Leo Trotzki‎ > ‎1936‎ > ‎

Leo Trotzki 19360403 Brief an einen englischen Genossen

Leo Trotzki: Brief an einen englischen Genossen

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der IKD, 4. Jahrgang 1936, Nr. 9, Anfang Mai 1936 (Nr. 73), S. 3]

[Im „New Leader“, dem Organ der englischen ILP wurde kurz vor der Jahreskonferenz dieser Partei ein antitrotzkistischer Artikel veröffentlicht, mit dem sich der folgende Brief Leo Trotzkis auseinandersetzt. Die antitrotzkistische Kampagne des „New Leader“ hat ihre bestimmten Ursachen und ihren bestimmten Zweck. Der Gedanke der Vierten Internationale hat unter den Mitgliedern der ILP Fuß gefasst und befindet sich innerhalb der Partei im Vordringen. So ist es denn leicht erklärlich, warum kurz vor der Parteikonferenz das Zentralorgan der ILP sich genötigt fühlte, sich gegen den Trotzkismus und gegen die Vierte Internationale zu wenden und das Londoner Büro zu verteidigen. Diese Verteidigung ist jedoch weniger eine politische Auseinandersetzung als vielmehr ein Beschwichtigungsversuch gegenüber der ILP-Mitgliedschaft, der die ganze Hoffnungslosigkeit des „Londoner Büros“ nicht verborgen bleiben kann.

Red.]

Werter Genosse,

Der Artikel im „New Leader" vom 20. März d.J. gegen mich ist scharf, aber unrichtig. Die Schärfe ist gut. Man muss immer begrüßen, wenn ein Revolutionär seine Ideen mit Schärfe und Präzision verteidigt. Leider vermisse ich, trotz aller Schärfe, die nötige Präzision.

Der polemische Artikel stellt sich zur Aufgabe, das „Internationale Büro für revolutionär-sozialistische Einheit" gegen mich in Schutz zu nehmen. Meine Kritik der an das Büro angegliederten Parteien sei vollkommen falsch. Diese gehen gar nicht auseinander, sondern erweisen sich im Gegenteil als immer einheitlicher in der internationalen Aktion.

Versuchen wir, diese Behauptungen kurz nachzuprüfen. Was mich anbetrifft, so kenne ich nur eine einzige gemeinsame internationale Aktion der Parteien des Londoner Büros. Das ist die Schaffung des „Weltkomitees für den Frieden". Das von der SAP vorgeschlagene Programm dieses Komitees habe ich seinerzeit eingehend auf Grund dieses Dokumentes kritisiert und, wie mir scheint, mit vollem Recht als den Ausdruck des flachsten kleinbürgerlichen Pazifismus gebrandmarkt. Niemand, auch nicht die Führer der SAP, hat jemals auf diese Kritik eine prinzipielle und sachliche Antwort gegeben. Meine Charakteristik bleibt somit bestehen. Die Parteien. die sich In der Frage des Krieges auf den pazifistischen Boden stellen, können von einem Marxisten nicht als revolutionär-proletarische Parteien angesehen werden. Maxton zum Beispiel ist Pazifist und nicht Marxist. Seine Politik im Kriege kann vielleicht Vieles zur Rettung seiner Seele beitragen, kaum aber zur Befreiung der Arbeiterklasse.

Das oben erwähnte Komité war aus drei Personen zusammengesetzt: dem Deutschen Schwab, dem Franzosen Doriot (!) und dem Spanier Gorkin. Seither ist Doriot, der Gastgeber der letzten Konferenz der sogenannten revolutionär-sozialistischen Parteien, mit seiner Clique zur Reaktion übergegangen. Gorkin kandidierte in Spanien mit einem miserablen, demokratisch-pazifistischen Programm der Volksfront. Und das dritte Mitglied Schwab hat bis jetzt noch nicht erklärt, dass das „Komité für den Frieden" ein antirevolutionäres Unterfangen war und dass das von ihm (Schwab) vorgelegte Programm des „Kampfes für den Frieden" in jedem Satz und in jedem Wort der gesamten Lehre Marx' und Lenins spottet. (Es gibt, nebenbei bemerkt, noch immer einige lammfromme Leute, die glauben, durch endlose ganz abstrakte Diskussionen „die Minderheit in der SAP noch überzeugen" zu können. Wir glauben schon, dass Schwab und einige andere Leitungsmitglieder mit Ihren reaktionären Ideen in der Minderheit sind. – aber dass man diese Minderheit durch gutes Zureden gewinnt, nein, wahrhaftig, so naiv sind wir nicht um das zu glauben.)

