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Leo Trotzki 19360717 Wie die Konferenz vorbereitet und nicht vorbereitet wurde

Leo Trotzki: Wie die Konferenz vorbereitet und nicht vorbereitet wurde

[eigene Übersetzung nach Writings of Leon Trotsky: Supplement (1934-40), S. 698-703]

Lieber Genosse Muste:

Ich erhielt Ihren Brief vom 11. und 12. Juli zur gleichen Zeit und mit großer Freude. Besten Dank für den detaillierten Charakter des Briefs über Holland und besonders für die Offenheit und Schärfe mit der Sie meine Haltung in dieser Frage kritisieren. Ich erachte eine offene und manchmal sogar brutale Sprache als notwendig, wenn es eine Frage von wichtigen und entscheidenden Gegenständen ist und wo diplomatische Nuancen nur Missverständnisse herbeiführen können. Aber ich glaube, dass mehrere Missverständnisse in Ihrer Beurteilung meiner Handlungsweise in der niederländischen Frage aufgetreten sind.

1. Sie stellen einen Widerspruch zwischen meiner Behandlung der niederländischen Frage während meiner Diskussion mit Ihnen und in meinem Brief an Sha[chtman] fest. Alles Notwendige in diesem Punkt ist in meinem Brief an das Zentralkomitee der RSAP gesagt, von dem eine Kopie beiliegt. Während Ihrer Anwesenheit hier hoffte ich stündlich, dass wir einen bestätigenden Brief aus Holland erhalten würden, der alle meine Zweifel und Bedenken in dieser entscheidend wichtigen Frage beseitigen würde. Das erklärt auch, warum ich so eine zurückhaltende Sprache verwandte, die nur einen Teil meiner Besorgnis ausdrückte. Nach allem konnte ich die Nichtbeantwortung meiner Briefe nicht ausschließlich durch Nachlässigkeit erklären. Im letzten Brief, datiert vom 11. Juli, schreibt Sneevliet ganz am Anfang: „Es stimmt, dass wir noch nicht dazu gekommen sind, Ihren Brief vom 16. Juni zu beantworten, der am 19. Juni ankam.“ Bei allem schuldigen Respekt für den Fischerstreik und alle anderen Umstände. Aber dass verschiedene Sektionen Wochen ohne Ende warten müssen, weil ein wichtiger Brief, der die Nachricht von der Ankunft der Amerikaner enthält, unbeantwortet bleibt, und das zum n-ten Mal, scheint mir wahrhaft fatal. Wenn das Nachlässigkeit ist, dann bedeutet es etwas, was Gleichgültigkeit gegenüber internationalen Angelegenheiten ziemlich nahe kommt. Der Brief von Sha., der einen informativen und objektiven Charakter hatte, war die letzte Gelegenheit für ein energisches Eingreifen. Was zu diesem Punkt zu sagen bleibt, kann in meinem Brief an das niederländische ZK gelesen werden.

2. Es ist auch unrichtig, dass es keine politischen Unterschiede gebe. Ich habe Ihnen zu diesem Punkt ziemlich viel im Detail berichtet und Sie werden die Punkte mit den Unterschieden in dem beigelegten Brief knapp aufgelistet finden, die mir alle ziemlich symptomatisch erscheinen. Ich habe nicht die kleinste Neigung, diese Unterschiede zu übertreiben. Ich hoffe fest, sie mittels freundlicher Diskussionen mit der Hilfe von Erfahrung zu überwinden. Aber ich betrachte es als unmöglich, einfach die Augen vor den strittigen Fragen zu verschließen, weil die Tatsachen mächtiger sind als unsere frommen Wünsche, und wenn wir nicht jetzt mit der Arbeit an diesen unterschiedlichen Punkten anfangen, dann können sie unter dem Druck von Ereignissen einen explosiven Charakter annehmen.

3. In dem Brief an die Niederländer erkläre ich – in Kürze – das, was zur französischen Frage notwendig ist. Das mangelnde Interesse an den wichtigsten revolutionären Problemen unserer Zeit mit dem Fischerstreik zu erklären zu versuchen, ist mir … zum allermindesten unerklärlich. Hoffen wir, dass die Konferenz die französische Frage als Hauptfrage behandeln wird. Ich glaube, dass die Konferenz einen kurzen Aufruf an die proletarische Vorhut der ganzen Welt veröffentlichen sollte, in der sie sie aufruft, die französischen Ereignisse zu verfolgen und der proletarischen Vorhut, das heißt der neuen Partei, moralisch und materiell zur Hilfe zu kommen. Belgien sollte in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, denn sein Schicksal ist mit dem Frankreichs eng verflochten.

