Leo Trotzki‎ > ‎Komintern‎ > ‎

Leo Trotzki 19240520 Einleitung zu „Fünf Jahre Komintern"

Leo Trotzki: Einleitung zu „Fünf Jahre Komintern"

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 1, New York 1945, S. 1-15]

Das halbe Jahrzehnt des Bestehens der Kommunistischen Internationale wird durch den Dritten Weltkongress in zwei Perioden geteilt. Während ihrer ersten zwei Jahre blieb die Komintern immer noch ganz und ausschließlich unter dem Einfluss des imperialistischen Krieges. Revolutionäre Perspektiven werden direkt aus den Folgen des Krieges abgeleitet. Es wird praktisch als selbstverständlich erachtet, dass die ständig steigende und sich verstärkende politische Gärung der Massen, die aus den gesellschaftlichen Umwälzungen des Krieges erwächst, direkt zur Machteroberung durch das Proletariat führen muss. Diese Einschätzung des Verlaufs der Entwicklungen fand ihren Ausdruck in den Manifesten des ersten und zweiten Weltkongresses, die in diesem Band enthalten sind. Die prinzipielle Bewertung der Nachkriegslage, die in diesen Dokumenten gegeben ist, behält ihre Kraft vollständig bis heute. Aber das Tempo der Entwicklung hat sich als anders erwiesen.

Der Krieg führte nicht direkt zum Sieg des Proletariats in Westeuropa. Es ist heute nur zu offensichtlich, was 1919 und 1920 für den Sieg fehlte: eine revolutionäre Partei fehlte.

Die jungen Kommunistischen Parteien begannen erst, Gestalt anzunehmen (und dann auch erst in groben Umrissen), als die mächtige Nachkriegsmassengärung schon abzuebben begann. Die Ereignisse in Deutschland vom März 1921 zeigen plastisch den Widerspruch zwischen der damals bestehenden Lage und der Politik der Kommunistischen Internationale. Kommunistische Parteien oder zumindest ihre linken Flügel, versuchten stürmisch, eine Offensive zu einer Zeit loszutreten, wo die viele Millionen starken proletarischen Massen nach den Anfangsniederlagen verdrossen die Nachkriegslage bilanzierten und aufmerksam die Kommunistischen Parteien beobachteten. Auf dem Dritten Weltkongress formulierte Lenin diese drohende Kluft zwischen der Entwicklungslinie der Massen und der taktischen Linie der Kommunistischen Parteien und sicherte mit fester Hand eine entscheidende Wendung in der Politik der Internationale. Gegenwärtig haben wir genug Abstand zum Dritten Kongress, um ihn im Rückblick richtig einzuschätzen und können sagen: Die Wendung auf dem Dritten Kongress war von so großer Bedeutung für die Kommunistische Internationale wie die Wendung von Brest-Litowsk für die Sowjetrepublik. Wenn die Komintern weiter mechanisch dem früheren Weg gefolgt wäre – auf dem die Märzereignisse in Deutschland eine Etappe darstellten – wären vielleicht in einem oder zwei Jahren nur Splitter der Kommunistischen Parteien übrig gewesen. Mit dem Dritten Kongress beginnt eine neue Etappe: Die Parteien berücksichtigen, dass sie die Massen gewinnen müssen, und dass einem Ansturm eine mehr oder weniger langgezogene Periode der Vorbereitungsarbeit vorhergehen muss. Das Feld der Einheitsfront eröffnet sich, das heißt die Taktik der Verschmelzung der Massen auf der Grundlage von Übergangsforderungen. Die Reden und Artikel des Zweiten Teils dieses Bandes sind dieser „neuen Etappe” gewidmet.

Diese zweite Periode der Entwicklung der Kommunistischen Internationale, die gleichbleibend den Einfluss auf alle Hauptteile der arbeitenden Massen ausdehnte, lief in die mächtige revolutionäre Flutwelle in Deutschland in der zweiten Hälfte 1923 hinein. Europa wird wieder von wilden Krämpfen erschüttert, in deren Brennpunkt die Ruhr liegt. Die Frage der Macht stellt sich erneut in aller ihrer Nacktheit und Schärfe in Deutschland. Aber die Bourgeoisie überlebt auch diese Zeit. Damit öffnet sich ein drittes Kapitel in der Entwicklung der Kommunistischen Internationale. Das Thema der Arbeit des fünften Kongresses ist die Bestimmung der politischen Hauptbesonderheiten und taktischen Aufgaben dieser neuen Periode.

