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Karl Kautsky 19050208 Eine Geschichte der Internationale

Karl Kautsky: Eine Geschichte der Internationale

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 1. Band.(1904-1905), Heft 20, S. 655-659, 8. Februar 1905]

Je älter unsere Bewegung wird, desto größere Bedeutung gewinnt die Kenntnis ihrer Geschichte. Sie wird wichtig nicht bloß für theoretische, sondern auch für praktische Zwecke. Allerdings darf man sich die Geschichte als Lehrerin nicht in der primitiven Weise vorstellen, dass sie uns die Fehler aufzeigte, die in der Vergangenheit gemacht wurden und die wir nun zu vermeiden hätten, so dass wir bloß diese Fehler zu kennen brauchten, um in der Zukunft unseren Aufgaben besser gerecht werden zu können. So einfach liegt die Sache nicht. Die Geschichte ist nicht eine Aufeinanderfolge von Wiederholungen derselben Situationen. sondern diese, die Aufgaben, die sie uns stellen, die Kräfte, die sie uns geben, sind in stetem Wechsel begriffen. Wer direkt aus den Beispielen der Vergangenheit die Regeln für sein Verhalten in der Zukunft entnehmen will, wird leicht noch größere Fehler begehen als einer, der sich bloß an die Gegenwart hält, denn wenn er diese bloß für einen Abklatsch der Vergangenheit hält, so wird ihm das die Erkenntnis der Wirklichkeit eher erschweren als erleichtern. So war zum Beispiel in Frankreich die Situation 1848 eine ganz andere als 1793, und 1871 wieder eine ganz andere als 1848, und dass man das nicht wusste, sondern in der späteren Revolution nur eine Wiederholung der früheren sah, verursachte eine Reihe schwerer politischer Fehler.

Nicht auf der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart haben wir unsere praktischen Ziele und praktischen Mittel zu holen Der Glaube, als könnte dafür die Geschichte direkt unsere Lehrmeisterin sein, beruht auf der Annahme, als seien die Menschen und die menschlichen Gesellschaften von jeher dieselben gewesen, als führten sie immer wieder dieselben Schauspiele auf, nur mit geänderten Kostümen und Dekorationen. Diese Annahme wird hinfällig mit der Erkenntnis, dass die Gesellschaft und mit ihr das menschliche Fühlen und Denken in beständiger Entwicklung begriffen ist, die immer wieder neue, unerhörte Formen schafft. Damit erhält die Geschichte als Lehrmeisterin für unsere praktische Tätigkeit ein anderes Gesicht. Wir können nicht mehr erwarten, direkt aus der Vergangenheit die Erkenntnis unserer heutigen Ausgaben und der Mittel ihrer Lösung zu schöpfen, das Studium der Vergangenheit hilft uns dabei nur insofern, als es uns die Gegenwart besser verstehen lehrt. Wir können eine Erscheinung für sich allein nicht begreifen, sondern nur in ihrem Zusammenhang mit anderen Erscheinungen und nur durch Vergleichung mit ähnlichen Erscheinungen, nur dadurch vermögen wir die charakteristische Besonderheit dieser einen Erscheinung zu erkennen und das Wesentliche, Typische vom Zufälligen daran zu unterscheiden.

So werde ich auch die proletarische Bewegung eines bestimmten Landes und einer bestimmten Zeit, ihre Aufgaben, ihre Taktik und ihre Aussichten um so besser begreifen, je mehr ich neben ihr auch die proletarischen Bewegungen anderer Länder und anderer Zeiten kenne, je besser ich ihre Kämpfer, Kampfmittel und deren Erfolge studiert habe. Es kann sich dabei nicht darum handeln, einfach die anderswo und zu anderen Zeiten erfolgreich angewandten Mittel und Methoden des Kampfes herauszusuchen, um sie auf dieses Land und diese Zeit zu übertragen und die erfolglos angewandten abzulehnen, denn was früher und anderswo erfolgreich gewesen, kann heute für uns schädlich geworden sein, und umgekehrt können Zeit und Ort für manche Art des Kampfes gekommen sein, die früher anderswo Misserfolge erzielten. Aber je besser ich die früheren und ausländischen proletarischen Bewegungen in ihren Zusammenhängen begreife, desto besser werde ich auch die heimischen Bewegungen unserer Zeit begreifen und ihre Aufgaben, Methoden und Aussichten erfassen.

