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Clara Zetkin 19160428 Maigedanken

Clara Zetkin: Maigedanken

[Nach „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, 26. Jahrgang Nr. 16, 28. April 1916, S. 117]

Nichts beleuchtet so grell und schmerzlich den Abgrund, der sich im Dasein der sozialistischen Arbeitermassen aller Länder zwischen einst und jetzt aufgetan hat, wie der Tag des 1. Mai. Mit welchen Gefühlen, mit welchen Wünschen und Hoffnungen blickten wir sonst auf den Weltfeiertag der Arbeit! Für Millionen Proletarier und Proletarierinnen war er der alljährliche Bote und Künder der Völkerverbrüderung, des Weltfriedens, des großen Bruderbundes der Arbeiter aller Zungen und Zonen, und heute! … Schon zum zweiten Male geht die Sonne des 1. Mai über einem furchtbaren Blutmeer auf. Fast zwei volle Jahre dauert die gegenseitige Zerfleischung der Völker, und die ersehnte Retterin der Menschheit, die proletarische Internationale, ist zertrümmert.

Auch in der tiefsten Not, ja gerade in der Not ist es das beste, dem Lassalleschen Grundsatz gemäß „auszusprechen, was ist". Die sozialistische Internationale liegt am Boden, sie ist nicht mehr. Sich oder andere darüber zu täuschen, hieße gerade die verhängnisvolle Politik der Illusionen geflissentlich weiter nähren, die vor unseren Augen schmählich Bankrott erlitten hat. Aber der Gedanke an den 1. Mai beleuchtet nicht nur den Ruin der zweiten Internationale, er weist auch hin auf das Warum ihres Zusammenbruchs und das Wie ihrer künftigen Auferstehung.

Wenn die zweite Internationale sich plötzlich, binnen vierundzwanzig Stunden, in Dunst auflösen konnte, so beweist das nur, dass ihr Dasein früher schon in der Luft schwebte. Wenn sie in der Stunde der Entscheidung auf die Empfindungen und das Handeln der Massen so gar keinen Einfluss hat ausüben können, so zeigt diese Tatsache, dass die Internationale im geistigen Leben der Massen überhaupt noch keine Wurzel geschlagen hatte. Und hier steckt der Knoten des Problems.

Manche Proletarier und Proletarierinnen schauen sich mit blutendem Herzen um und rufen schmerzlich: Wo ist die Internationale geblieben? Warum schweigt sie? Wann wird sie wieder ihre Stimme erheben? Und dabei richten sie ihre Blicke nach Brüssel, nach Paris, nach den Haag, nach Bern, als ob von dort die Heilsbotschaft kommen sollte von der Auferstehung der Internationale. Allein die so rufen, sind in argem Irrtum befangen. Nicht irgendwo draußen, bei sich selbst müssen sie die Internationale suchen. Jeder sozialdemokratische Arbeiter, jede Arbeiterin und Arbeiterfrau muss sich sagen: Die Internationale, das bist du!

Die Internationale, das ist nicht ein Büro, ein Kongress, eine Instanz aus ein oder zwei Dutzend Leuten, eine Instanz, die Schriftstücke hinausschickt in die Länder. Die sozialistische Internationale, die mehr als ein schöner Traum sein, die sich zu Fleisch und Blut verkörpern soll, das sind die proletarischen Massen aller Länder, die den Gedanken der Weltverbrüderung der Arbeitenden in ihr Herz und Hirn mitgenommen haben. Die Internationale als politische Wirklichkeit, das sind die Massen der Arbeitenden, denen dieser Gedanke aus einem Sonntagsparadestück zur täglichen Praxis, zum Leitstern all ihres Tuns und Lassens geworden ist.

Um die Internationale wiederherzustellen, hat man deshalb gar nicht nötig, aus Deutschland herauszugehen, ebenso wenig wie man dazu Frankreich, England oder Russland zu verlassen braucht. Die Internationale lebt von selbst auf, sobald Arbeitermassen der wichtigsten Länder getreu nach den sozialistischen Grundsätzen handeln. Umgekehrt bleibt die Internationale tot, sie ist nichts weiter als ein „übertünchtes Grab", wenn in London, Wien, Kopenhagen oder sonstwo Vertreter der Arbeiterparteien verschiedener Länder sich an einen Tisch zusammensetzen, um papierene Resolutionen zu fassen, während ihre praktische Politik, ihr Handeln ein Spott und Hohn auf die sozialdemokratischen Grundsätze ist. Die Internationale bleibt tot, solange die Arbeitermassen allenthalben das Wachs bleiben, aus dem kleine Staatsmänner in verschiedenen Parteitrachten Figuren modeln, wie es ihnen gefällt.

Bei sich selbst muss jeder Einzelne am Bau der Internationale arbeiten. Nicht von Delegierten, Vertretern, Abgeordneten, Führenden jeder Art sollen die Proletarier und Proletarierinnen die Heilsbotschaft von der Wiederauferstandenen erwarten. Sie selbst können allein das Wunder vollbringen, das Wunder, das so einfach und selbstverständlich ist, wie alle großen Gesetze der Entwicklung, wie alle ehernen geschichtlichen Notwendigkeiten. Auch der Mai der Völkerverbrüderung wird nicht vom Himmel herabsinken, als ein Gnadengeschenk heldenhafter Persönlichkeiten. Den Frühlingstag ihrer Rückkehr zum Sozialismus müssen sich die Arbeiterscharen selbst erringen. Gemäß der Weisung ihres Meisters Karl Marx: „Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst."

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