Warum führte die deutsche Revolution nicht zum Sieg? Die Gründe dafür liegen ganz in der Taktik und nicht in den objektiven Bedingungen. Wir haben hier ein wahrhaft klassisches Beispiel einer versäumten revolutionären Lage. Vom Augenblick der Ruhrbesetzung an und noch mehr, als der Bankrott des passiven Widerstands offenkundig wurde, war es für die Kommunistische Partei notwendig, einen festen und entschlossenen Kurs zur Eroberung der Macht zu steuern. Nur eine mutige taktische Wende hätte das deutsche Proletariat im Kampf um die Macht vereinigen können. Wenn wir auf dem Dritten und teilweise auf dem Vierten Kongress den deutschen Genossen sagten: „Ihr werdet die Massen nur auf der Grundlage einer führenden Rolle in ihrem Kampf für Übergangsforderungen gewinnen”, dann stellte sich in der Mitte des Jahres 1923 die Frage anderes: Nach allem, was das deutsche Proletariat in den vergangenen Jahren durchgemacht hatte, konnte es nur in dem Fall in die entscheidende Schlacht geführt werden, dass es überzeugt war, dass es diesmal, wie die Deutschen sagen, aufs Ganze1 ging (das heißt, dass es nicht um diese oder jene Teilaufgabe, sondern um das Wesentliche ging), und dass die Kommunistische Partei bereit war, in den Kampf zu marschieren, und fähig war, den Sieg zu sichern. Aber die Kommunistische Partei führte diese Wendung ohne die notwendige Festigkeit und nach einer extremen Verzögerung durch. Sowohl die Rechten als auch die Linken stellten trotz ihres scharfen Kampfes untereinander bis September-Oktober [1923] eine ziemlich fatalistische Haltung gegenüber dem Prozess der Entwicklung der Revolution zur Schau. Zu einer Zeit, wo die ganze objektive Lage forderte, dass die Partei einen entscheidenden Schlag führt, handelte die Partei nicht, um die Revolution zu organisieren, sondern wartete weiter auf sie. „Die Revolution lässt sich nicht auf einen Zeitpunkt festlegen”, antworteten die Rechten und die Linken, und verwechselten die Revolution als Ganze mit einem ihrer besonderen Stadien, nämlich dem Aufstand zur Machtübernahme. Mein Artikel „Kann man eine [Konterrevolution oder eine] Revolution auf einen bestimmten Zeitpunkt ansetzen?” war dieser Frage gewidmet. Dieser Artikel fasst die endlosen Diskussionen und Polemiken zusammen, die vorher stattgefunden hatten. Es stimmt, dass es im Oktober einen scharfen Bruch in der Politik der Partei gab. Aber es war schon zu spät. Im Verlauf des Jahres 1923 erkannten oder spürten die Arbeitermassen, dass sich der Augenblick des entscheidenden Kampfes näherte. Aber sie sahen nicht die notwendige Entschlossenheit und Selbstvertrauen auf der Seite der Kommunistischen Partei. Und als letztere ihre fieberhaften Vorbereitungen für einen Aufstand begann, verlor sie sofort ihr Gleichgewicht und auch ihre Verbindung zu den Massen. Ungefähr das selbe passiert mit einem Reiter, der sich erst langsam einem hohen Hindernis nähert, und erst im letzten Augenblick nervös seinem Pferd die Sporen gibt. Wenn das Pferd über das Hindernis springen würde, würde es sich aller Wahrscheinlichkeit nah die Beine brechen. Es lief tatsächlich so, dass es an dem Hindernis anhielt und scheute. Das war die Mechanik der grausamsten Niederlage der deutschen Kommunistischen Partei und der ganzen Internationale im November letzten Jahres.

Als sich daraus eine scharfe Verschiebung in den wechselseitigen Kräfteverhältnissen ableitete, als die legalisierten Faschisten in den Vordergrund traten, während die Kommunisten in den Untergrund getrieben wurden, kündigten manche Genossen schnell an, dass „wir die Lage überschätzten; die Revolution ist noch nicht herangereift”. Natürlich ist nichts einfacher als diese Art Strategie: erst die Revolution verschlafen und dann verkünden, sie sei noch nicht reif. Aber in Wirklichkeit hat die Revolution nicht deshalb nicht zum Sieg geführt, weil sie allgemein „noch nicht reif war”, sondern weil das entscheidende Kettenglied – die Führung – im entscheidenden Moment aus der Kette sprang. „Unser” Fehler liegt nicht darin, dass „wir” die Bedingungen der Revolution über-, sondern darin, dass „wir” sie unterschätzt haben; er liegt darin, dass „wir” nicht rechtzeitig die Notwendigkeit einer krassen und kühnen taktischen Wendung erkannten: vom Kampf um die Massen zum Kampf um die Macht. „Unser” Fehler liegt darin, dass „wir” mehrere Wochen langen alte Banalitäten wiederholten, nach denen „die Revolution nicht auf einen Zeitpunkt festgelegt werden kann” und auf diese Weise alle Zeiträume verstreichen ließen.

Hatte die Kommunistische Partei die Mehrheit der Arbeiter in der zweiten Hälfte des letzten Jahres hinter sich. Es ist schwer zu sagen, was das Ergebnis gewesen wäre, wenn es damals eine Wahl gegeben hätte. Solche Fragen werden nicht durch Wahlen entschieden. Sie werden durch die Dynamik der Bewegung entschieden. Obwohl eine sehr beträchtliche Anzahl Arbeiter weiterhin in den Reihen der Sozialdemokratie bleibt, war nur eine unbedeutende Minderheit bereit, eine feindliche – und selbst dann nur eine ziemlich passive feindliche – Haltung gegenüber einem Umsturz einzunehmen. Die Mehrheit der sozialdemokratischen und auch der parteilosen Arbeitern fühlte stark die unterdrückende Sackgasse des bürgerlich-demokratischen Regimes und erwartete den Umsturz. Ihr vollständiges und endgültiges Vertrauen und ihre Sympathie hätte nur im Verlauf des Umsturzes selbst gewonnen werden können. Alles Gerede über die beängstigende Stärke der Reaktion, die vielen Hunderttausend der Schwarzen Reichswehr etc., erwies sich als bloße ungeheuerliche Übertreibung, woran es in den Köpfen von Menschen mit revolutionärem Verstand von Anfang an keinen Zweifel gab. Nur die offizielle Reichswehr stellte eine wirkliche Kraft dar. Aber sie war zahlenmäßig zu klein und wäre durch den Ansturm der Millionen unausweichlich weggefegt worden.

