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Karl Kautsky 19080918 Der Parteitag über die Budgetbewilligung

Karl Kautsky: Der Parteitag über die Budgetbewilligung

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 2. Band (1907-1908), Heft 52 (18. September 1908), S. 932-935]

Nürnberg, 18. September.

Noch sind die Verhandlungen des Parteitags zur Stunde, da wir dies schreiben, nicht abgeschlossen. Aber nachdem er in den Verhandlungen über die Maifeier und die Parteischule bereits den Weg bezeichnet, den er zu gehen gedachte, sind sein Charakter und seine Bedeutung gegeben durch die Abstimmung über die Frage der Budgetbewilligung. Mit überwältigender Mehrheit hat er die Resolutionen von Lübeck und Dresden von neuem bestätigt, hat er bezeugt. dass die deutsche Sozialdemokratie bleibt. was sie bisher war, der unversöhnlichste Todfeind der herrschenden Ordnung, und dass sie sich durch nichts von diesem Standpunkt abdrängen lässt.

Diese Entscheidung wurde in einer Weise vollzogen, die in gleicher Weise jene enttäuschen wird, die erwarteten, auch diesmal werde der Gegensatz wieder verkleistert werden, wie jene, die annahmen, die Verhandlungen würden in einer wüsten Katzbalgerei endigen. Wir haben der Welt nicht das komische Schauspiel gegeben, in unseren Reden die größte Gegensätzlichkeit über die diskutierte Frage zu bekunden, um dann in einer Resolution zu erklären, wir seien darüber alle einig. Andererseits aber hat die Mehrheit alles vermieden, was geeignet gewesen wäre, der Minderheit das weitere Zusammenarbeiten mit der Majorität unmöglich zu machen, oder ihr auch nur einen halbwegs plausiblen Vorwand für das Behaupten einer solchen Unmöglichkeit zu liefern.

In der Tat dürfen wir erwarten, dass die Verhandlungen des Parteitags weiten Kreisen süddeutscher Parteigenossen die Augen öffnen werden über die „Radikalen", über die ihnen eine irreführende Berichterstattung so haarsträubende Dinge erzählt hatte. In Nürnberg trat unzweifelhaft zutage, dass die „Radikalen" nicht ein Häuflein Berliner, Leipziger und „verantwortungsloser Ausländer" sind, die den Parteivorstand gefangen genommen haben, sondern dass sie die große Masse der Parteigenossen darstellen. Dass es gerade ein in Bayern tagender Parteitag war, auf dem diese Tatsache in Erscheinung trat, ein Parteitag, auf dem der geografischen Lage halber Süddeutschland relativ eine stärkere Vertretung fand als der Norden, lässt das Überwiegen der „radikalen" Richtung in der Partei noch bedeutender erscheinen.

Aber auch das Märchen von der Skandalsucht der „Radikalen" darf nach den Nürnberger Tagen wohl bei jedem nicht ganz böswilligen Beobachter für abgetan gelten. Wären wir wirklich so skandallüstern, wie uns von manchen Seiten immer wieder unterschoben wird, das Vorgehen einiger Budgetbewilliger in Nürnberg hätte und nicht bloß Vorwände, sondern höchst ausreichende Gründe zu persönlichem Zanken und Lärmen gegeben. Wenn es dazu nicht kam, so ist es einzig der Zurückhaltung und der völlig unpersönlichen, rein sachlichen Art der Diskussion der „Radikalen" zuzuschreiben, die auf keinerlei Provokation reagierten.