Die Geschichte ist also unsere Lehrmeisterin nicht dadurch, dass sie uns in der Vergangenheit einen Spiegel der Gegenwart und Zukunft vorhält und eine Sammlung von Beispielen und Regeln gibt, aus der wir das für uns Passende auszusuchen und zu befolgen haben, sondern sie ist unsere Lehrmeisterin dadurch, dass sie unseren Blick für das Verständnis der Eigenart der Gegenwart, ihrer besonderen Bedürfnisse und ihrer besonderen Mittel schärft. Auf diese Weise aber ist sie für jede große politische Bewegung unentbehrlich.

In den Anfängen unserer Bewegung wurde die Kenntnis der Parteigeschichte fast nur durch die mündliche Tradition fortgepflanzt. Dieses Mittel versagt jedoch immer mehr, je älter unsere Bewegung wird. Der Stoff, der zu überliefern ist, wächst ungeheuer, ebenso die Masse der Neulinge, denen er überliefert werden soll, dagegen lichten sich rapid die Reihen derjenigen, die noch das Heldenzeitalter der Sozialdemokratie mitgemacht und die aus eigener Erfahrung davon erzählen können. Die Sammlung der Dokumente zur Parteigeschichte und ihre Verarbeitung in zusammenfassenden Darstellungen wird immer notwendiger.

Eine der größten Lücken in der Parteigeschichte bildete bisher die Geschichte der Internationale. Die deutsche Parteiliteratur weist nur zwei Schriften darüber auf, Eichhoffs „Die internationale Arbeiterassoziation" und die Denkschrift des Generalrats über das Treiben Bakunins, ins Deutsche übersetzt von Kokosky unter dem Namen „Ein Komplott gegen die internationale Arbeiterassoziation". Beide Schriften behandeln nur einzelne Partien der Geschichte der Internationale. Die Eichhoffsche Schrift erschien 1868, konnte also schon deswegen nicht ihre ganze Geschichte geben. Im Wesentlichen ist sie nur die Zusammenstellung einiger Dokumente. Und die Denkschrift gegen Bakunin behandelt nur jene Bestrebungen, die zur Auflösung der Internationale führten. Beide Broschüren aber sind im Buchhandel vergriffen, der Parteinachwuchs hatte also in letzter Zeit gar keine Gelegenheit, sich über die Internationale zu informieren, die neben der Lassalleschen Organisation die erste Form der Sozialdemokratie darstellt, zuerst die ihr eigentümlichen Probleme entwickelt hat, allerdings in einem noch recht primitiven Stadium des internationalen Proletariats, dafür aber unter der Leitung eines Karl Marx.

Wenn dieser so interessante Stoff bisher nicht eine historische Bearbeitung fand, obwohl sie ein lebhaftes Bedürfnis geworden war, so ist dies wohl den großen Schwierigkeiten der Aufgabe zuzuschreiben: muss doch der Geschichtsschreiber der Internationale in der politischen und ökonomischen Geschichte aller Länder des modernen Kapitalismus zu Hause sein und die Marxschen Gedankengänge ebenso beherrschen wie die vormarxistischen Denkformen des Sozialismus.

Der vierzigste Jahrestag der Gründung der „Internationale" gab endlich den Anstoß zu einer Schrift, die nach der Absicht des Verfassers nur eine Gelegenheitsarbeit werden sollte, eine kurze Übersicht des äußeren Entwicklungsganges dieser großen proletarischen Organisation. Er verzichtete darauf, den tieferen Zusammenhängen nachzuspüren, die einzelnen Erscheinungen aus ihrem Milieu herauswachsen zu lassen. Hätte er das leisten wollen, dann musste er mehrere Jahre ausschließlich dieser Arbeit widmen, die ein dickleibiges Werk geworden wäre.

Aber obwohl er darauf verzichtete und uns nur den äußeren Entwicklungsgang zu geben suchte, ist er dabei doch über den Rahmen einer Gelegenheitsschrift weit hinausgekommen und dazu gelangt, an Stelle der Skizze, die er geplant, eine eingehende, wohlfundierte Darstellung aller wichtigen Ereignisse in der Internationale zu geben, ihre erste wirkliche Geschichte, und damit eine große Lücke unserer Parteiliteratur auszufüllen. So groß die Schwierigkeiten dabei waren, er hat sie überwunden und eine sehr wertvolle Arbeit geliefert.*

Nur in kleinen Einzelheiten hätten wir Ausstellungen zu machen. So wendet Jaeckh sich zum Beispiel dagegen, dass die Franzosen 1865 darüber klagten, sie hätten kein freies Versammlungsrecht. Diese Klage sei „nur halb berechtigt" gewesen. „Bekanntlich hatte Napoleon Ill. bereits ein Jahr zuvor das Verbot gegen die Gewerkvereine aufgehoben" ('S. 17). Hier liegt eine Verwechslung vor. 1864 wurde nicht das Verbot der gewerkschaftlichen Organisation, sondern nur das des Streikens aufgehoben. Die Klage der Franzosen war vollständig berechtigt.

