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revolutionäre Gärung in den 1870er Jahren

In den siebziger Jahren begann die revolutionäre Stimmung sich wieder zu beleben, diesmal hauptsächlich unter der städtischen Intelligenz und unter den Fabrikarbeitern. Das kam in einer bedeutenden Entwicklung der revolutionären Organisationen und in der Verstärkung ihrer Tätigkeit (besonders der der Partei „Volkswille“) zum Ausdruck. Es zeigten sich auch Anzeichen wachsender Unzufriedenheit unter den liberalen Schichten des Adels und der Bourgeoisie. Bei den Semstwo-Liberalen machten sich nicht nur konstitutionelle Bestrebungen, sondern auch Versuche zur Gründung illegaler Vereinigungen und einer illegalen Presse bemerkbar. Zugleich zeigten aber diese Versuche auch die gänzliche politische Ohnmacht der Semstwo-Liberalen. Sobald die Regierung den Liberalen durch Auswechslung der reaktionärsten Minister und nebelhafte Versprechungen einige Zugeständnisse gemacht hatte, verhielten sich die Liberalen gegenüber der revolutionären Bewegung, die sie auch sonst nicht zur Verstärkung ihrer Bestrebungen auszunützen verstanden, direkt feindselig. So gelang es der Regierung, die Liberalen wiederum durch Versprechungen und Betrug auf ihre Seite zu bekommen. Nach der Ermordung Alexanders II. machten sie eine besonders energische Wendung zur Vereinbarung mit der Regierung. Diese verfolgte anfangs die Politik, die Liberalen durch Versprechungen zu sich heranzuziehen. Sobald sich aber gezeigt hatte, dass in der nächsten Zeit kein Ausbruch einer revolutionären Massenbewegung zu erwarten sei, ging die Regierung zum reaktionären Gegenangriff über. [Ausgewählte Werke, Band 2]

Die revolutionäre Situation von 1879-1880 in Russland war das Ergebnis von zwanzig Jahren kapitalistischer Entwicklung unter Beibehaltung starker Überreste der Leibeigenschaft auf dem Lande nach der „Bauernbefreiung“ vom Jahre 1861. Mit jedem neuen Schritt der kapitalistischen Entwicklung gesellte sich zu dem Joch der halb fronherrlichen Gutsbesitzer auch noch das Joch des Kapitals. Auf Grund dieser doppelten Unterjochung erwuchs die revolutionäre Bewegung des „Narodnikitums“ der siebziger Jahre. In seinem Wesen brachte das Narodnikitum die demokratischen Bestrebungen der gesamten Bauernschaft und ihr Verlangen nach endgültiger Befreiung von den Fesseln der Leibeigenschaft zum Ausdruck. Durch ihren kleinbürgerlichen, utopischen Sozialismus und ihre Verneinung des kapitalistischen Weges der Entwicklung Russlands widerspiegelten sie das Bestreben des verelenden Kleinbauern, ihre Wirtschaft vor dem neuen Joch des sich entwickelnden Kapitalismus, vor den neuen kapitalistischen Fesseln zu retten. Dadurch, dass die Narodniki, ob sie wollten oder nicht, gezwungen waren, eine Stütze in den Arbeitermassen der Städte zu suchen und aus ihnen ihre Reihen aufzufüllen, trugen die revolutionären Narodniki infolge ihrer Propaganda in den Fabriken und Werken zur Erweckung der Arbeiterbewegung und zur Entstehung der ersten Arbeiterorganisationen gerade am Ende der siebziger Jahre bei, zu welcher Zeit das Narodnikitum in Gestalt der Partei „Volkswille“ zu unmittelbarem Kampfe gegen den Zarismus auf dem Wege des Terrors überging. Die liberale Bourgeoisie, besonders aber die liberalen Gutsbesitzer, d. h. jene, die zu kapitalistischen Methoden der Wirtschaftsführung übergegangen waren, suchten diesen terroristischen Kampf der Partei „Volkswille“ gegen den Zarismus dazu auszunützen, um den Zarismus zu liberalen Reformen zu zwingen. Dieser Aufschwung der revolutionären und der liberalen Bewegung am Ende der siebziger Jahre und die revolutionäre Situation in den Jahren 1879 und 1880, die von einer gewissen Zerfahrenheit der zaristischen Regierung begleitet war, erhielten einen bedeutenden Anstoß durch den Russisch-türkischen Krieg von 1876-1877, der 1. durch seine Lasten die Verelendung des Bauerntums und die Not der Arbeiterklasse verschlimmerte, 2. die Offensive des Zarismus gegen das revolutionäre Narodnikitum und den weißen Terror gegen dieses verstärkte und 3. der liberalen Bourgeoisie Waffen gegen die Regierung in die Hand gab, denn die Bourgeoisie war mit den Ergebnissen des Krieges nicht zufrieden, da er keine Beherrschung des Ausganges aus dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer gebracht hatte. Es entstand eine revolutionäre Situation, aber es kam nicht zur Revolution. Bald siegte der Zarismus, der nur eine Handvoll, wenn auch gut organisierter und heldenhaft kühner Revolutionäre gegen sich hatte, dem aber weder eine Bewegung der Bauernmassen noch eine starke Arbeiterbewegung gegenüberstand. Diese war zwar schon im Entstehen begriffen, steckte aber noch in den Kinderschuhen. Deshalb wurde auch die revolutionäre Situation von 1879-1880 von einer Ära der schwärzesten Reaktion in den achtziger Jahren abgelöst.. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 52]

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