Die Resolution des Parteivorstandes war entschieden, aber ruhig. Sie enthielt kein Wort des Tadels, kein Wort der Missbilligung. Und von Seite der „Radikalen" wurde nicht der mindeste Versuch gemacht. ihr ein solches Wort einzufügen. Alle jene Vorgänge, die selbst von Freunden der Budgetbewilligung als unentschuldbar anerkannt worden waren, angefangen von dem Ausschluss des Parteivorstandes aus der Stuttgarter Konferenz, vom badischen Schweigegebot bis zur Bedrohung des Parteitags mit der Parteispaltung und dem famosen Fall Segitz, der die schwersten Beschuldigungen gegen den Parteivorstand auf Grund erlauschter Brocken aus einem Treppengespräch erhob – alle jene Vorgänge hätten reichlichen Stoff zu Tadelsresolutionen gegeben, wenn wir den Unfrieden wollten. Aber von keiner Seite wurde eine solche Resolution über irgendeines dieser Vorkommnisse auch nur angeregt. Eine einzige Verschärfung der Vorstandsresolution wurde von Leipziger Genossen beantragt, sie war rein sachlicher Natur, strebte eine schärfere Fassung der Lübecker Resolution an, während der Parteivorstand sich damit begnügte, sie genauer zu interpretieren.

Aber je mehr von unserer Seite auf alles verzichtet wurde, was persönlichem Zwist Nahrung geben konnte, um so stärker trat der sachliche Gegensatz hervor, der zwischen den beiden Richtungen besteht, die in der Frage der Budgetbewilligung zutage traten.

Der Gegensatz ist nicht einfach der zwischen Süd und Nord. Ein erheblicher Teil der Gegner der Parteivorstandsresolution kam aus dem Norden. Anderer­seits stimmten ihr Genossen aus Bayern zu, und wenn auch nicht bei den Delegierten, so doch bei den Genossen Württembergs darf sie vielleicht sogar auf die Mehrheit rechnen. Der Gegensatz ist natürlich auch nicht der zwischen unpraktischer Revolutionsromantik und praktischer positiver Arbeit, ebenso wenig der zwischen Parlamentarismus und Anarchismus, wie er verwunderlicherweise von manchen Rednern in Nürnberg aufgefasst wurde. Er fällt aber auch nicht einfach zusammen mit dem zwischen Revisionismus und „orthodoxem Marxismus". Es ist ein Gegensatz zwischen den zwei möglichen Arten parlamentarischer Tätigkeit, der einer Partei grundsätzlicher Opposition und der einer Partei, die von einer Regierung nach dem Prinzip des do ut des, ich gebe, um zu erhalten, Konzessionen zu gewinnen sucht. Die erstere Art findet ihren schärfsten Ausdruck in der prinzipiellen Budgetverweigerung. Die andere wird unmöglich, wenn die mit der Regierung verhandelnde Partei nicht erwarten lassen kann, sie werde jener das Budget bewilligen.

Ich behalte mir vor, diese beiden Arten des Parlamentarismus noch ausführlicher zu beleuchten. Hier sei nur kurz darauf hingewiesen, dass mit dem Wesen einer proletarischen Partei in einem kapitalistischen Staate nur die erstere Art der Politik vereinbar ist, weil das Proletariat in jedem kapitalistischen Staate grundsätzlich von der Staatsgewalt – außer zu dekorativen und demagogischen Zwecken, wie Millerand und John Burns – ausgeschlossen ist und ausgeschlossen bleiben muss. Die Bourgeoisie würde eine Regierung einfach nicht dulden, die die Staatsgewalt in den Dienst des Proletariats stellte. Solange der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat ein unüberbrückbarer ist, kann es keine Staatsgewalt geben, der beide Klassen gleichzeitig das Vertrauen und die Mittel zur Existenz votieren.

Genosse Stolten hat freilich gegen diese meine Auffassung eingewendet, dass auch die Proletarier am Staate ein Interesse hätten. Meinem Bilde, wir dürften eine Festung nicht verproviantieren, die wir aushungern wollten, hielt er die Tatsache entgegen, dass die Proletarier auch in der Festung wohnten und durch deren Aushungerung mit betroffen würden. Genosse Stolten hat da zu viel bewiesen. Hätte er Recht, dann wäre überhaupt jede Budgetverweigerung unstatthaft. In Wirklichkeit steht aber die Sache so, dass die Proletarier in der von uns belagerten Festung nicht drin wohnen.