Seite an Seite mit den Massen, die schon fest von der Kommunistischen Partei gewonnen waren, wurden viel größere Massen in den Monaten der Krise von ihr angezogen und erwarteten von ihr das Kampfsignal und Führung im Kampf. Nachdem sie das nicht bekamen, begannen sie, sich genauso spontan von den Kommunisten wegzubewegen, wie sie vorher zu ihnen hin geströmt waren. Genau das erklärt die scharfe Verschiebung im Kräfteverhältnis, das es Seeckt ermöglichte, das Feld des politischen Kampfes fast ohne Widerstand zu erobern. Inzwischen verkündeten Politiker mit fatalistischen Neigungen, die Seeckts schnelle Erfolge beobachteten: „Ihr seht, das Proletariat will nicht kämpfen.” In Wirklichkeit wollten die deutschen Arbeiter nach der Erfahrung eines revolutionären halben Jahrzehnts nicht mehr bloß einen Kampf, sie wollen, den Kampf, der schließlich den Sieg bringt. Nachdem sie die notwendige Führung nicht fanden, wichen sie dem Kampf aus. Dadurch zeigten sie bloß, dass die Lehren von 1918-21 in ihrem Gedächtnis tief eingebrannt sind.

Die deutsche Kommunistische Partei führte 3.600.000 Arbeiter an die Wahlurnen. Wie viele verlor sie unterwegs? Es ist schwer, diese Frage zu beantworten. Aber das Ergebnis der vielen Teilwahlen zu Landtagen, Gemeinderäten und so weiter bezeugt, dass die Kommunistische Partei an den letzten Reichstagswahlen in einem schon äußerst geschwächten Zustand teilnahm. Und trotz all dem bekam sie immer noch 3.600.000 Stimmen! „Schau”, sagt man uns, „die deutsche Kommunistische Partei ist hart kritisiert worden und stellt doch eine riesige Kraft dar!” Aber der Knackpunkt der ganzen Sache liegt darin, dass 3.600.000 Stimmen im Mai 1924, das heißt nach dem spontanen Abebben der Massen, nach der Festigung des bürgerlichen Regimes bezeugen, dass die Kommunistische Partei im zweiten Teil des letzten Jahres die entscheidende Kraft war, das aber leider nicht rechtzeitig verstanden und genutzt wurde. Die, die nicht einmal heute bereit sind, zu erfassen, dass die Niederlage direkt aus einer Unterschätzung oder, genauer, einer verspäteten Einsicht in die außerordentliche revolutionäre Lage des letzten Jahres entsprang – die Leute, die darauf beharren, laufen Gefahr, nichts zu lernen und daher die Revolution beim nächsten Mal wieder nicht erkennen zu wollen, wenn sie an die Tür klopft.

Dass die deutsche Kommunistische Partei ihre führenden Organe drastisch erneuert hat, ist völlig normal. Die Partei und mit ihr die Arbeiterklasse erwartete und wollte den Kampf und hoffte auf den Sieg – und bekam statt dessen eine kampflose Niederlage. Es ist nur natürlich, dass die Partei der alten Führung den Rücken zuwendet. Die Frage, ob der linke Flügel mit der Aufgabe fertig geworden wäre, wenn er letztes Jahr die Führung gehabt hätte, hat nur beschränkte Bedeutung. Ehrlich gesagt glauben wir das nicht. Wir haben schon bemerkt, dass der linke Flügel trotz seines scharfen Fraktionskampfs in den Grundfragen – der Machtübernahme – die formlose, halb-fatalistische, Verschleppungspolitik des damaligen Zentralkomitees teilte. Aber der bloße Umstand, dass der linke Flügel in Opposition war, machte ihn zum natürlichen Erben der Parteimacht, nachdem sich die Partei von dem alten Zentralkomitee abgewandt hatte. Gegenwärtig ist die Führung in den Händen des linken Flügels. Dies ist ein neuer Umstand in der Entwicklung der deutschen Partei. Es ist notwendig, diesen Umstand zu berücksichtigen, ihn zum Ausgangspunkt zu nehmen. Es ist notwendig, alles Mögliche zu tun, dem neuen Führungsgremium der Partei zu helfen, mit seiner Aufgabe fertig zu werden. Und dafür ist es zuallererst notwendig, die Gefahren klar zu sehen. Die erste mögliche Gefahr kann aus einer zu wenig ernsthaften Haltung gegenüber der Niederlage des letzten Jahres entspringen: eine Haltung, dass nichts Ungewöhnliches passiert sei, bloß eine kleine Verzögerung; die revolutionäre Lage wird sich bald wiederholen; wir gehen weiter wie vorher – hin zum entscheidenden Angriff. Dies ist falsch! Die Krise des letzten Jahres stellte eine kolossale Verausgabung revolutionärer Energie durch das Proletariat dar. Das Proletariat braucht Zeit, um die tragische Niederlage vom letzten Jahr zu verdauen, eine Niederlage ohne entscheidenden Kampf, eine Niederlage ohne auch nur den Versuch eines entscheidenden Kampfes. Es braucht Zeit, um sich in einer objektiven Lage erneut revolutionär zu orientieren. Das heißt natürlich nicht, dass eine lange Reihe von Jahren erforderlich ist. Aber Wochen werden dafür nicht reichen. Und es würde die größte Gefahr darstellen, wenn die strategische Linie unserer deutschen Partei jetzt wäre, die Prozesse, die gegenwärtig als Folge der Niederlage im letzten Jahr im deutschen Proletariat ablaufen, ungeduldig abschneiden zu wollen.