4. Jeder von uns wird sehr froh sein, wenn wir es schaffen, mehr Ordnung und System in die Arbeit des Internationalen Sekretariats zu bringen. Aber auch in diesem Punkt muss ich mit aller notwendigen Betonung die falschen Vorstellungen über die Vergangenheit und Illusionen über die Zukunft beseitigen:

a. Alle von uns beauftragten die Genossen Schmidt und Sneevliet einmütig mit der Arbeit des Sekretariats. Warum? Weil sie erfahrene Genossen mit internationaler Autorität waren und weil sie sich auf eine bedeutsame Organisation stützten und daher also die technische Arbeit leichter in den Griff kriegen könnten. Unsere Seite, das heißt das IS (einschließlich mir), entschied, alle unsere Kräfte den Genossen Sneevliet und Schmidt zur Verfügung zu stellen. Wir kamen zu einer Verständigung mit unseren amerikanischen Freunden, die Veröffentlichung von Appellen in einer Reihe von Fragen durch das Amsterdamer Büro in Übereinstimmung mit dem Genfer Sekretariat zu erlauben, wo keine neuen, unbekannten oder strittigen Fragen betroffen waren. Als wir mit Amsterdam zu einer Verständigung zu kommen versuchten, kam nichts dabei heraus. Warum? Ist der „Individualismus“ von jemand schuld? Systematische, nicht individualistische, nicht anarchistische Arbeit besteht – oder etwa nicht? – darin, dass das beauftragte Organ die notwendige Initiative ergreift oder die Initiative anderer übernimmt und die Dinge ins richtige Gleis stellt. Aber in der Regel erhalten wir keine Antwort auf die wichtigsten Briefe. Glauben Sie etwa, Genosse Muste, dass wir weniger beschäftigt sind als die Genossen in Amsterdam. Nein, genau so! Letztere zwangen uns jedoch, zwei, drei und vier Briefe statt einem zu schreiben und führten dabei ermüdende Diskussionen darüber herbei, warum Dinge nicht gemacht wurden, statt uns rechtzeitig in ein paar Zeilen zu antworten.

Zur Zeit der akutesten Krise in Frankreich, als La Commune sich willkürlich zu einer Sektion der Vierten Internationale erklärte, versuchten wir vom Amsterdamer Büro ein geeignetes Eingreifen zu bekommen. Ich schrieb Briefe über Briefe. Um die Arbeit der Amsterdamer Sekretäre zu erleichtern, schrieb ich sogar den Entwurf für einen Brief, der nach Paris gesandt werden sollte. Aber bis zu diesem Tag habe ich keine Antwort erhalten. Ich weiß nicht, ob diese Methoden „individualistisch“ genannt werden können, aber in jedem Fall sind sie sicherlich unzulässig.

In allen Fragen stand ich und stehe ich weiterhin in engster Berührung mit dem IS. Ich schrieb ziemlich oft Briefe und schickte immer eine Kopie an Sneevliet, der darüber hinaus Mitglied im IS ist. Er reagierte nicht auf diese Briefe, abgesehen von der amerikanischen Frage und selbst hier sehr verspätet, das heißt, als die Frage drüben faktisch schon entschieden war.

Können Sie mir freundlichst einen Rat erteilen, wie man in solch einer Lage hätte handeln sollen? Oder sollte man mit Handeln ganz aufhören, weil die Genossen Sneevliet und Schmidt die Verpflichtungen nicht erfüllen, die sie übernommen haben? Die Gründe für dieses Nichtfunktionieren des Amsterdamer Büros mögen so wichtig sein, wie man will; aber schließlich können große Ereignisse und strittige Fragen nicht zum Stillstand gebracht werden. Wir müssen auf sie reagieren, wenn wir eine gewisse Verantwortung haben. Auf welche Weise? Indem wir unsere Meinung sagen. Ich kenne keinen anderen Weg.

In der amerikanischen Frage dauerte die Diskussion zwischen anderthalb und zwei Jahre, wenn man die französisch-belgischen Vordiskussionen einschießt. Schmidt war für die Französische Wende, Sneevliet dagegen, das IS dafür (mit der Ausnahme von Dubois [Ruth Fischer], die darüber hinaus in allen Fragen „dagegen“ war und dann die Arbeit ganz aufgab). Es gab gewisse Schattierungen der Meinung in der amerikanischen Frage im IS und bei ein paar Genossen gab es Schwankungen. Nicht alle von ihnen lesen englisch und folgen den amerikanischen Entwicklungen. Eine formelle Entscheidung unter diesen Bedingungen wären nicht von großem Wert gewesen. In jedem Fall waren die Unterstützer des Eintritts im IS in der Mehrheit. Wir hätten Sneevliet leicht überstimmen und eine formelle Entscheidung nach Amerika schicken können. Aber es ist gerade in dieser außerordentlich wichtigen Frage, dass solch eine Entscheidung uns nicht passend schien. So gaben wir dem Genossen Sneevliet, dem Vertreter der Minderheit, die volle Freiheit, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen. Er versäumte nicht, reichlich Gebrauch von dieser Freiheit zu machen. Gegen die Belgier bezog er sogar offen in seiner Zeitung Stellung, obwohl er sich bewusst ist, dass er im IS in dieser Frage ganz allein ist (mit der Ausgabe von Dubois, die faktisch vor langer Zeit aufgehört hat, dort zu arbeiten). Auf welcher Seite ist dann der „Individualismus“?