Auch sonst zeigt sich Jaeckh den französischen Mitgliedern der Internationale nicht sehr hold, er wendet sich gegen die Proudhonisten im Allgemeinen mit größerer Härte, als sie verdienen.

Man muss die Leute an ihrer Zeit messen, an der Einsicht. die damals die durchschnittliche war, und nicht an jener, die wir heute erlangt haben. Was heute eine unverzeihliche Torheit wäre, angesichts der Erkenntnisse, die wir teils aus unseren praktischen Erfahrungen, namentlich aber aus der theoretischen Schulung durch Marx geschöpft, konnte vor vierzig Jahren bei den damaligen Erfahrungen und durchschnittlichen theoretischen Kenntnissen eine ganz respektable Leistung sein. Wenn uns so vieles an den Sozialisten jener Zeit unglaublich verworren erscheint. so beweist das nicht ihre Kleinheit gegenüber dem Durchschnitt. sondern die enorme Größe von Marx, der damals schon alles das wusste, was wir seitdem von ihm gelernt, der sie alle riesenhoch überragte, von den wenigsten begriffen, von vielen gefürchtet, ja gehasst. weil sie seine Überlegenheit nur empfanden, nicht verstanden, so dass sie dadurch niedergedrückt, nicht erhoben wurden.

Übrigens gab es auch in der Internationale nicht wenige Köpfer die die Größe von Marx neidlos anerkannten, von ihm zu lernen suchten und selbst auf Gebieten, wo sie Marx nicht begriffen, großen Scharfsinn an den Tag legten. So zum Beispiel Jean Philipp Becker, den Jaeckh ebenfalls etwas zu geringschätzig behandelt. Der alte Jean Philipp war ein ganzer Mann und bei aller Naivität ein kluger Taktiker, ein feiner Kopf, ein imponierender Charakter.

Beurteilt Jaeckh die Menschen der Internationale zu sehr vom Standpunkt unserer statt ihrer Zeit, so steht er ihnen auch zu sehr als Kämpfer, zu wenig als Geschichtsschreiber gegenüber, und er kämpft nochmals in seiner temperamentvollen Weise die Kämpfe mit ihnen durch, die Marx vor einem Menschenalter mit ihnen ausgefochten. Darunter haben namentlich die Bakunisten zu leiden, die gelegentlich als Lügner, Demagogen, sogar als Verbrechernaturen gebrandmarkt werden. Freilich, die Anarchisten sprechen in ihrer Geschichtsschreibung nicht besser von Marx, Liebknecht, Borkheim usw., aber wir sind ja in dem Kampfe mit ihnen die Sieger geblieben, und der Sieger kann unbefangener sein als der Besiegte.

Indes diese Schwächen beeinträchtigen nur wenig die Vorzüge des Buches. Ist auch Jaeckh in seiner Beurteilung der Menschen mitunter zu schroff und streng, so habe ich seine Darstellung der Dinge, der Ereignisse und Verhältnisse – und das ist doch das Entscheidende – in allen wesentlichen Punkten korrekt gefunden – soweit sie mir bekannt sind.

Diese letztere Einschränkung muss ich machen, da Jaeckh eine Menge Tatsachen vorbringt. die selbst den meisten Kennern der Geschichte der Internationale neu sind. Dank unserem Freunde Julius Motteler, der ihm seine reiche Sammlung zur Verfügung stellte, vermochte Jaeckh namentlich die Geschichte der Internationale in England weit eingehender zu schildern, als dies bisher jemals geschehen, und diese Schilderung bildet wohl den verdienstlichsten und wissenschaftlich wertvollsten Teil des Buches.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung, dass über die Tätigkeit der Internationale in England bisher fast gar nichts bekannt geworden ist, und doch nahm sie dort ihren Ausgangspunkt, hatte sie dort ihre Leitung, waren die bedeutendsten Kopfe der Internationale, vor allem Marx selbst, in England tätig, dessen Arbeiterbewegung damals unbestritten die höchst entwickelte der kapitalistischen Welt bildete.