So steht es einstweilen mit der wachsenden Befähigung des Londoner Büros für die „vereinte internationale Aktion" (united international action").

Ich habe nie die kleinen Organisationen nur deswegen gering eingeschätzt, weil sie klein sind. Auch hier verdreht der „New Leader“ das marxistische Kriterium. Die Massenorganisationen haben Wert eben als Massenorganisationen. Auch wenn sie unter patriotisch-reformistischer Führung stehen, kann man sie nicht umgehen. Man muss die von ihnen erfassten Massen gewinnen: von draußen oder von drinnen: das hängt von den Umständen ab.

Kleine Organisationen, die sich als Auslese betrachten, als Pioniere, können nur vermöge ihres Programms, der Schulung und Stählung ihrer Kader Wert haben. Eine kleine Organisation, die kein einheitliches Programm und keinen wirklich revolutionären Willen hat. ist weniger als nichts, ist eine negative Größe. In diesem Sinne habe ich ganz geringschätzig von den kleinen Gruppen in Bulgarien. Rumänien und Polen gesprochen: Ihre Konfusion ist wahrhaftig zu groß für Ihren kleinen Umfang. Der revolutionären Bewegung können sie nur Schaden zufügen. Auch die kleinsten unserer Gruppen sind hingegen wertvoll, weil sie wissen, was sie wollen und weil sie auf die große revolutionäre Tradition des Bolschewismus zurückblicken, der sie international eng verbunden sind. Früher oder später wird jede dieser Gruppen zur Geltung kommen.

Die österreichische „Rote Front“, die wirklich kämpferische Arbeiterelemente in sich vereinigt hatte, hat sich angeblich mit der Revolutionär-Sozialistischen Partei Österreichs, d.h. mit der alten austromarxistischen Partei vereinigt. Das Bulletin von Fenner Brockway behauptet: „Die vereinigte Partei, obgleich der II. Internationale angeschlossen, unterstützt die Anti-Kriegs-Politik des IBfr-sE" Diese Darstellung des Austromarxismus ist durch und durch falsch und irreführend. Wer die Thesen der Herren Otto Bauer, Dan und Zyromski gelesen hat, der weiß, dass der Austromarxismus auch jetzt nichts anderes als eine feige und ekelhafte Falsifikation des Marxismus darstellt, d.h. seiner Tradition vollständig treu geblieben ist. Die „Rote Front" könnte in der austromarxistischen Partei revolutionäre Arbeit nur unter zwei eng miteinander verbundenen Bedingungen leisten: Erstens, dass sie selbst klare Prinzipien hat und zweitens, dass sie mit klaren Augen die Fäulnis des Austromarxismus einsieht. Beide Bedingungen fehlen vollständig. (Nebenbei ist noch zu erwähnen, dass die „Neue Front“, das Organ der SAP für das austromarxistische Organ „Der Kampf" Reklame macht). In Wirklichkeit handelt es sich aber um die Auflösung der „Roten Front" im austromarxistischen Sumpf.

Die norwegische Gruppe „Mot-Dag“ steht auf dem Standpunkt der Locarnomächte und sie schickt sich jetzt an. in der Arbeiter-Partei aufzugehen. Auch diese Gruppe war seit Jahren nichts anderes als anmaßende Konfusion.

Über die italienische Sektion (Maximalisten) lohnt es sich wirklich nicht mehr, viel Worte zu verlieren. Es genügt zu sagen, dass diese „revolutionäre" Organisation zusammen mit der italienischen Sozialistischen Partei (II. Internationale) und mit der italienischen kommunistischen Partei (III. Internationale) einen gemeinsamen Appell gezeichnet hat in dem sie den Völkerbund auffordert, die Sanktionen zu erweitern und dem italienischen Volk einzupauken versucht dass die imperialistischen Sanktionen ein „Mittel des Friedens" seien. Kennt vielleicht Fenner Brockway diesen Appell nicht? Möge er sich darüber Bescheid einholen. – Und wenn er es weiß, warum behandelt er diese Leute wie revolutionäre Freunde und nicht wie Verräter an dem proletarischen Internationalismus?

