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Karl Kautsky 19070814 Klara Zetkin, Zur Frage des Frauenwahlrechtes

Karl Kautsky: Klara Zetkin, Zur Frage des Frauenwahlrechtes

Bearbeitet nach dem Referat auf der Konferenz sozialistischer Frauen zu Mannheim. Berlin, Verlag „Vorwärts"

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 2. Band (1906-1907), Heft 46 (14. August 1907), S. 684-687]

Zu den Fragen, die den Internationalen Kongress beschäftigen werden, gehört auch die des Frauenstimmrechtes. Wenn bürgerliche Frauenkongresse darüber verhandeln, könnten einen oft Zweifel darüber beschleichen, ob diese Frage nicht vielmehr einem naturwissenschaftlichen als einem politischen Kongress zustände, als ob die Notwendigkeit des Frauenwahlrechtes aus der Natur des weiblichen Organismus entspränge und durch Vergleichungen männlicher und weiblicher Gehirne zu entscheiden sei. Es ist ein Verdienst des Marxismus, wenn heute die Frauenfrage immer mehr als ein Produkt der modernen ökonomischen Entwicklung erkannt wir. Unter denjenigen Frauen, die in Deutschland diese Erkenntnis gewonnen, vertieft und verbreitet haben, ist in erster Linie Klara Zetkin zu nennen. Auch ihre neueste Schrift entwickelt die Probleme des Frauenwahlrechtes als Ausflüsse der allgemein Probleme des modernen Klassenkampfs und der heutigen sozialen und politischen Situation.

Wie wir alle längst wissen, bedeutet die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise mit Notwendigkeit die stete Vermehrung des Proletariats und die stete Verschärfung seines Gegensatzes zur Kapitalistenklasse. Alle „Revidierungen“ der marxistischen Theorie haben an dieser Tatsache nichts ändern können, die immer mehr auch von den Gegnern anerkannt wird, soweit sie einiger Einsicht zugänglich sind.

Aber das ist nicht die einzige Entwicklungstendenz, die der Kapitalismus zeitigt. Bestände sie allein, dann müsste das Proletariat schon längst die politische Macht erobert haben, das schon vor zwei Menschenaltern in England und Frankreich mit der Kapitalistenklasse um diese Macht rang.

Der Kapitalismus erzeugt jedoch nicht bloß ein kämpfendes Proletariat, er erzeugt auch Faktoren, die den Aufschwung dieses Proletariats verlangsamen, zeitweise sogar völlig hemmen können.

Von alten Kulturzentren ging er aus, in denen die Gesamtheit der Bevölkernd, also auch das Proletariat. eine höhere allgemeine und politische Bildung besaß. Aber immer rascher dehnt er sich heute in Regionen aus mit höchst rückständiger Bevölkerung, die er proletarisiert. Die Masse des ausgebeuteten und des hilflosen Proletariats wächst da mitunter rascher als die des kampffähigen und kämpfenden Proletariats. Mit der Ausbeutung des Proletariats wächst aber auch die Macht des Kapitals, die auf jener beruht. So kann diese Macht unter Umständen rascher zunehmen als die des kämpfenden Proletariats, gerade wegen der raschen Zunahme der Zahl der Proletarier und ihrer Ausbeutung.

Der wachsende Zusammenschluss des Proletariats führt aber auch zu einem wachsenden Zusammenschluss der Kapitalisten sowohl im ökonomischen wie im politischen Kampfe; und auch diese organisatorische Bewegung kann sich mitunter bei

den kapitalistischen Klassen rascher vollziehen als im Proletariat, und die Kraft jener rascher vermehren als die Kraft dieses.

Ähnlich wie das Wettrüsten der Militärstaaten scheint daher auch der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit nichts zu sein als eine Schraube ohne Ende; als ein Prozess, der keinen Abschluss kennt und nicht zur Herrschaft des Proletariats in Staat und Gesellschaft führt, sondern nur dazu, dass der Gegensatz beider Klassen sich immer wieder auf höherer Stufenleiter und breiterer Grundlage erneuert.

Das ist indes nur Schein, wie auch die Endlosigkeit des Wettrüstens der Staaten nur Schein ist. Kein Gegensatz kann ins Endlose wachsen. Das Wettrüsten muss schließlich so unerträgliche Zustände herbeiführen, dass sie eine Katastrophe unvermeidlich machen, entweder einen Weltkrieg oder eine Revolution, die dem Militarismus für immer ein Ende bereitet. So muss auch der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit schließlich so gewaltig und unerträglich werden, dass er beide Teile zu den gewaltigsten Vernichtungskämpfen gegeneinander aufpeitscht. Dabei besteht aber zwischen Kapital und Arbeit der Unterschied, dass die Arbeiterklasse unentbehrlich ist, nicht vernichtet werden kann, nach jeder Niederlage immer wieder von neuem erstehen muss, indes die Kapitalistenklasse völlig entbehrlich geworden ist, ja immer schädlicher wird, so dass die erste große Niederlage, die sie erleidet, ihren Untergang und den Beginn einer neuen Gesellschaftsordnung bedeutet.