Wir wissen, dass letztlich die Ökonomie entscheidet. Die kleinen wirtschaftlichen Erfolge, die in den letzten paar Monaten von der deutschen Bourgeoisie geschafft wurden, sind das unvermeidliche Ergebnis der Schwächung des revolutionären Prozesses, eine gewisse – sehr oberflächliche und zerbrechliche – Stärkung der bürgerlichen „Stabilität” und so weiter. Aber die Wiederherstellung irgend eines stabilen kapitalistischen Gleichgewichts in Deutschland wurde nicht wahrnehmbar näher gebracht gegenüber dem Zustand in der Periode von Juli bis November letzten Jahres. Alle Ereignisse auf dem Weg zu diesem Gleichgewicht bedeuten so mächtige Konflikte zwischen Arbeit und Kapital und Frankreich behindert den Weg mit solchen Schwierigkeiten, dass das deutsche Proletariat für eine unbegrenzt lange bevorstehende Periode sicher sein kann, dass die wirtschaftlichen Grundlagen für die Revolution da sind. Aber diese Teilprozesse, die in den Grundlagen stattfinden, entweder vorübergehende Verschärfungen oder im Gegenteil vorübergehende Abschwächungen der Krise und ihre abgeleiteten Erscheinungen – sind für uns keineswegs gleichgültig. Wenn ein verhältnismäßig gut ernährtes und blühendes Proletariat immer sehr sensibel für auch nur kleine Verschlechterungen in seiner Lage ist, dann ist das lange leidende, lange hungernde und erschöpfte Proletariat Deutschlands sogar für die kleinsten Verbesserungen seiner Lebensbedingungen empfänglich. Dies erklärt zweifellos die – wieder sehr instabile – Stärkung der Rehen der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbürokratie, die jetzt deutlich ist. Heute müssen wir mehr als jemals zuvor aufmerksam die Schwankungen der Handels- und Industriekonjunktur in Deutschland verfolgen und die Weise, wie sie sich im Lebensstandard der deutschen Arbeiter widerspiegeln.

Die Wirtschaft entscheidet, aber nur in letzter Instanz. Von direkterer Bedeutung sind jene politisch-psychologischen Prozesse, die jetzt im deutschen Proletariat stattfinden und die ebenfalls ihre eigene innere Logik haben. Die Partei bekam 3.600.000 Stimmen bei den Wahlen: ein großartiger proletarischer Kern! Aber die schwankenden Elemente haben sich von uns weg bewegt. Indessen ist eine direkte revolutionäre Lage immer dadurch gekennzeichnet, dass die schwankenden Elemente uns zuströmen. Wir können annehmen, dass sich sehr viele sozialdemokratische Arbeiter während der Wahlen sagten: Wir wissen sehr gut, dass unsere Führer große Schufte sind, aber wen können wir wählen? Die Kommunisten versprachen, die Macht zu übernehmen, erwiesen sich aber als unfähig und halfen nur der Reaktion.* Sollen wir denn den Nationalisten folgen?” Und mit Abscheu im Herzen stimmen sie für die Sozialdemokraten. Wir wollen hoffen, dass die Schule der bürgerlichen Reaktion das deutsche Proletariat schnell genug in seiner überwiegenden Mehrheit zwingen wird, eine revolutionäre Orientierung zu übernehmen, und diesmal endgültiger und für immer. Es ist notwendig, auf jede Weise bei diesem Prozess zu helfen. Es ist notwendig, ihn zu beschleunigen. Aber es ist völlig unmöglich, seine unvermeidlichen Phasen zu überspringen. Es wäre grundlegend falsch, die Lage so darzustellen, als ob nichts Außergewöhnliches passiert sei, als ob nur eine kleine Stockung eingetreten sei. Das würde nur zu den größten strategischen Fehlern führen. Was stattgefunden hat, ist keine oberflächliche Stockung, sondern eine ungeheure Niederlage. Die proletarische Vorhut muss ihre Bedeutung verdauen. Auf der Grundlage dieser Lehre muss die proletarische Vorhut den Prozess der proletarischen Kräfte um die 3.600.000 beschleunigen. Die revolutionäre Flut, dann die Ebbe und dann die neue Flut – diese Prozesse haben ihre eigene innere Logik und ihr eigenes Tempo. Revolutionen entfalten sich, wie gesagt, nicht bloß, Revolutionen werden organisiert. Aber es ist nur auf der Grundlage ihrer eigenen inneren Entwicklung möglich, Revolutionen zu organisieren. Die kritischen, abwartenden skeptischen Stimmungen in breiten Kreisen des Proletariats nach dem was passiert ist zu ignorieren, bedeutet, auf eine neue Niederlage zuzusteuern. Einen Tag nach der Niederlage kann selbst die beste revolutionäre Partei nicht willkürlich zu einer neuen Revolution aufrufen, genauso wenig wie der beste Geburtshelfer alle drei oder auch nur fünf Monte eine Geburt herbeiführen kann. Dass die revolutionäre Geburt des letzten Jahres nicht stattfand, ändert nichts daran. Das deutsche Proletariat muss durch ein Stadium der Wiederherstellung und Sammlung seiner Kräfte für einen neuen revolutionären Höhepunkt gehen, bevor die Kommunistische Partei nach einer Einschätzung der Lage das Zeichen für einen neuen Ansturm geben kann. Aber auf der anderen Seiten wissen wir, dass keine geringere Gefahr drohen würde, wenn bei einer neuen Wende die Kommunistische Partei erneut die revolutionäre Lage nicht erkennen und dadurch sich erneut als unfähig erweisen würde, sie bis zum Ende zu nutzen.

Zwei große Lehren kennzeichnen die Geschichte der deutschen Kommunistischen Partei: März 1921 und November 1923. Im ersten Fall verwechselte die Partei ihre eigene Ungeduld mit einer herangereiften revolutionären Lage; im zweiten Fall war sie unfähig, die herangereifte revolutionäre Lage zu erkennen, und ließ sie verstreichen. Dies sind die extremen Gefahren von „links” und „rechts” – dies sind die Begrenzungen, zwischen denen die Politik der proletarischen Partei in unserer Epoche allgemein verläuft. Wir werden weiter fest hoffen, dass die deutsche Kommunistische Partei es bereichert durch Kämpfe, Niederlagen und Erfahrungen in nicht zu ferner Zukunft schaffen wird, ihr Schiff zwischen der „März”-Skylla und der „November”-Charybdis hindurch zusteuern und dem deutschen Proletariat zu sichern, was es so ehrlich verdient hat: den Sieg!