Der polemische Artikel des „N. L." behauptet, die schwedische Sozialistische Partei fühle sich enger mit dem Londoner Büro verbunden als ich es behauptet habe. Durchaus möglich, dass die Verbindung in der letzten Zeit etwas enger geworden ist. Dass aber die schwedische Sozialistische Partei eine „internationalistische" Einstellung hat ist eine naive oder bewusst falsche Legende. Natürlich ist sie gegen den Krieg. Sie erklärt sich auch gegen den Völkerbund. Aber ihren „Kampf gegen den Krieg führt sie Hand In Hand mit den Friedensgesellschaften in Form von Petitionen. Mit dem gleichen Erfolg könnte rnan Gottesdienste für den Frieden abhalten. Allein diese Handlungsweise, die einen himmelschreienden Widerspruch zwischen dem Ziel und den Mitteln offenbart, genügt um zu verstehen, dass die Führer der schwedischen Sozialistischen Partei bei all ihrer Phraseologie, die übrigens sehr leicht wechselt, pazifistische Philister, aber keineswegs proletarische Revolutionäre sind. Die Friedenspolitik eines Kilboom wie eines Schwab ist im Grunde genommen die Politik des Lord Cecil im Kleinen. Jedes bedeutende Ereignis in Schweden wird diese Einschätzung bestätigen.

Dass die schwedische Partei eine antimarxistische Organisation ist. kann und will die ILP nicht zugeben, weil sie in der Gestalt ihrer Leitung selbst eine durch und durch pazifistische-zentristische Partei Ist Wir haben eine Serie wirklich revolutionärer „New Leader“-Artikel über die Sanktionen offenherzig begrüßt (Siehe „Unser Wort" Nr. 67 und 68) ohne jeden „sektiererischen“ Hintergedanken, den uns der Kritiker vorwirft. Doch eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Auch diese Artikel haben keine marxistische Ära der ILP eröffnet. Maxton und die anderen bleiben, was sie waren: kleinbürgerliche Pazifisten und sie bestimmen heute wie gestern den Kurs der Partei.

Ich erlaube mir auch, darauf hinzuweisen, dass ich die ILP vor mehr ab zwei Jahren öffentlich vor dem sterilen Bündnis mit der Kommunistischen Partei Großbritanniens gewarnt habe, da dieses Bündnis nur die Gebrechen der beiden Parteien multipliziert und die Aufmerksamkeit der ILP von den Massenarbeiterorganisationen selbst ablenkt. Waren diese Warnungen richtig oder nicht? Die Kommunistische Partei Großbritanniens endet im Sumpf des Opportunismus. Die ILP aber ist jetzt politisch schwächer denn je und ihre eigenen Ideen bleiben so unbestimmt und verschwommen wie vor zwei Jahren.

Zum Schluss not h ein paar Worte darüber, was der „New Leader" über die Organisationen der IV. Internationale sagt: er nennt sie nämlich die reinsten Cliquen („the merest cllques"). In dieser Charakteristik macht die Ignoranz der Unehrlichkeit (sage und schreibe Unehrlichkeit) den Rang streitig. „Clique" nennen wir Marxisten den Zusammenschluss einer Reihe von Individuen, die weder Programm noch höhere Ziele haben, sondern die sich um einen Führer zum Zwecke der Befriedigung persönlicher und keinesfalls lobenswerter Gelüste scharen. („Sekte" ist dagegen die Bezeichnung für eine Gruppe mit gewissen Ideen und Methoden.) „Clique" ist auch gleichbedeutend mit Ehrlosigkeit. Glaubt der „New Leader", dass unsere Parteien, Organisationen und Gruppen keine Prinzipien, kein Programm und keine revolutionäre Auffassung besitzen? Es wäre recht interessant, dies einmal von einem Maxton oder Fenner Brockway zu hören zu bekommen. Wir unsererseits behaupten: Wir sind die einzige internationale Organisation, die sich in vieljährigem Kampf ein ganz bestimmtes Programm herausgebildet hat, das die großen Ereignisse tagtäglich bestätigen und bekräftigen. Die Leidenschaft, mit der alle unsere Organisationen diskutieren, um alle die Fragen der internationalen Arbeiterbewegung zu klären, die Selbständigkeit. mit der sie sich ihre Meinung bilden, beweist wie ernst sie es mit dem Marxismus meinen und wie meilenweit sie von prinzipienlosem Cliquengeist entfernt sind.