Solange aber das Proletariat diesen endgültigen Sieg nicht errungen hat, zieht jeder seiner Fortschritte auch einen Fortschritt der Gegner nach sich, eine Vertiefung des Gegensatzes zwischen den beiden Parteien und eine Zunahme der Wucht und der Schärfe ihrer Waffen.

Nichts irriger als die gemütliche Vorstellung, das Proletariat könne so nach und nach unvermerkt in den Sozialismus hineinwachsen, indem es allmählich eine Position nach der anderen besetzt und das Gebiet der kapitalistischen Herrschaft nach und nach immer mehr verkleinert.

Die stete Verschärfung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit und seine Erneuerung auf immer breiterer Basis scheint nun aber wenigstens dahin zu führen, dass die politischen und ökonomischen Kämpfe sich zusehends vereinfachen: auf der einen Seite das Proletariat und auf der anderen die bürgerlichen Klassen, die sich immer mehr zu einer reaktionären Masse zusammenschließen, so dass immer mehr ein Hüben und Drüben bloß gilt.

Diese Tendenz besteht sicher, aber auch sie wird wieder durch eine Gegentendenz durchkreuzt.

Je mehr das Proletariat in Staat und Gesellschaft an Kraft und Bedeutung gewinnt. desto mehr fühlen sich auch die bürgerlichen Klassen gedrängt, sich der Volksmasse zu bemächtigen, sie in ihren Dienst zu nehmen und für ihn zu organisieren. Wenn Sozialdemokratie und Gewerkschaften zunächst an die Elite des Proletariats appellieren, an seine aufgeklärtesten, selbständigsten und charaktervollsten Schichten, so rufen die bürgerlichen Parteien einesteils die verlumptesten, andererseits die abhängigsten, willenlosesten, naivsten Schichten des Proletariats auf, um sie dem für seine Emanzipation kämpfenden Teile des Proletariats entgegenzustellen, und gerade jene bürgerlichen Parteien, die den Mut und die Gewissenlosigkeit zu dieser Sozialdemagogie haben, gewinnen heute am meisten Terrain, während die unter dem Banne der alten Furcht vor der politischen Benutzung des Proletariats stehenden Parteien immer mehr zurückgehen. Daher sehen wir gleichzeitig mit dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit eine Erscheinung wachsen, die scheinbar damit unvereinbar ist, die bürgerliche Reform und „Arbeiterfreundlichkeit", das Eintreten gerade der giftigsten Feinde der Sozialdemokratie für die eine oder andere ihrer Teilforderungen – freilich, fragt nicht wie.

So kommt es, dass unsere Gegner selbst die Arbeiter gewerkschaftlich organisieren, allerdings nicht zu Zwecken des organisierten Streiks, sondern des organisierten Streikbruchs, dass es in Frankreich Mode für bürgerliche Regierungen geworden ist, einen oder zwei „verwendbare" Sozialisten zu Ministern zu machen; dass in agrarischen Ländern, wie Bayern oder Österreich, die Ultramontanen und Christlichsozialen glauben, gute politische Geschäfte zu machen, wenn sie die machtvolle Wahlrechtsbewegung des Proletariats in eine von ihnen und ihren Kommis in der Regierung geförderte verwandeln; dass endlich in einer Reihe von Staaten das Frauenwahlrecht urplötzlich aus einer verlachten Utopie zu einer praktischen Forderung wird, die die besten Aussichten hat, über Nacht verwirklicht zu werden.

Diese Tendenzen der bürgerlichen Demagogie entspringen in der Regel hochgradiger Kurzsichtigkeit. so die Spekulationen auf die christlichen Gewerkschaften, auf das allgemeine Wahlrecht, das Frauenstimmrecht. Vorübergehend können sie den bürgerlichen Elementen wohl nützen, schließlich müssen sie sich aber stets gegen diese wenden. Aber wie immer die bürgerliche „Reformfreundlichkeit" schließlich wirken mag, auf jeden Fall ist sie zunächst stets imstande, alle kurzsichtigen Elemente in den Reihen des kämpfenden Proletariats wenigstens vorübergehend zu verwirren und dieses zu spalten und zu schwächen zu derselben Zeit, in der seine Gegner sich fester zusammenschließen als je.