Sie selbst, Genosse Muste, bringen als Beispiel der mangelhaften Organisationsarbeit die unangemessene Vorbereitung der Konferenz und fügen den Umstand hinzu, dass Sie in London keinen Brief bereit fanden etc. Ich nehme diese Frage auch dankbar auf, weil es das Gegenteil dessen beweist, was Sie voraussetzen. Seit 11. April (!!) haben wir mit Braun und Held an diesem Gegenstand hart gearbeitet. Dutzende über Dutzende von Briefen wurden abgeschickt, ohne die Arbeit an den Thesen, Dokumenten etc. zu zählen. Die Pariser Mitglieder des IS machten auch alles in ihrer Macht Stehende. Wir strengten uns an, um alle Details vorherzusehen und im Voraus zu verbinden, um unnötige Spannungen zu vermeiden. Aber seit April waren wir nicht in der Lage, das Datum festzulegen, weil die Amsterdamer Genossen einfach die Briefe unbeantwortet ließen, obwohl sie eine Antwort versprochen hatten, dann immer wieder neue Einwände erhoben und die ganze Frage der Konferenz in ständiger Unklarheit ließen. Daher mussten wir drei, vier und fünf mal so viel Arbeit machen und bekamen immer noch keine Genauigkeit.

Braun schrieb nach Amerika, dass er die erforderlichen Daten für die Ankunft nach Europa telegrafieren würde. Die Angelegenheit zog sich jedoch endlos hin und wir konnten kein Telegramm senden. Sie können sich leicht die Beunruhigung vorstellen, die unter uns hier herrschte. Sie und Sha. entschieden sich dann, ohne Telegramm loszufahren (und ich preise Sie aus ganzem Herzen für diese Entscheidung), aber Ihre Antwort ohne ein vorheriges Telegramm von uns war eine Überraschung und wir waren nicht in der Lage, Sie in London mit einem Zeitplan zu versorgen, weil wir selbst nicht wussten, wo und wann und sogar ob die Konferenz stattfinden würde. Dass die niederländischen Genossen uns in diesem Punkt mangelnde Vorbereitung vorwerfen, ist meiner Meinung nach nicht nur unberechtigt, sondern ich betrachte es als ziemlich unerhört und ich erhebe meine Stimme zu entschiedenstem Protest!

Wir nahmen alles ruhig und geduldig in Kauf, weil die Sache selbst für uns über all der verlorenen Zeit und Mühe stand, aber wenn die Amsterdamer die Frage der Unangemessenheit der internationalen Arbeit auf der Konferenz selbst aufwerfen, dann werde ich fordern, dass dieser Brief auf der Konferenz verlesen wird.

b. Ich sagte oben: Niemand sollte irgendwelche Illusionen über die Zukunft haben. Die Führung einer revolutionären Internationale in solch einer stürmischen Geschichtsepoche kann nicht in der gleichen Weise funktionieren wie die Führung – zum Beispiel – einer nationalen Gewerkschaft oder Genossenschaft. Wir sind räumlich getrennt; jeder von uns hat seine Meinung und wird sich weiterhin ausdrücken wollen. Die Ereignisse warten nicht; zumindest nicht immer. Gute gemeinsame Arbeit kann nur gefordert werden, wenn jedes Mitglied der Führungsgremien den internationalen Ereignissen aufmerksam folgt und Briefe und Vorschläge so bald wie möglich beantwortet. Ein Automatismus der Führung wird von uns nicht erreichbar sein, selbst auf dieser Konferenz.

Die wichtigste psychologische Voraussetzung für einträgliche Arbeit der Führung ist, dass man sich selbst wirklich als Teil der Führung fühlt, nicht außerhalb steht und nicht von Zeit und Zeit seine Entrüstung verkündet.

