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Karl Kautsky 19051122 Noch einmal die Herausgabe des Marxschen Nachlasses

Karl Kautsky: Noch einmal die Herausgabe des Marxschen Nachlasses

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band (1905-1906), Heft 9 (22. November 1905), S. 303 f.]

Als ich im Vorwort zum zweiten Band der Marxschen „Theorien über den Mehrwert" die Herausgabe dieses Werkes als „die große Aufgabe" bezeichnete, „die mir als kostbarstes Vermächtnis vor zehn Jahren der Tod meines unvergesslichen Meisters und Freundes Friedrich Engels überwies", da hatte ich sicher nicht die Absicht gehabt, irgend jemand dadurch zu kränken, noch erwartete ich, dass jemand Anstoß daran nehmen könnte, dass ich einmal öffentlich als meine Aufgabe bezeichnete, was seit zehn Jahren alle meine Freunde als solche kannten, ohne jemals irgend ein Bedenken zu erheben.

Um so erstaunter war ich, als Bernstein in seinen „Dokumenten" sich bemüßigt fühlte, jetzt öffentlich die mir ganz neue Mitteilung zu machen, Engels habe zwei Personen zur Herausgabe der „Theorien" bestimmt. und wenn die Marxschen Erben von der zweiten Person absahen, so hätten sie im Gegensatz zu der Engelsschen Verfügung gehandelt.

Ich stellte daraufhin in der „Neuen Zeit", Seite 167, fest, wann und wie Engels mich zum Herausgeber für den Fall seines vorzeitigen Todes bestimmt hatte, und hielt damit die Sache für erledigt. Nun kommt aber Bernstein nochmals in seinen „Dokumenten" und bestreitet die Richtigkeit meiner Darstellung.

Er erzählt:

Im Januar 1889 besprach Engels mit Eleanor Marx, meiner Frau und mir den Plan, Kautsky und mich in die Entzifferung der Marxschen Handschrift einzuarbeiten, damit, falls ihm etwas Menschliches passiere, Leute da seien, die imstande wären, den Marxschen Nachlass zu bearbeiten und herauszugeben. Für diese Arbeit wisse er nur Kautsky und mich. Und da Kautsky damals außer der Herausgabe der noch als Monatsschrift erscheinenden „Neuen Zeit" keine literarischen Verpflichtungen hatte, schlug Engels weiter vor, Kautsky solle mit der Reinschrift des Manuskripts über die „Mehrwerttheorien" den Anfang machen. (Von Herausgabe durch uns oder einen von uns war, solange Engels lebte, überhaupt nicht die Rede, sondern nur von Vorarbeiten dazu.) Nach erfolgter Verabredung mit uns schrieb Engels dies an Kautsky, der damals in Wien lebte. Kautsky irrt also, wenn er schreibt. er habe mich erst von einer solchen Absicht Engels' unterrichtet. … Dass Engels sich zu Eleanor Marx genau so geäußert, wie im Vorstehenden entwickelt, das habe ich nun zum Glück schriftlich. Davon lässt sich nichts abstreiten."