Das Ehepaar Webb weiß zum Beispiel in seiner so viel gepriesenen Geschichte des Trade Unionismus über die Wirksamkeit der Internationale in England so gut wie gar nichts zu sagen. Sie wird in einer Fußnote abgetan (S. 117 der englischen, S. 199 der deutschen Ausgabe), die von Irrtümern wimmelt, und wenige Seiten später rümpfen die Geschichtsschreiber des Trade Unionismus die Nase über den „rohen (crude) Kollektivismus der Internationale". Das ist alles. Man kann nicht mit größerer Überhebung, aber auch größerer Unwissenheit von der Internationale sprechen, als da geschieht. Wer sich nur ein bisschen mit ihrer Geschichte befasst hat, muss wissen, dass sie weder ein „kollektivistisches" noch ein kommunistisches Programm hatte. Die Webbs meinen offenbar, wie eine spätere Stelle zeigt, unter dem „rohen Kollektivismus" die ökonomischen Anschauungen von Karl Marx. Das lässt aber ihre eigene Unwissenheit und Überhebung Marx gegenüber nur noch „roher" erscheinen. Neben dem Widerwillen der Fabier gegen Marx wird aber die Dürftigkeit und Unrichtigkeit der Angaben des Webbschen Buches über die Internationale den Quellen zuzuschreiben sein, die sie benutzten. Das Bild, das es von der Internationale entwirft, von ihrer Einflusslosigkeit gegenüber den Trade Unions, von dem Mangel an Befugnissen des Generalrats, der ein bloßer Briefkasten gewesen sei, dies Bild entspricht zwar nicht dem, was sie war, aber dem, was die Gegner von Marx in der Internationale, die Gewerkschaftsbeamten, aus ihr schließlich mit Hilfe der Bakunisten machen wollten.

Jaeckh weist die Irrtümer der Webbs nach und zeigt, dass die Internationale in England durchaus nicht so bedeutungslos war, wie diese uns glauben machen möchten. Sie hat auf die Gewerkschaftswelt gewaltig gewirkt, aber allerdings, je mehr sie die Massen in Bewegung brachte, desto mehr stieß sie auf die Opposition der Gewerkschaftsbeamten, denen jede gewerkschaftliche Bewegung ein Gräuel wurde. Denn Bewegung hieß Kampf, hieß Gefährdung der Kassen, diese aber wurden der gewerkschaftlichen Bürokratie immer mehr Selbstzweck. Die Bewegung wurde ihnen nichts und die Kasse alles.

Dazu kam, dass die englische Bourgeoisie frühzeitig diese schwache Seite des englischen Gewerkschaftswesens entdeckte und ausnutzte. Auch ihr war eine starke gewerkschaftliche Bewegung, waren proletarische Kämpfe höchst unangenehm, dagegen hatte sie gegen starke Unterstützungskassen nichts einzuwenden, die die Armenlasten verminderten und die Arbeiterführer konservativ machten. Die Gewerkschaftsbeamten, die in diesem Sinne wirkten, wurden in der bürgerlichen Presse als vernünftige Männer gelobt, von hohen Herrschaften mit anerkennenden Händedrücken und Einladungen zu Diners regaliert, und dergleichen genügte nur zu oft, sie anzutreiben, sich dieser schmeichelhaften Anerkennung würdig zu erweisen und zu zeigen, dass sie in jeder Beziehung auf der Höhe der Bourgeoisie standen und den „rohen Kollektivismus" den Dogmatikern, Fanatikern und Demagogen überließen. Die Verleihung von Pöstchen und Parlamentssitzen diente dazu, diese Entwicklung zu beschleunigen. Der Einfluss von Marx und seinen Anhängern in der Internationale wirkte aber der gewerkschaftlichen Bürokratie entgegen. Jaeckh zeigt das an einigen bemerkenswerten Beispielen. Das eine ist die Neunstundenbewegung von 1871, die von der Internationale lebhaft gefördert wurde im Gegensatz zu den Trade Unionsführern, die bremsten, wo sie konnten. Das andere der gleichzeitige Versuch der englischen Organisation der Internationale eine selbständige Arbeiterpartei zu begründen, der ebenfalls auf die Opposition vieler Gewerkschaftsbeamten stieß.