Während in Deutschland die letzten Parlamentswahlen unter dem Einfluss der Gefahr des letzten Jahres der bürgerlichen Konzentration einen neuen Impuls nach rechts gegeben haben – aber im Rahmen des Parlamentarismus und nicht der faschistischen Diktatur – geht im ganzen Rest von Europa und Amerika die Verschiebung der herrschenden politischen Gruppen in die Richtung des „Versöhnlertums”. In England und Amerika herrscht die Bourgeoisie durch die Parteien der Zweiten Internationale. Der Sieg des Linksblocks in Frankreich bedeutet entweder eine offene oder schlecht getarnte (höchstwahrscheinlich offene) Beteiligung der Sozialisten an der Regierung. Der italienische Faschismus beschreitet den Weg der parlamentarischen „Regulierung” seiner Politik. In Amerika werden die versöhnlerischen Illusionen unter dem Banner der „Dritten Partei” mobilisiert. In Japan gewannen die Oppositionsparteien die Wahlen.

Wenn ein Schiff das Steuer verliert, ist es manchmal notwendig, seinen linken und rechten Motor abwechselnd laufen zu lassen: das Schiff bewegt sich im Zickzack, eine große Menge Energie wird vergeudet, aber das Schiff bewegt sich weiter. Das ist gegenwärtig die Manövrieranweisung der kapitalistischen Staaten Europas Die Bourgeoisie ist gezwungen, zwischen faschistischen und sozialdemokratischen Methoden zu wechseln. Der Faschismus war und bleibt am stärksten in den Ländern, in denen das Proletariat am dichtesten an die Macht kam, aber nicht in der Lage war, sie zu nehmen oder zu behalten: Italien, Deutschland, Ungarn etc. Im Gegensatz dazu beginnen versöhnlerische Tendenzen in dem Ausmaß das Übergewicht zu bekommen wie die Bourgeoisie die Gefahr des proletarischen Umsturzes weniger direkt zu fühlen beginnt. Während sich die Bourgeoisie stark genug fühlt, nicht auf die direkten Aktivitäten der faschistischen Banden zurückzugreifen, fühlt sie sich auf der anderen Seite nicht stark genug, ohne den menschewistischen Deckmantel auszukommen. In der Ära des Vierten Kongresses der Komintern, der direkt unter dem Eindruck der kapitalistischen Offensive und faschistischen Reaktion stattfand, schrieben wir, dass, wenn die deutsche Revolution nicht direkt aus der damals bestehenden Lage erwachsen und dadurch der ganzen politischen Entwicklung Europas eine neue Richtung geben würde, man dann mit völliger Sicherheit die Ersetzung des faschistischen Kapitels durch ein versöhnlerisches Kapitel erwarten können, insbesondere, dass in England eine Labour-Regierung und in Frankreich der Linksblock an die Macht kommt. Damals schien diese Vorhersage manchen das Säen von … versöhnlerischen Illusionen zu sein. Es gibt Leute, die es nur dadurch schaffen, Revolutionäre zu sein, dass sie ihre Augen schließen.

Bringen wir aber die wörtlichen Zitate. In einem Artikel „Politische Perspektiven”, der in der Iswestija vom 30. November 1922 veröffentlicht wurde, polemisierte ich gegen die vereinfachte, unmarxistische, mechanistische Sicht der politischen Entwicklung, die angeblich fatalistisch über die automatische Stärkung von Faschismus und Kommunismus zum Sieg des Proletariats führen muss. In diesem Artikel heißt es:

Schon am 16. Juni [1921] in meiner Rede auf einer Sitzung der Erweiterten Exekutive der Komintern entwickelte ich die Idee, dass wenn die revolutionären Ereignisse in Europa und Frankreich nicht zuerst ausbrechen, dann das ganze parlamentarisch-politische Leben Frankreichs unausweichlich beginnen würde, sich um die Achse des „Linksblocks” im Gegensatz zum gegenwärtig vorherrschenden „Nationalen Block” zu kristallisieren. In den anderthalb Jahren, die vergangen sind, hat die Revolution nicht stattgefunden. Und wer das Leben Frankreichs verfolgt hat, wird kaum leugnen, dass – mit Ausnahme der Kommunisten und der revolutionären Syndikalisten – seine Politik gegenwärtig auf dem Weg der Vorbereitung der Ersetzung des Nationalen Blocks durch den Linksblock verläuft. Es stimmt, dass Frankreich ganz unter dem Eindruck der kapitalistischen Offensive, endloser Drohung an die Adresse Deutschlands und so weiter bleibt. Aber parallel dazu gibt es eine wachsende Verwirrung unter den bürgerlichen Klassen, besonders den Zwischenschichten, die in Angst vor dem nächsten Tag leben, die wegen der Politik der „Reparationen” desillusioniert sind, die versuchen, die Finanzkrise durch Kürzungen bei den Ausgaben für den Imperialismus zu mildern, die Hoffnungen auf die Wiederherstellung der Beziehungen zu Russland setzen usw. usf. Diese Stimmungen erfassen auch einen beträchtlichen Teil der Arbeiterklasse durch die Vermittlung der reformistischen Sozialisten und Syndikalisten. So widerspricht die fortgesetzte Offensive des französischen Kapitalismus und der französischen Reaktion auf keine Weise der Tatsache, dass die französische Bourgeoisie klar eine neue Orientierung für sich vorbereitet.”