Auch zahlenmäßig stehen sie keinesfalls den Organisationen um das Londoner Büro nach. Vor kurzem habe ich auf Grund der offiziellen Sowjetpresse nachgewiesen, dass allein in den letzten Monaten des Jahres 1935 etwa 20.000 Bolschewiki-Leninisten aus der offiziellen Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden sind. In der Sowjet-Union allein, glaube ich, haben wir mehr Anhänger als das Londoner Büro in der ganzen Welt. Die holländische Partei steht jetzt der ILP zahlenmäßig kaum nach. Wir habest eine mutige und kämpfende Sektion in Frankreich, im Brennpunkt der europäischen Politik. Obgleich die französischen Anhänger der IV. Internationale keine Vertreter im Parlament haben, spielen sie schon heute im politischen Leben Frankreichs eine weit bedeutendere Rolle als die ILP In England. Die faschistische und die gesamtkapitalistische Presse Frankreichs bringt die unwiderleglichen Beweise dafür. Und dies ist kein Wunder: Die Bolschewiki-Leninisten vertreten in einer revolutionären Situation ein wirklich revolutionäres Programm. Unsere frühere spanische Sektion ist allerdings dem schlimmsten Opportunismus verfallen. Aber warum? Weil sie sich mit einer Sektion des Londoner Büros verschmolzen hat, um dann, im Schwanze des Herrn Azaña, „große Politik" zu machen. Unsere Freunde in Belgien haben bedeutenden Einfluss errungen. Aach in Südamerika haben wir wichtige und wachsende Sektionen. Unsere amerikanische Sektion, die jetzt in die Sozialistische Partei eintritt, hat dort für ihre Ideen jetzt schon bedeutende Sympathien. Übrigens scheint mir, dass auch innerhalb der ILP selbst die Fahne der IV. Internationale gewisse Anhänger hat, deren Zahl sich systematisch vergrößert.

Der Unterschied zwischen dem Londoner Büro und der Vereinigung der IV. Internationale besteht darin, dass es sich im ersten Falle um verschiedene Zwitterorganisationen mit ganz verschiedener Vergangenheit, mit verschiedenen Ideen und verschiedener Zukunft handelt, die sich momentan, da sie obdachlos sind, dem internationalen Londoner Büro angeschlossen haben. Die Sektionen der IV. Internationale bilden im Gegensatz dazu eine Auslese, die auf Grund ganz bestimmter, im Kampfe mit der II. und III Internationale und dem Londoner Büro herausgearbeiteter Ideen und Methoden erfolgte. Das Ist der Grund, warum wir trotz der ungeheuren Schwierigkeiten systematisch wachsen, warum der Einfluss der IV. Internationale immer stärker wird, warum die beiden alten Internationalen die heilige Allianz gegen uns geschlossen haben und warum sich letzten Endes auch die Sektionen des Londoner Büros dieser heiligen Allianz überall anschließen. Der Artikel im „N. L." ist nur einer der vielen Beweise für diesen Tatbestand.

Mit derselben Sicherheit, mit welcher wir vor ein paar Jahren die ILP vor dem Bündnis mit der KPGB gewarnt haben, behaupten wir heute, dass die ILP unter der jetzigen Führung und auf dem jetzigen Wege direkt dem Abgrund entgegen schreitet. Wir sind aber gleichzeitig nicht weniger sicher, dass sich die besten Elemente der englisches Arbeiterbewegung um die Fahne der IV. Internationale scharen werden, denn sie ist jetzt die einzige Fahne der proletarischen Revolution.

Kommentare