicklung ihres Wucherimperialismus nicht nur von wirtschaftlichen, sondern auch von politischen Erwägungen geleitet wurde: Aus Angst vor dem Wachstum der Zahl und Stärke des französischen Proletariats zog es die französische Bourgeoisie vor, ihr Kapital zu exportieren und Profite aus russischen Industrieunternehmen zu ziehen – die Aufgabe, die russischen Arbeiter zu bändigen, fiel dem russischen Zaren zu. In dieser Form beruhte die Wirtschaftskraft der französischen Bourgeoisie direkt auch auf der Arbeit des russischen Proletariats. Dies schuf das bekanntes Plus an Kraft auf der Seite der französischen Bourgeoisie in ihren Beziehungen zum französischen Proletariat und führte umgekehrt zu der bekannten zusätzlichen gesellschaftlichen Kraft auf der Seite des russischen Proletariats in ihren Beziehungen zur russischen (aber nicht zur Welt-)Bourgeoisie. Das gerade Gesagte bezieht sich im Wesentlichen auf alle alten kapitalistischen Länder, die Kapital exportieren. Die soziale Macht der englischen Bourgeoisie beruht nicht nur auf der Ausbeutung des englischen Proletariats, sondern auch der Werktätigen in den Kolonien. Dies macht die Bourgeoisie nicht nur reicher und sozial mächtiger, sondern gibt ihr auch die Möglichkeit zu einem breiteren politischen Manövrieren, auf dem Wege ziemlich weit reichender Zugeständnisse an das Proletariat wie auch mittels Druck auf ihr nationales6 Proletariat anhand der Kolonien (Einfuhr von Rohstoffen und Arbeitskräften, Verlagerung von Industrieunternehmen in die Kolonien, Kolonialtruppen usw. usf.).

Angesichts dieser Beziehungen war unsere Oktoberrevolution ein Aufstand nicht nur gegen die russische Bourgeoisie, sondern auch gegen das englische und französische Kapital, und dabei nicht im allgemeinen historischen Sinne – als Beginn der europäischen Revolution –, sondern im direktesten und unmittelbarsten Sinne. Durch die Enteignung der Kapitalisten und die Weigerung, die Staatsschulden zurückzuzahlen, versetzte das russische Proletariat damit der sozialen Macht der europäischen Bourgeoisie einen schweren Schlag. Dies allein erklärt ausreichend die Unvermeidlichkeit einer konterrevolutionären Intervention der Imperialisten der Entente. Auf der anderen Seite wurde die Intervention gerade deshalb möglich, weil es sich zeigte, dass das russische Proletariat von der Geschichte in die Lage versetzt war, seine eigene Revolution zu machen, bevor sie von seinen älteren, mächtigeren, europäischen Brüdern gemacht werden konnte. Daher die größten Schwierigkeiten, die das an die Macht gekommene russische Proletariat zu überwinden hatte.

Sozialdemokratische Philister versuchten, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass man im Oktober nicht auf die Straße hätte gehen dürfen. Zweifellos wäre es für uns viel „ökonomischer" gewesen, unsere Revolution nach der englischen, französischen und deutschen Revolution zu beginnen. Aber erstens lässt die Geschichte in dieser Hinsicht der revolutionären Klasse keine Willensfreiheit, und noch hat niemand bewiesen, dass für das russische Proletariat ein ökonomischer Charakter der Revolution gesichert gewesen ist. Zweitens muss die Frage der revolutionären „Ökonomie" der Kräfte selbst nicht im nationalen, sondern im Weltmaßstab betrachtet werden. Es erwies sich, dass die Initiative zur Revolution, wie wir oben gesehen haben, nicht beim alten Proletariat mit mächtigen politischen und Gewerkschaftsorganisationen, mit schwerfälligen Traditionen von Parlamentarismus und Trade-Unionismus lag, sondern beim jungen Proletariat eines rückständigen Landes. Die Geschichte ging entlang der Linie des geringsten Widerstandes. Die revolutionäre Epoche drang durch die am wenigsten verbarrikadierte Tür. Die außerordentlichen, wirklich übermenschlichen Schwierigkeiten, die dabei über das russische Proletariat hereinbrachen, bereiteten vor, beschleunigten und erleichterten bis zu einem gewissen Grad die revolutionäre Arbeit des westeuropäischen Proletariats, die noch vor uns liegt.

An unserer Analyse ist nichts „messianisch"7. Das revolutionäre „Erstgeburtsrecht“ des russischen Proletariats ist nur vorübergehend. Je mächtiger der opportunistische Konservatismus der Oberschicht des deutschen, französischen oder englischen Proletariats ist, desto größer wird die Kraft des revolutionären Ansturms sein, den das Proletariat dieser Länder entwickeln wird, den es bereits in Deutschland entwickelt. Die Diktatur der russischen Arbeiterklasse wird sich erst in dem Moment endgültig festigen und zu einem echten allseitigen sozialistischen Aufbau entwickeln können, wenn die europäische Arbeiterklasse uns von dem wirtschaftlichen und insbesondere militärischen Druck8 der europäischen Bourgeoisie befreit und uns nach deren Sturz mit ihrer Organisation und ihren Technik9 zu Hilfe kommt. Gleichzeitig wird die revolutionäre Führungsrolle auf die Arbeiterklasse mit der höheren wirtschaftlicher und organisatorischer Macht übergehen. Wenn heute das Zentrum der Dritten Internationale Moskau ist, dann – wir sind davon zutiefst überzeugt – wird sich dieses Zentrum morgen nach Westen verlagern: nach Berlin, Paris, London. So freudig das russische Proletariat die Vertreter der Weltarbeiterklasse in den Mauern des Kremls empfangen hat, wird es seine Vertreter mit noch größerer Freude zum zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale in eines der westeuropäischen Zentren schicken. Denn ein internationaler kommunistischer Kongress in Berlin oder Paris bedeutet den vollständigen Triumph der proletarischen Revolution in Europa und damit in der ganzen Welt.

1Der Einschub fehlt in der englischen Übersetzung

2 In der englischen Übersetzung statt „der glänzenden Gründerzeit, endloser Spekulationen“ „der glänzenden Herrschaft endloser Spekulationen“

3In der englischen Übersetzung: „des sogenannten neuen dritten Stands“

* Thesen für eine Kautskyanische Dissertation: Russland griff „vorzeitig" in den imperialistischen Krieg ein. Ihm „gebührte es", beiseite zu stehen und seine Produktivkräfte auf der Grundlage des nationalen Kapitalismus zu entwickeln. Dies hätte es ermöglicht, dass die sozialen Beziehungen für die soziale Revolution „reifen". Das Proletariat hätte im Rahmen der Demokratie zur Herrschaft kommen können. Und so weiter und so fort.

Kautsky war zu Beginn der Revolution Kommissar unter dem Hohenzollernschen Minister für Auswärtige Angelegenheiten. Es ist schade, dass Kautsky kein Kommissar unter dem Herrgott war, als dieser den Weg der kapitalistischen Entwicklung vorherbestimmte!

4In der englischen Übersetzung: „Energie“

5In der englischen Übersetzung: „Erdbeben“

6In der englischen Übersetzung: „einheimisches“

7In der englischen Übersetzung: „nicht ein Atom ,Messianismus'“

8In der englischen Übersetzung: „Joch“

9In der englischen Übersetzung: „Technologie“

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