So hoch Marx die britische Gewerkschaftsbewegung schätzte, so sehr er bemüht war, sie nach dem Kontinent zu verpflanzen, so gering dachte er von ihren Führern. „Die industriellen Arbeiter", schrieb er 1974 an Kugelmann, „müssen sich vor allem ihre jetzigen Führer vorn Leibe schaffen. Als ich die Kerle auf dem Haager Kongress denunzierte, wusste ich, dass ich mir dadurch Unpopularität, Verleumdung usw. an den Hals laden würde. Aber solche Konsequenzen waren mir von je gleichgültig. Hier und da fängt man an, einzusehen, dass ich mit jenen Denunziationen nur eine Pflicht erfüllte."

Marx hatte im Haag erklärt, es sei eine Ehre, in England kein „anerkannter Arbeiterführer" zu sein, denn jeder davon stehe im Solde von Gladstone, Morley, Dilke und Konsorten.

Solange die Internationale im Aufsteigen war, kamen die Gewerkschaftsbeamten in ihr gegen Marx nicht auf. Als aber der Fall der Kommune die Internationale in Frankreich ausgerottet und die bakunistischen Intrigen dem Generalrat die übrigen romanischen Lander entfremdet hatten, da gewann die Opposition in der englischen Internationale gegen Marx immer mehr an Raum, sie verband sich mit den Bakunisten, und es gelang ihr, die Internationale und mit ihr die Keime einer selbständigen Arbeiterpartei in England zum Absterben zu bringen.

In der Tat, ein großer Triumph für den bürgerlichen Liberalismus und die bornierte Nurgewerkschaftlerei. Aber die englische Arbeiterklasse wurde damit zur Stagnation verurteilt. Sie trat immer mehr zurück im internationalen proletarischen Klassenkampf, in dem sie bis dahin als bahnbrechender Vorkämpfer gewirkt. Diese Funktion ging nun an die deutsche Arbeiterschaft über, die in derselben Zeit eine kraftvolle selbständige Partei entwickelte, in der in England die Anläufe dazu zurückgewiesen wurden. Seitdem ist aber das Proletariat Englands politisch so heruntergekommen, dass es nicht einmal mehr den Liberalen die Herrschaft zu sichern vermag, dass es den Konservativen ein Jahrzehnt lang die unumschränkte Herrschaft in England überließ, und dass die von den Arbeiterstimmen abhängigen Liberalen, wenn sie jetzt die Konservativen ablösen sollten, inzwischen sich so nach rückwärts gemausert haben, dass sie in allen wesentlichen Punkten von den Konservativen nicht mehr zu unterscheiden sind. Politisch so heruntergekommen ist das englische Proletariat, dass es nicht einmal mehr imstande ist, die Gefährdung seiner gewerkschaftlichen Rechte zu verhindern.

Das Proletariat kann nur durch sozialdemokratische Politik zu politischer Macht gelangen. Zieht es ihr grundsatzlose oder liberale „Realpolitik" vor, so verurteilt es sich zum Stillstand und hört auf, ein politischer Faktor zu sein. Aber das Proletariat ist die einzige Klasse der heutigen Gesellschaft, die eine fortschrittliche Macht repräsentiert. Schaltet es sich durch den Verzicht auf sozialdemokratische Politik aus der Politik überhaupt aus, so schaltet es den einzigen Faktor aus, der die Gesellschaft fortentwickeln kann, verurteilt es nicht bloß sich, sondern damit auch die ganze Gesellschaft zur Stagnation.

Die Zeit der Internationale war gerade die der entscheidenden Krisis für das englische Proletariat. Das Jaeckhsche Buch ist vor allem wertvoll dadurch, dass es auf diese Vorkommnisse neues Licht wirft. Aber es erschöpft den Gegenstand nicht. Das ist auch gar nicht seine Aufgabe, es wäre jedoch sehr verdienstlich, wenn Jaeckh selbst oder ein in England lebender Genosse das Thema weiter verfolgen und uns eine Monographie darüber liefern würde. Diese müsste reiche Belehrung für Theoretiker und Praktiker bringen können.

Auf jeden Fall erweckt die Jaeckhsche Schrift den Appetit nach mehr davon. Und das darf man als ein gutes Zeichen betrachten. Sie ist eine erfreuliche Bereicherung unserer Parteiliteratur.

* Gustav Jaeckh, Die Internationale. Eine Denkschrift zur vierzigjährigen Gründung der internationalen Arbeiterassoziation. Leipzig, Leipziger Buchdruckerei. VII, 240 S.

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