5. Was Sie über die NAS berichten, lieber Genosse Muste, scheint mir in keiner Weise zufriedenstellend und beruhigend. Ganz im Gegenteil. Vor zweieinhalb Jahren hörte ich von meinem Freund Sneevliet, dass niemand länger „Illusionen“ bezüglich der NAS habe, dass wir nur auf den angemessenen Zeitpunkt warten müssen etc. So weit so schlecht – sage ich. Illusionen können vieles erklären. Illusionen werden durch Erfahrung überprüft. Von Illusionen kann man sich befreien. Aber sich von konservativer, gewerkschaftlicher Trägheit zu befreien, ist viel härter. Beweis: Die hoffnungslose NAS besteht jetzt schon sei fast einem halben Jahrhundert.

Es wird gesagt: Die Reformisten schließen die mit der NAS sympathisierenden Elemente ohne Protest von Seiten der Mitgliedschaft aus. Dieses Argument wendet sich völlig gegen die NAS, weil es zeigt, dass die NAS trotz ihres jahrzehntelangen Bestehens unfähig ist, die kleinste Sympathie unter der Mitgliedschaft der reformistischen Gewerkschaften zu erwecken. Denn ich kann nicht annehmen, dass die ganze niederländische Arbeiterklasse rettungslos versumpft ist und dass die Revolution ausschließlich von der NAS abhängt. Natürlich haben es die Betrüger leicht, hinderliche linke Elemente hinauszuwerfen, denn sie können sie den Arbeitern als Agenten eines konkurrierenden Vereins darstellen. Die Arbeiter hängen an ihren Organisationen und wollen keine Konkurrenz. Die NAS sollte eine politische Einheitskampagne eröffnen mit allen Kräften und Betonung. Das französische Gewerkschaftsbeispiel; die revolutionären Ereignisse in Frankreich und Belgien; die mögliche Streikwelle in Holland; die drohende faschistische Gefahr; der herannahende Krieg — all dies sollte von der NAS herangezogen werden, um den schärfsten Ton für Gewerkschaftseinheit anzuschlagen. Unter solchen Bedingungen würden es die Gewerkschaften der Reformisten in der Tat hart finden, die revolutionären Elemente auszuschließen und das Einheitsangebot zurückzuweisen. Wenn sie es machen (wie es Jouhaux zehn Mal machte), dann erlangt die NAS Sympathie innerhalb der Mitgliedschaft der reformistischen Gewerkschaften und wird auf der nächsten Stufe sicher die Möglichkeit bekommen, die Einheit zu erzwingen. Diese Dynamik finde ich überhaupt nicht. Man ist mit dem Umstand zufrieden, dass man keine Illusionen hat, und erwartet die positive Lösung durch Entwicklungen, das heißt: die Polizei. Diese rein passiven Illusionen sind viel gefährlicher als die aktiven und sie können unsere niederländische Partei ihr Leben kosten.

6. Du bist der Meinung, dass es besser wäre, die organisatorische Vergangenheit auf der Konferenz nicht auszugraben. Ich bin ganz der selben Meinung. Im Interesse der Konferenz! Ich habe auch die Ansicht, dass die Diskussion über die Weltlage, besonders über die französische und belgische Lage, viel wichtiger ist. Wenn die niederländischen Genossen übereinstimmen, dass die organisatorischen Fragen auf normale und objektive Weise am Ende der Konferenz behandelt werden sollen, würde ich das von Herzen begrüßen. Aber ich sehe keine Katastrophe darin, wenn die „organisatorischen Fragen“ in den Vordergrund geschoben werden. Und wenn wir angegriffen werden, werden wir uns verteidigen, und das ist etwas, was wir können.

7. Wir sind sehr zufrieden, dass Sie gute Eindrücke von Belgien mitgenommen haben und dass die Konferenz, wie es scheint, zufriedenstellend ablief.

Ich muss Ihnen nicht sagen, lieber Genosse Muste, dass ich mir die besten Ergebnisse von Ihrer Teilnahme an der Konferenz verspreche, nicht nur aus dem allgemeinen Blickwinkel, sondern auch aus dem der Beseitigung überflüssiger Spannungen. Das ist der Geist, in dem ich auch Ihren ganzen Brief verstehe. Ich habe Ihre offene Kritik mit einer genauso offenen Gegenkritik beantwortet. Unsere vor kurzem errichtete Freundschaft kann dadurch nur gewinnen.

Mit brüderlichen Grüßen.

PS: Ich bin nicht sicher, dass dieser Brief Dich unterwegs erreichen wird und bin gleichzeitig sehr bestrebt, dass Du die oben skizzierten Überlegungen so bald wie möglich erhältst. Dieser Brief ist nur für Dich bestimmt. Du kannst ihn natürlich den niederländischen Konferenzdelegierten weiterleiten, wenn Du es notwendig findest. Natürlich muss ich mir das Recht vorbehalten, Kopien dieses Briefes allen Konferenzdelegierten zukommen zu lassen, falls die niederländischen Genossen (was ich nicht glauben kann) mit kriegerischen Absichten zur Konferenz kommen.

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