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Leo Trotzki 19280227 Ein Brief an Freunde

Leo Trotzki: Ein Brief an Freunde

[Trotzki nummerierte diesen Artikel als „Rundbrief Nr. 3". Nach einer Kopie, die im Trotzki-Archiv der Harvard Universität aufbewahrt wird, bMs Russ 13 Т-1161 — /И-R/. Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung]

Ich werde Sie kurz über alle Vorfälle seit unserer Abreise aus Moskau informieren. Über die Abreise wissen Sie wahrscheinlich schon Bescheid. Wir verließen den Kasaner Bahnhof mit einem Sonderzug (eine Lokomotive und ein Wagen für uns) und holten einen Schnellzug ein, der insgesamt anderthalb Stunden aufgehalten wurde. Unser Wagen wurde 47 Werst von Moskau entfernt an den frühen Zug angehängt. Hier verabschiedeten wir uns von Frenja Wiktorowna Beloborodowa und Serjoscha (dem jüngsten Sohn), die uns begleitet hatten. Im Wagen fanden wir uns völlig ohne alles wieder. Als Ergebnis endloser Telegramme wurden uns unsere ganze Habe gesandt. Unsere Habe hat uns erst am siebten oder achten Tag, schon in Pischpek (Frunse), eingeholt. Wegen Schneewehen sind wir so lange gefahren. Von Pischpek fuhren wir in einem Lastwagen. Auf dem Weg war es ziemlich kalt. Über den Kurdaiski-Pass fuhren wir mit Fuhrwerken, das sind ungefähr dreißig Werst. Dann wieder mit einem Auto, das uns aus Alma-Ata entgegengeschickt wurde. Die Habe folgte in einem Lastwagen, und die Begleitung schaffte es, zwei Koffer mit den wichtigsten Dingen zu verlieren: Meine Bücher über China, Indien und anderes gingen verloren. Wir kamen in der Nacht des 25. Januar in Alma-Ata an und man brachte uns in ein Hotel. Mein Gewissen zwingt mich zuzugeben, dass es keine Wanzen gab. Im Allgemeinen war das Leben im Hotel sehr abscheulich (ich sage dies, weil „Selbstkritik" jetzt offiziell als notwendig anerkannt wird). Angesichts des bevorstehenden Umzugs der kasachischen Regierung im April sind alle Wohnungen hier registriert. Es begann, was höflich als Bürokratie bezeichnet wird. Aufgrund der Telegramme, die von mir an Moskaus höchste Adressen geschickt wurden, erhielten wir nach einem dreiwöchigen Aufenthalt im Hotel endlich ein Quartier. Ich musste Möbel kaufen, die zerstörte Herdplatte reparieren und Bauarbeiten verrichten, wenn auch nicht nach Plan. Der Bau ist bis heute nicht abgeschlossen, denn die rechtschaffene sowjetische Herdplatte will nicht warm werden. Schon auf dem Weg nahm das Fieber wieder zu, das von Zeit zu Zeit wieder aufflammte. Im Allgemeinen fühle ich mich ziemlich zufriedenstellend.

Als der Brief der beiden unglückseligen Musketiere in der Zeitung erschien, erinnerte ich mich wieder an die prophetischen Worte Sergejs: „Bilden wir weder mit Josef noch mit Grigori einen Block – Josef wird betrügen, und Grigori wird weglaufen." Grigori ist wirklich weggelaufen. Dennoch hat sich der Block insofern gerechtfertigt, als er ein Block der fortgeschrittenen Moskauer und St. Petersburger Arbeiter war. Die armen Musketiere erwarteten anscheinend, dass sie nach ihrem erbärmlichen und dummen Brief verschont würden. Es war nicht so: die Prawda veröffentlicht freundlicherweise Maslows Zurechtweisung, die nicht auf die Augenbraue, sondern ins Auge trifft. Bei vielen anderen großen Nachteilen gibt es zumindest das Plus, dass die imaginären Größen aus dem Spiel kommen, man muss denken: für immer.

Ich befasse mich hier viel mit Asien: Geographie, Wirtschaft, Geschichte und so weiter. Ich bekomme nur zwei Zeitungen: Prawda und Ekonomitscheskaja Schisn. Ich lese sie mit Sorgfalt. Ausländische Zeitungen vermisse ich schrecklich. Ich habe schon etwas geschrieben mit der Bitte um Zusendung von wenn auch nicht ganz frischen Zeitungen. Der Post trifft hier überhaupt mit großer Verspätung und extrem unregelmäßig ein. Zuerst gab es Schneeverwehungen. Dann stellte sich heraus, dass die Pferdepost zwischen Pischpek und Alma-Ata nicht richtig eingerichtet war. Die lokale Zeitung ist die „Dschejsujskaja Iskra" (erscheint dreimal wöchentlich). Sie verspricht, dass die Poststörungen „überwunden" werden, wenn sie Verhandlungen mit einem neuen Auftragnehmer beginnen. Mit einem Wort: „es wird besser".