Bernstein deutet nicht einmal annäherungsweise an, aus welcher Zeit, von welcher Persönlichkeit diese „schriftlichen" Zeugnisse stammen, geschweige denn, welches ihr Wortlaut ist. Aber sie mögen lauten wie sie wollen die Bernsteinsche Darstellung ist auf jeden Fall falsch, schon aus dem Grunde, weil Engels, wie ich schon früher bemerkt, bereits im Jahre 1887 mit mir über die Herausgabe des „vierten Bandes" gesprochen, mich als eventuellen Herausgeber bezeichnet und in die „Entzifferung der Marxschen Handschrift" eingearbeitet hatte. Schon damals hatte ich die Reinschrift des ersten Heftes begonnen, und ich besitze sie noch mit den handschriftlichen Verbesserungen, die Engels daran vornahm. Ich war der Meinung, Bernstein, der damals noch in Zürich weilte, davon Mitteilung gemacht zu haben, aber wenn er es bestreitet, will ich das nicht aufrecht erhalten. Was dann Engels 1889 zu Bernstein und Eleanor Marx gesprochen, weiß ich nicht. er kann sie aber auf keinen Fall darüber befragt haben, ob er mich in die Entzifferung des Manuskripts einarbeiten solle, weil er das bereits besorgt, sondern höchstens darüber, ob ich auch nun, da ich London verlassen, noch fernerhin mit der Entzifferung und Abschrift des Manuskripts betraut bleiben solle. Und dies wurde offenbar bejaht. Es wäre ganz widersinnig gewesen, wenn Engels, der die Wahl zwischen uns beiden hatte, es 1889 vorgezogen hätte, mich, den Abwesenden, in die Entzifferung des Marx-Manuskripts einzuarbeiten, eine Aufgabe, die brieflich fast unmöglich zu lösen war, statt Bernstein dazu heranzuziehen, den er mehrere Mal in der Woche sah.

Indes selbst wenn Bernsteins Gedächtnis in der Affäre besser wäre, als es ist, und seine Darstellung einwandfrei, so ginge auch aus ihr hervor, dass Engels mich in das Manuskript eingearbeitet hat und nicht ihn, vor allem aber bezeugt sie nirgends, dass Engels ihn zum Herausgeber bestimmt. Während er im früheren Heft der „Dokumente" behauptet, Engels habe zwei Personen mit dieser Aufgabe betraut. und die Marxschen Erben wären von dieser „Verfügung" abgewichen, hat seine neueste Erklärung nur dann einen Sinn, wenn man sie dahin auffasst, als habe Engels überhaupt niemanden mit der Herausgabe des Nachlasses, sondern nur mich mit den Vorarbeiten betraut. den Marxschen Erben aber freie Hand gelassen! Aber wo bleibt dann die Engelssche „Verfügung", der sie widersprachen, indem sie Bernstein aus dem Spiele ließen?

Völlig unbegreiflich ist es, dass, wenn Engels eine Verfügung über Bernsteins Mitherausgabe des „vierten Bandes" im Einvernehmen mit Bernstein und Eleanor Marx traf, weder diese beiden noch Engels selbst jemals ein Sterbenswörtchen darüber zu Frau Laura Lafargue erwähnten, die doch auch zu den Marxschen Erben gehört. Nicht minder unbegreiflich, warum derselbe Bernstein, der so lange Jahre zu den Nächstbeteiligten schwieg, nun plötzlich das Bedürfnis empfindet, zu dem nichtbeteiligten Publikum zu sprechen, das für diese Affäre doch nur mäßiges Interesse empfinden kann.

Indes Bernstein weiß aus jeder Blume Honig zu saugen und aus jedem meiner Worte den Beweis meiner moralischen Verkommenheit zu ziehen, einer Verkommenheit, die von dem Tage datiert, an dem ich die Kritik seiner „Voraussetzungen“ begann. Meine Bemerkung, dass die Marxschen Erben Bernstein nicht mehr zutrauten, er könne Marxschen Gedankengängen gerecht werden, und dass sie daher, selbst wenn Engels gegenteilig verfügt, Bernstein von der Herausgabe des Marxschen Nachlasses fernhalten würden, deutet er als einen Beweis meiner Verworfenheit. als eine Anwendung des Satzes, dass man Ketzern sein Wort nicht zu halten brauche, als das Anzeichen einer Gesinnung, die der von Marx gebrandmarkten Grundgemeinheit des Pfaffen Malthus verwandt sei.

Man wird nicht von mir verlangen, dass ich diese sittliche Entrüstung ernst nehme und mich dagegen verteidige. Wir bekommen stets gar kuriose. Kapriolen zu sehen, wenn Bernstein sein ethisches Steckenpferd tummelt, er, der Verehrer der langen Lauscherohren.

K. Kautsky

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