Wie der sozialistische Ministerialismus in Frankreich gewirkt hat, ist bekannt. Dass in Österreich der von den Jesuiten beherrschte Wiener Hof rnit Lueger und Geßmann zusammen den proletarischen Wahlrechtskampf für sich auszubeuten suchte, hat unter anderem ein deutsches Parteiblatt so aus dem Geleise gebracht. dass es von der „Waffenbrüderschaft" zwischen Sozialdemokratie und Monarchie sprach. Und die Frage des Frauenstimmrechtes hat auch schon ganz merkwürdige Blüten in der internationalen Sozialdemokratie gezeitigt. Auf der einen Seite haben Genossen, zum Beispiel englische, sich für ein Zensuswahlrecht bloß deshalb begeistert, weil es Frauen zugute kommen soll, auf der anderen Seite haben Genossen, zum Beispiel belgische und holländische, sich gegen die sofortige Gewährung des allgemeinen Frauenstimmrechtes ausgebrochen, weil die Frauen noch nicht „reif" dazu seien!

Der Stuttgarter Internationale Kongress wird sich mit dieser Frage eingehender zu beschäftigen haben. Da erscheint gerade rechtzeitig die Broschüre der Genossin Klara Zetkin. Diese Schrift bietet die beste Grundlage für die Kongressverhandlungen darüber und ist gekennzeichnet durch alle die Vorzüge, die dem Wirken unserer Freundin innewohnen. Erfüllt von theoretischer Klarheit, mit unerbittlicher Logik in der Ziehung aller Konsequenzen der Theorie verbindet sie eine umfassende Kenntnisse des ganzen in Betracht kommenden Tatsachenmaterials und vollstes Verständnis für die Bedürfnisse der Praxis. Bei Klara Zetkin, die durch ihre unermüdliche Organisations- und Agitationsarbeit die deutsche proletarische Frauenbewegung zu dem gemacht hat, was sie ist, kann niemand, ohne sich lächerlich zu machen, von unfruchtbarem Dogmatismus und unpraktischem Spekulieren reden. Die großen Ergebnisse ihres Wirkens bezeugen am besten, wie wenig Theorie und Praxis einander ausschließen, wie sehr beide durch ihre gegenseitige Durchdringung gewinnen.

Diese gegenseitige Durchdringung gibt auch dem vorliegenden Schriftchen seinem Reiz und seine Bedeutung. Es entwickelt die Ursachen der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung, die Unterschiede und Gegensätze der beiden Bewegungen, die Bedeutung, die das Frauenstimmrecht für jede von ihnen besitzt. Es lehrt uns aber auch begreifen, woher die plötzliche Liebe für das Frauenstimmrecht stammt, die in einigen Ländern manche bürgerliche Parteien unversehens entwickeln, und es zeigt, dass darin nichts weniger als ein Begegnen bürgerlichen und proletarischen Strebens in gleicher Richtung zu suchen ist. Es legt endlich auch die Pflichten dar, die der Sozialdemokratie dem Frauenstimmrecht gegenüber erwachsen, und weist mit Recht darauf hin, dass diese Pflichten rasch aufhören, rein akademische und platonische zu sein, was sie bisher waren, dass sie mit Macht zu höchst praktischen Pflichten werden.

Gerade dadurch gewinnt auch die Broschüre der Genossin Zetkin weit mehr praktische Bedeutung, als bisher Schriften über die Frauenfrage innewohnte.

Die Frage unserer Stellung zum Frauenstimmrecht ist heute eine der wichtigsten unter jenen, die der Klärung bedürfen. Die bürgerliche Arbeiter- und Reformpolitik, die ja nicht prinzipiell einem großen Ziele zustrebt, sondern charakterlos Gelegenheitsdemagogie treibt, ist vor allem dadurch ausgezeichnet. dass sie mit ihren einzelnen Forderungen und Vorschlägen ganz plötzlich und unvermittelt auftritt, wodurch sie auch am besten ihrer Hauptaufgabe gerecht wird, das Proletariat zu verwirren und zu spalten, wenn dieses noch nicht Zeit gehabt hat, die unvermutete Erscheinung nachzudenken. Wie der Millerandsche Ministerialismus und die Bekehrung des Wiener Hofes zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht über Nacht kam, so kann auch die Frage des Frauenstimmrechtes urplötzlich vor uns als eine sehr praktische Frage auftauchen. Je mehr man vorher darüber nachgedacht und sich mit allen ihren Möglichkeiten und Aussichten vertraut gemacht hat, desto mehr Schwankungen, Irrungen, Enttäuschungen und Zwistigkeiten wird man sich dann ersparen.

Und darum um so besser für uns, je eifriger die Schrift der Genossin Zetkin studiert wird.

K. K.

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