Extreme Aufmerksamkeit ziehen die Ereignisse in Indien auf sich. Die wirtschaftliche Grundlage für sie ist offenbar eine tiefe Krise der indischen Industrie, die während der Zeit des imperialistischen Krieges rasch anstieg und sich nun unter dem Ansturm fremder, insbesondere japanischer Waren zurückziehen muss. Dies gibt der national-revolutionären Bewegung einen großen Spielraum. Die Rolle der indischen Kommunistischen Partei ist äußerst unklar. Die Zeitungen brachten Telegramme über Aktivitäten von „Arbeiter- und Bauernparteien" in verschiedenen Provinzen. Schon der Name verursacht legitime Besorgnis. Schließlich wurde die Kuomintang seinerzeit zur Arbeiter- und Bauernpartei erklärt. Das alles konnte sich nur als Wiederholung der Vergangenheit erweisen.

Der anglo-amerikanische Antagonismus brach schließlich ernsthaft aus. Jetzt ist dies der Hauptfaktor der Weltlage und Weltpolitik. Unsere Zeitungen vereinfachen die Frage jedoch sehr, wenn sie die Angelegenheit so darstellen, als würde der anglo-amerikanische Antagonismus, der sich ständig verschärft, direkt zum Krieg führen. Es besteht kein Zweifel, dass es in diesem Prozess noch mehrere scharfe Umbrüche geben wird. Für beide Partner wäre ein Krieg zu gefährlich. Sie werden immer noch mehr als eine Anstrengung für eine Vereinbarung und Befriedung machen. Aber im Allgemeinen macht die Entwicklung riesige Schritte zu einer blutigen Auflösung.

Ich übersetze jetzt für das Marx-Engels-Institut Marx' Buch „Herr Vogt". Um ein rundes Dutzend von Vogts verleumderischen Aussagen zu widerlegen, schrieb Marx eine Broschüre von fast zweihundert Seiten in kleiner Schrift, sammelte Dokumente, Zeugenaussagen, analysierte direkte und indirekte Beweise ... Was wäre, wenn wir anfangen würden, die Verleumdungen im selben Maßstab zu widerlegen? Man müsste ein tausendbändige Enzyklopädie veröffentlichen. Es wurde kürzlich verkündet: sie sind zerschlagen, besiegt, genug der Polemik, gehen wir direkt zum praktischen Aufbau über, und stattdessen wurde ein neues Kapitel der Polemik eröffnet, und dieses Mal, um das alte Repertoire nicht zu wiederholen, muss man gegen die Anzahl meiner Koffer und Kisten (wobei man sie um der Schönheit der Worte willen dreifach übertrieb) und gegen meine Jagdhündin polemisieren. Meine liebe Maja vermutet nicht einmal, dass sie in der großer Politik war.

Übrigens, über die Jagd. Ich ging hierher mit einer etwas übertriebenen Vorstellung vom Reichtum an Jagdwild. In den letzten Jahren wurde es gnadenlos ausgerottet. Natürlich ist das Jagdwild zahlreich, aber jetzt muss man Dutzende von Meilen gehen. Ich bin noch nie auf die Jagd gegangen. Ljowa reiste einmal 25 Werst, aber ohne Erfolg (allerdings hatten sie die Morgendämmerung verschlafen). In acht bis zehn Tagen sollte hier der Frühjahrsvogelzug beginnen. Dann gehe ich zum Ili-Fluss, der in den Balkasch-See mündet (bitte vergessen Sie nicht, dass ich fast in China lebe): Man sagt, dort gebe es viel Flugwild. Balkasch selbst hat Schneeleoparden und sogar Tiger. Ich beabsichtige, mit letzteren einen Nichtangriffspakt zu schließen.

Ich habe bereits die Langsamkeit der Postkommunikation erwähnt. Muralow schrieb am 24. Januar einen Brief (er telegrafierte mir darüber). Heute ist der 27. Februar, und ich habe noch immer keine Briefe von Nikolai Iwanowitsch erhalten. Es gelang mir, Telegramme mit all meinen Freunden auszutauschen, nur von Serebrjakow erhielt ich keine Antwort. Briefe habe ich von niemandem erhalten, außer der Postkarte, die von Sibirjakow von unterwegs geschickt wurde.

Unsere Wohnung befindet sich im Zentrum der Stadt, das heißt, in seinem sehr schlechten Teil. Wir ziehen ab Mai oder April in die sogenannten Gärten – sie sind höher, in den Bergen und das Klima dort ist unvergleichlich gesünder. Das Wetter hier ist bereits Frühling, fast der ganze Schnee ist geschmolzen (es gab ungewöhnlich viele davon in diesem Jahr).

27. Februar 1928

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