Und später in dem selben Artikel heißt es:

In England ist die Lage nicht weniger lehrreich. Als Ergebnis der jüngsten Wahlen wurde die Herrschaft der liberal-konservativen Koalition ersetzt durch rein konservative Herrschaft. Ein offensichtlicher Schritt nach „rechts”! Aber auf der anderen Seite bezeugen gerade die Ergebnisse der letzten Wahlen, dass das bürgerlich-versöhnlerische England schon voll eine neue Orientierung für sich vorbereitet hat für den Fall einer weiteren Verschärfung von Widersprüchen und Regierungsschwierigkeiten (und beide sind unvermeidlich) … Gibt es ernsthafte Gründe zu denken, dass das gegenwärtige konservative Regime direkt zur Diktatur des Proletariats in England führen wird? Wir sehen keine solchen Gründe. Im Gegenteil nehmen wir an, dass die unlösbaren wirtschaftlichen, kolonialen und internationalen Widersprüche des britischen Kolonialreichs heute sich als beträchtliche Nahrung für die plebejische Mittelschichtopposition in der Verkleidung der sogenannten Labour Party erweisen wird. Nach allen Anzeichen wird in England mehr als in jedem anderen Land auf dem Erdball die Arbeiterklasse durch das Stadium einer „Arbeiter”-Regierung in der Person der reformistisch-pazifistischen Labour Party gehen. Bei den letzten Wahlen hat sie schon rund 4¼ Millionen Stimmen erhalten.”

Aber bedeutet das nicht, dass Sie den Standpunkt vertreten, dass es eine Milderung der politischen Widersprüche gibt? Aber das ist doch nackter Opportunismus!” widersprachen jene Genossen, die sich nur gegen opportunistische Versuchungen schützen können, indem sie ihnen den Rücken zuwenden. Als ob das Vorhersehen eines vorübergehenden Anstiegs versöhnlerischer Illusionen gleichbedeutend damit wäre, sie in irgend einem Grad zu teilen! Es ist natürlich viel einfacher, nichts vorherzusehen und sich auf die Wiederholung heiliger Formeln zu beschränken. Aber heute braucht man den Konflikt nicht fortzusetzen. Die Ereignisse haben die Bestätigung dieser Prognose geliefert: wir haben MacDonalds Regierung in England, die Stauning-Regierung in Dänemark, den Sieg des Linksblocks in Frankreich und der Oppositionsparteien in Japan, während am politischen Horizont der Vereinigten Staaten die Symbolfigur Lafolette droht, natürlich eine ziemlich hoffnungslose Figur.

Die Wahlen in Frankreich liefern die endgültige Klärung eines weiteren Konflikts: bezüglich des Einflusses der französischen sozialistischen Partei. Es ist sehr gut bekannt, dass diese „Partei” fast ohne Organisation ist. Ihre offizielle Presse ist ziemlich erbärmlich und wird von kaum jemandem gelesen. Von diesen unleugbaren Tatsachen ausgehend neigten manche Genossen dazu, die sozialistische Partei als unbedeutsame Größe zu betrachten. Diese beruhigende aber falsche Sicht fand zufällig selbst in gewissen offiziellen Dokumenten der Komintern Ausdruck. In Wirklichkeit ist es durch und durch falsch, den politischen Einfluss der französischen Sozialisten auf der Grundlage ihrer Organisation oder der Verbreitung ihrer Presse einzuschätzen. Die sozialistische Partei stellt einen Apparat dar, der Arbeiter in das Lager der „radikalen” Bourgeoisie zieht. Weder die rückständigeren noch die privilegierteren Elemente der Arbeiterklasse brauchen eine Organisation oder eine Parteipresse. Sie treten der Partei oder den Gewerkschaften nicht bei; sie stimmen für die Sozialisten und lesen die Boulevardpresse. Das Zahlenverhältnis zwischen den Parteimitgliedern, den Abonnenten der Parteipresse und den Wählern ist unter den Sozialisten nicht das selbe wie unter den Kommunisten. Wir hatten mehr als einmal Gelegenheit, uns dazu zu äußern. Ziehen wir wieder ein wörtliches Zitat heran. Schon am 2. März 1922 schrieben wir in der „Prawda”:

Wenn wir den Umstand berücksichtigen, dass die Kommunistische Partei 130.000 Mitglieder hat, während die Sozialisten 30.000 haben, dann werden die ungeheuren Erfolge der kommunistischen Idee in Frankreich ziemlich offensichtlich. Aber wenn wir das Verhältnis dieser Zahlen zur zahlenmäßigen Stärke der Arbeiterklasse als ganzer berücksichtigen, das Ausmaß der reformistischen Gewerkschaften und der antikommunistischen Strömungen in den revolutionären Gewerkschaften, dann stellt uns die Frage der Vorherrschaft der Kommunistischen Partei in der Arbeiterbewegung eine sehr schwierige Aufgabe, die keineswegs durch ein zahlenmäßiges Übergewicht über die Dissidenten (Sozialisten) gelöst ist. Unter gewissen Umständen können sich letztere als viel bedeutsamerer konterrevolutionärer Faktor innerhalb der Arbeiterklasse erweisen als es scheinen könnten, wenn man bloß nach der Schwäche ihrer Organisation, der bedeutungslosen Verbreitung und dem ideologischen Inhalt ihres Organs, des „Populaire” urteilen würde.