Man muss sich hüten, den Staat als geografischen Begriff zu verwechseln mit dem Staat als Herrschaftsmittel, das heißt dem Inbegriff der Bürokraten, Polizisten, Soldaten usw. Die Proletarier wohnen allerdings im Staatsgebiet; sie sind aber keineswegs Insassen der Staatsgewalt. Einen Grund, das Budget zu bewilligen, hat eine Partei nicht deswegen, wenn sie im Lande, sondern nur dann, wenn sie in den Ministerhotels zu Hause ist.

Aber hat das Proletariat allenthalben den gleichen Grund, das staatliche Budget einer gegnerischen Regierung abzulehnen, in der Republik wie in der Monarchie, in Frankreich wie in Russland, in Württemberg wie in Preußen, so besteht doch insofern ein bedeutender Unterschied zwischen dem Süden und dem Norden Deutschlands, als die Notwendigkeit einer solchen Politik grundsätzlicher, unversöhnlicher Opposition im Süden nicht so schroff zutage tritt wie im Norden. Müsste ein Sozialdemokrat in Preußen mit heilloser politischer Blindheit geschlagen sein, wollte er dort das Staatsbudget bewilligen, so hat gerade in letzter Zeit in Süddeutschland die Sozialdemokratie einige Erleichterungen und Konzessionen erlangt, die in manchem Genossen übertriebene Erwartungen wachrufen konnten. Diese Erleichterungen und Konzessionen sind höchst unbedeutender Natur, sie bekommen einiges Ansehen nur, wenn man sie mit der preußischen Trostlosigkeit vergleicht. Es gehört die ganze Nacht der preußischen Reaktion dazu, um die süddeutschen Talglichter als helle Sterne erstrahlen zu lassen, aber für verschiedene Genossen sind sie zu Hoffnungssternen geworden, die die Geburt eines neuen Heilands, einer neuen Methode proletarischen Emanzipationskampfes anzeigen.

Die süddeutsche Eigenart erklärt diese Erwartungen, sie rechtfertigt sie aber nicht. Der Parteitag hat mit Recht in Anbetracht dieser eigenartigen süddeutschen Verhältnisse von jedem Tadel der süddeutschen Budgetbewilliger abgesehen und ihnen den guten Glauben und die besten Absichten zugebilligt. Aber wenn er ihre Abstimmungen nicht als Verbrechen auffasste, so durfte er nicht davon absehen, sie als einen Fehler zu kennzeichnen. Und in der Politik sind Fehler bekanntlich noch verhängnisvoller in ihren Wirkungen wie Verbrechen.

So sehr die Parteigenossen Norddeutschlands geneigt sind, der Eigenart Süddeutschlands jede Rücksicht angedeihen zu lassen, so darf dies nicht so weit gehen, dass man ruhig zusieht, wenn sie im Begriffe sind, Schritte zu begehen, die verderbliche Konsequenzen nach sich ziehen. Der Parteitag durfte um so weniger davon absehen, als das Stillschweigen in diesem Falle geheißen hätte, dass er jene süddeutschen Genossen desavouiert, die den Standpunkt der großen Mehrheit der Gesamtpartei teilen. Er musste für Einheitlichkeit der Taktik endlich auch deshalb sorgen, weil die süddeutschen Regierungen mit den norddeutschen solidarisch sind. Der geschlossenen Front drüben müssen wir eine geschlossene Front herüben entgegensetzen, und je gefährlicher und stärker der Feind, desto notwendiger ist die unbedingte Geschlossenheit auf unserer Seite.

Diese Geschlossenheit wird durch die Resolution des Parteitags erheblich gefördert, die allen Schwankungen, Unsicherheiten und Missdeutungen ein Ende macht.

Noch wissen wir nicht, wie jene süddeutschen Genossen sie aufnehmen, die eine von der Gesamtpartei abweichende Taktik vertreten. Aber auch ihnen gegenüber kann die machtvolle Bekundung des Willens der übergroßen Mehrheit des kämpfenden Proletariats Deutschlands ihre Wirkung nicht verfehlen. Und so dürfen wir wohl erwarten, dass die Hoffnungen unserer Gegner wieder einmal zuschanden werden und dass die deutsche Sozialdemokratie aus der schweren Krise, in die sie geraten ist. neugestärkt hervorgeht, geschlossener und einmütiger als je.

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