Vor ziemlich kurzer Zeit hatten wir Gelegenheit, auf die selbe Frage zurückzukommen. Anfang des Jahres nannte eines der Dokumente die sozialistische Partei „sterbend” und erklärte, dass nur ein „paar Arbeiter” sie wählen würden usw. usf. In diesem Zusammenhang schrieb ich am 7 Januar diesen Jahres folgendes:

Es ist zu bequem, von der französischen sozialistischen Partei als „sterbend” zu sprechen und zu sagen, dass nur „ein paar Arbeiter” für sie stimmen würden. Dies ist eine Illusion. Die französische sozialistische Partei ist eine Wahlorganisation eines beträchtlichen Teils der passiven und halb passiven Arbeitermassen. Wenn unter den Kommunisten das Verhältnis zwischen denen, die organisiert sind, und denen, die wählen, meinetwegen 1 : 10 oder 1 : 20 ist, dann kann sich unter den Sozialisten das Verhältnis als 1 : 50 oder 1 : 100 erweisen. Unsere Aufgabe in den Wahlkampagnen besteht in großem Maß darin, beträchtliche Teile der passiven Arbeitermasse, die nur bei Wahlen erwachen, abzuspalten. Und um das zu erreichen, darf man den Feind nicht unterschätzen.”

Die jüngsten französischen Wahlen haben ganz und entschieden die obigen Ansichten bestätigt. Die Kommunisten mit einer viel stärkeren Parteiorganisation und Parteipresse erzielten beträchtlich weniger Stimmen als die Sozialisten. Selbst die Zahlenverhältnisse erwiesen sich ungefähr so wie vorsichtig geschätzt … Trotzdem stellt der Umstand, dass unsere Partei 900.000 Stimmen bekam, einen ernsten Erfolg dar. Besonders wenn wir das schnelle Wachstum des Einflusses in den Vorstädten von Paris berücksichtigen!

Heute gibt es allen Grund zu erwarten, dass der Eintritt der sozialistischen Partei in den Linksblock und damit ihre Regierungsbeteiligung günstige Bedingungen für das Wachstum des politischen Einflusses der Kommunisten schaffen wird, weil sie die einzige Partei ohne irgendwelche politischen Verpflichtungen gegenüber dem bürgerlichen Regime ist.

In Amerika nehmen die versöhnlerischen Illusionen des Kleinbürgertums, in erster Linie der Farmer, und die kleinbürgerlichen Illusionen des Proletariats die Form der Dritten Partei an. Letztere wird gegenwärtig um den Senator Lafolette mobilisiert, genauer genommen um seinen Namen, denn der Senator selbst, der fast 70 Jahre alt ist, hat noch keine Zeit gefunden, aus den Reihen der Republikanischen Partei auszutreten. All dies liegt übrigens ganz in der Natur der Dinge. Aber wirklich erstaunlich ist die Haltung gewisser Führer der amerikanischen Kommunistischen Partei, die vorschlagen, der Partei eine Stimmabgabe für Lafolette zu empfehlen, weil sie hoffen, auf diese Weise kommunistischen Einfluss auf die Farmer zu erlangen. Obendrein führen sie das Beispiel des russischen Bolschewismus an, der angeblich die Bauernschaft durch diese Art Politik gewonnen hat. Zusätzlich dazu gibt es natürlich keinen Mangel an Varianten des Themas, das schon jeden Schein von Sinn verloren hat, nämlich, dass die „Unterschätzung” der Bauernschaft das Hauptmerkmal des Menschewismus sei. Die Geschichte des Marxismus und Bolschewismus in Russland ist in erster Linie die Geschichte eines Kampfs gegen die Narodniki (Volkstümler) und Sozialrevolutionäre. Dieser Kampf schuf die Voraussetzung für den Kampf gegen den Menschewismus und hatte grundlegend die Aufgabe, den proletarischen Charakter der Partei zu sichern. Jahrzehntelanger Kampf gegen das kleinbürgerliche Narodnikitum befähigten den Bolschewismus im entscheidenden Augenblick, das heißt im Augenblick des offenen Kampfs um die Macht, die Sozialrevolutionäre mit einem einzigen Schlag zu zerstören, ihr Agrarprogramm in Besitz zu nehmen und die bäuerlichen Massen hinter die Partei zu ziehen. Diese politische Enteignung der Sozialrevolutionäre war die notwendige Voraussetzung für die wirtschaftliche Enteignung der Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie. Es ist ziemlich offensichtlich, dass der Weg, den gewisse amerikanische Genossen zu gehen bereit sind, mit dem Weg des Bolschewismus nichts gemein hat. Für eine junge und schwache Kommunistische Partei, der die revolutionäre Stählung fehlt, bedeutet die Rolle des Anwalts und Sammlers „fortschrittlicher Stimmen” für den republikanischen Senator Lafolette den Weg zur Auflösung der Partei im Kleinbürgertum. Schließlich kommt Opportunismus nicht nur in Stimmungen zugunsten von schrittweisem Vorgehen, sondern auch in politischer Ungeduld zum Ausdruck: er versucht häufig zu ernten, wo nicht gesät wurde, Erfolg einzufahren, der seinem Einfluss nicht entsprechen. Unterschätzung der Grundaufgabe – die Entwicklung und Stärkung des proletarischen Charakters der Partei – ist hier der Hauptzug des Opportunismus! Mangelndes Vertrauen an die Macht des Proletariats ist die Quelle der phantastischen Sprünge auf der Jagd nach den Farmern, die die Kommunistische Partei den Kopf kosten kann. Dass die Kommunistische Partei aufmerksam die Bedürfnisse und Stimmungen der Farmer verfolgen, die gegenwärtige Krise politisch zur Ausdehnung ihres Einflusses auf dem Lande nutzen muss – das ist ganz selbstverständlich. Aber die Partei kann die Farmer und das Kleinbürgertum allgemein nicht durch alle politischen Stadien und Zickzacks begleiten, es kann nicht bereitwillig durch alle Illusionen und Desillusionierungen gehen, Lafolette hinterherlaufen, um ihn später zu entlarven. Letztlich wird die Masse der Farmer der Kommunistischen Partei in den Kampf gegen die Bourgeoisie nur in dem Fall folgen, dass sie überzeugt ist, dass diese Partei eine Kraft darstellt, die fähig ist, der Bourgeoisie die Macht zu entreißen. Und die Kommunistische Partei kann so eine Kraft in der Aktion und folglich in den Augen der Farmer nur werden als Vorhut des Proletariats aber nie als Schwanz der Dritten Partei.

Die Schnelligkeit, mit der falsche Ausgangspunkte zu den krassesten politischen Fehlern führen, wird durch ein Dokument gezeigt, das im sogenannten Organisationskomitee entstand, das zur Einberufung eines Kongresses der Dritten Partei im Juni zur Ernennung von Lafolette als Präsidentschaftskandidat errichtet wurde. Der Vorsitzende dieses Komitees ist einer der Führer der Farmer-Labor-Party des Bundesstaats Minnesota; sein Sekretär ist ein Kommunist, der für diese Arbeit von der Kommunistischen Partei zur Verfügung gestellt wurde. Und jetzt hat dieser Kommunist seine Unterschrift unter ein Manifest gesetzt, das an „fortschrittliche Wähler” appelliert, erklärt, dass das Ziel der Bewegung das Erlangen von „nationaler politischer Einheit” ist; und das Vorwürfe zurückweist, dass die Kampagne unter der Kontrolle der Kommunisten sei, indem es erklärt, dass die Kommunisten eine unbedeutende Minderheit darstellen und dass selbst wenn sie versuchen würden, die Führung zu erlangen, sie das nie schaffen könnten, da das Ziel der [Farmer-Labor-]”Partei” konstruktive Gesetzgebung ist und nicht Utopien. Und für diese Mittelschicht-Scheußlichkeiten übernimmt die Kommunistische Partei Verantwortung in den Augen der Arbeiterklasse! In wessen Namen? Im Namen davon, dass die Inspiratoren dieses ungeheuerlichen Opportunismus, die durch und durch von Skepsis gegenüber dem amerikanischen Proletariat durchdrungen sind, ungeduldig versuchen, das Schwergewicht der Partei in das Farmermilieu zu verlegen – ein Milieu, das durch die Agrarkrise erschüttert wird. Aber wenn man, sei es mit Vorbehalt, die schlimmsten Illusionen des Kleinbürgertums unterstützt, ist es überhaupt nicht schwierig, sich die Illusion zu machen, man übe Einfluss auf das Kleinbürgertum aus. Wenn man denkt, dass der Bolschewismus daraus besteht, dann versteht man nichts vom Bolschewismus.**

Es ist schwer vorherzusagen, wie lange die gegenwärtige Phase des Versöhnlertums andauern wird. Aber nach allen Ereignissen kann man nicht einmal davon reden, dass das bürgerliche Europa fähig wäre, das wirtschaftliche Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent wiederherzustellen, noch weniger mit den Vereinigten Staaten. In Bezug auf die Probleme der Reparationen wird natürlich ein großer Versuch für eine versöhnlerische Lösung gemacht. Dass der Linksblock in Frankreich an die Macht kommt, stärkt diesen Versuch. Aber der grundlegende Widerspruch des ganzen Problems bleibt immer noch: Damit Deutschland zahlen kann, muss es exportieren. Um viel zu zahlen, muss Deutschland viel exportieren; aber deutsche Exporte bedrohen die von England und Frankreich. Um die Möglichkeit eines siegreichen Kampfes auf dem europäischen Markt wiederzuerlangen, der sich extrem verengt hat, müsste die deutsche Bourgeoisie gigantische innere Schwierigkeiten überwinden, und dies muss einfach von einer neuen Verschärfung des Klassenkampfes begleitet sein. Auf der anderen Seite hat Frankreich selbst monströse Schulden, mit deren Zahlung es noch nicht begonnen hat. Um mit dem Zahlen zu beginnen, muss Frankreich seine Exporte verstärken, das heißt Englands Schwierigkeiten auf dem Feld des Außenhandels vergrößern. Indessen hat England kaum 75 Prozent seiner Vorkriegsexporte erreicht. Angesichts der grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Probleme zeigt die Versöhnler-Regierung von MacDonald ihren Bankrott in viel größerem Ausmaß, als man vielleicht erwartet hat. Unnötig zu sagen, dass die Dinge im Falle der Linksblockregierung in Frankreich nicht viel besser sein werden. Europas Sackgasse, die jetzt durch internationale und innere Abkommen versteckt wurde, wird sich erneut in ihrem revolutionären Wesenskern enthüllen. Ohne Zweifel werden sich die Kommunistischen Parteien für jenen Augenblick als besser vorbereitet erweisen. Die jüngsten Parlamentswahlen in einer Reihe von Ländern zeigen, dass der Kommunismus schon eine mächtige geschichtliche Kraft darstellt und dass diese Kraft wächst.

1 die zwei Wörter im Original deutsch

* Das ist das vielsagendste Argument der sozialdemokratischen Gauner und Schufte – L.T.

** Natürlich wies das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale diese Politik zurück, die so völlig falsch und so extrem gefährlich ist. Die Entscheidung des EKKI war sehr willkommen. Ein paar Tage nach ihrer Annahme trat Senator Lafolette mit einem wütenden Angriff gegen die Kommunisten auf und erklärte fromm, dass er nichts mit irgend einem Unternehmen gemein haben würde, mit dem diese Schufte, diese rote Ausgeburt der Hölle und Moskaus zu tun hätten. Hoffen wir, dass diese Lehre sich nicht als nutzlos für gewisse superschlaue Strategen erweisen wird. – L.T., 4. Juni 1924

Kommentare