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Karl Kautsky 19080711 Verelendung und Zusammenbruch

Karl Kautsky: Verelendung und Zusammenbruch

Die neueste Phase des Revisionismus

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 2. Band (1907-1908), Heft 42 und 43 (11. und 18. Juli 1908), S. 540-551 und 607-612]

I.

Tugan-Baranowsky ist unseren Lesern kein Unbekannter. Wir hatten schon öfter Gelegenheit, uns mit ihm zu beschäftigen, namentlich in jüngster Zeit. Das liegt zum Teil an der augenblicklichen Situation. Heute herrscht eine allgemeine Krise, die zu studieren eine der wichtigsten Aufgaben der ökonomischen Theorie bildet. Die Krisen sind aber ein Spezialthema Tugans, er hat sie eingehend erforscht, freilich um zu einer höchst kuriosen Auffassung zu gelangen.

Trotzdem darf man ihn nicht als kuriose Persönlichkeit betrachten. Wenn wir uns viel mit ihm beschäftigen, so liegt das nur zum Teil an seiner Spezialität, der Krisentheorie, zum Teil aber auch daran, dass er einer der bedeutendsten Köpfe, wo nicht der bedeutendste, des theoretischen Revisionismus ist. Er repräsentiert mit dem ihm geistesverwandten Sombart die Spielart des professoralen Revisionismus. Dazu gehören Professoren, die wohl außerhalb der Sozialdemokratie bleiben, aber suchen oder doch suchten, auf sie einzuwirken und den revisionistischen Flügel in ihr zu stärken.

Sombart hat freilich dies undankbare Geschäft aufgegeben. Der Revisionismus beginnt ja aus der Mode zu kommen, und dies Kathedergigerl fühlt sich nur im Gewand der allerneuesten Mode wohl.

Tugan dagegen ist zäher. Er lässt sich die .Mühe nicht verdrießen, in steter, unermüdlicher Arbeit seinen Standpunkt zum Ausgangspunkt einer neuen Theorie machen zu wollen.

Ein Jahrzehnt in es jetzt, dass Tugan-Baranowsky in dieser Weise tätig ist. Wenn irgendwo, so muss sich bei ihm die Fruchtbarkeit der Revision des Marxismus bewähren.

Eine gute Probe davon gibt und sein neuestes Buch, „Der moderne Sozialismus", eine Quintessenz des heutigen Revisionismus in seiner vollendetsten Form.1 Aller wissenschaftliche Fortschritt, den der Revisionismus gebracht hat, er muss in dieser Schrift zu finden sein.

II.

Wir wollen hier zunächst nur eine ihrer Seiten untersuchen, die Erörterung des Ganges der ökonomischen Entwicklung. Davon ging der Revisionismus aus. Er behauptete, sie gehe nicht in der Weise vor sich, wie Marx sie gezeichnet.

Was sagt dagegen jetzt Tugan-Baranowsky von der „Konzentrationstheorie"?

Alle neuesten Tatsachen der industriellen Entwicklung sind glänzende Bestätigungen dieser Theorie" (S. 74).

Wohl trete sie nicht in der Landwirtschaft zutage:

Aber dieser Umstand vernichtet durchaus nicht die Bedeutung der Konzentrationstheorie in Bezug auf das Ganze der kapitalistischen Wirtschaft, sondern schwächt sie nur ab" (S. 76).

Tugan tritt im Weiteren ausdrücklich dem bei, was ich in dieser Beziehung in meinem Buche über die Agrarfrage geschrieben.

Ebenso gibt er zu, dass die Krisen sich nicht mildern, dass sie unvermeidlich sind und die Kartelle sie nur verschärfen:

Die technischen Kräfte der modernen Industrie sind so ungeheuer groß, dass die Produktion jedes kapitalistischen Landes in kürzester Zeit bedeutend wachsen konnte. Dies wird am besten durch die staunenswerten Sprünge bewiesen, mit denen die kapitalistische Produktion in den Zeiten des industriellen Aufschwunges sich aufwärts bewegt. … Aber solch eine Belebung währt nie lange. Es vergehen drei bis vier Jahre, und es folgen wieder Krisen, Bankrotte, Stillstand in der In Industrie und allgemeiner Rückgang. Dies ist der unabänderliche Gang der kapitalistischen Industrie. … Kann der nationale Reichtum groß sein, wenn im Laufe des vergangenen Jahrhunderts jeder kurzen Blüteperiode der Industrie unvermeidlich eine oft viel längere Depressionsperiode folgte, wenn während der letzten dreißig Jahre die Zahl der für die Industrie ungünstigen Jahre die der günstigen bei weitem überragt? … Zwar vollzieht sich innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft selbst ein mächtiger Prozess der Vereinigung kapitalistischer Unternehmungen in verschiedene Verbände und Assoziationen. Aber diese kapitalistischen Organisationen sind nicht nur unfähig, die Bande zu lösen, welche die gesellschaftliche Produktion fesseln, sondern sie ergreifen selbst umfassende Maßregeln zur Einschränkung der gesellschaftlichen Produktion und zur Hemmung ihres Wachstums. Darin besteht eben die Hauptaufgabe der Kartelle, Trusts und anderer Verbände des Kapitals. Somit ruft die Unorganisiertheit der kapitalistischen Wirtschaft, die von keinen Verbänden des Kapitals beseitigt werden kann, große Reibungen bei der fortschreitenden Bewegung des Kapitalismus hervor. Diese Reibungen erreichen manchmal solche Dimensionen, dass sie die kapitalistische Bewegung ganz und gar ins Stocken bringen, wie es während der Krisen der Fall ist. …

Somit verurteilt die kapitalistische Wirtschaft nicht nur die Masse des Proletariats zu maßloser Arbeit und elender Existenz, sondern sie hindert auch das Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums, hemmt die Steigerung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit" (S. 94-97).

Man steht, wir finden hier alle die Auffassungen wieder., die vor einem Jahrzehnt der Revisionismus verächtlich als „überwundene Dogmen" unter dem dröhnenden Beifall der gesamten Bourgeoisie in die Rumpelkammer verwies.

Ill.

Von der ganzen „vernichtenden Kritik" jener Zeit bleibt jetzt nur noch eine Polemik gegen die Verelendungs- und Zusammenbruchstheorie übrig, die aber den Marxismus nicht trifft. weil sie sich gegen Anschauungen wendet. die nichts weniger als marxistisch sind.

In der Frage der Verelendungstheorie kommt mir Tugan weit entgegen. Er findet meine „Erwägungen" über die soziale Verelendung

sehr geistreich und zum großen Teile auch richtig. Das Wachstum der Bedürfnisse des Arbeiters überflügelt bei weitem die Möglichkeit ihrer Befriedigung. … Ebenso ist es leicht möglich, dass Kautsky auch in seiner anderen Behauptung recht hat – dass die Ausbeutung der Arbeiter durch die Eigentümer der Produktionsmittel in neuester Zeit nicht sinkt sondern steigt, dass, mit anderen Worten, die von dem Kapitalisten angeeignete Mehrarbeit einen immer größeren Teil des Arbeitsaufwandes des Arbeiters bildet, dass der Arbeiter immer mehr für den Kapitalisten arbeitet. Dies alles ist sehr möglich, aber es gibt keine genauen Beweise dafür, denn die Einkommensstatistik ist noch zu unvollkommen, um eine annähernd richtige Lösung solcher komplizierter und schwerer Fragen zu ermöglichen. Jedenfalls ist die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse mit dem Wachstum ihrer Ausbeutung durch die kapitalistische Klasse durchaus vereinbar" (S. 72).

Mehr kann man von einem Revisionisten wirklich nicht verlangen. Er erkennt es wenigstens als möglich, ja sogar als wahrscheinlich an, dass die Ausbeutung des Proletariats und damit sein Klassengegensatz zum Kapital im Wachsen ist.

Freilich vermeint Tugan trotzdem gerade in der Frage der Verelendungstheorie einen Triumph über mich zu feiern:

Entschieden im Unrecht ist Kautsky in der Behauptung, dass die von ihm entwickelte Theorie der sozialen Verelendung nichts anderes als die wahre Marxsche Theorie sei. … Marx war der Meinung, dass, je mächtiger die Produktivkräfte des Kapitalismus seien, desto schärfer und verbreiteter nicht nur das soziale, sondern auch das physische Elend werde; noch mehr – durch die kapitalistische Entwicklung werde der Arbeiter nicht nur zum Pauper niedergedrückt. sondern er schreite abwärts in physischer, geistiger und moralischer Hinsicht. er versinke immer tiefer in Unwissenheit und sittliche Verwilderung."

Das sollte auch ich anerkennen, „aber Kautsky fehlt der Mut, das offen einzugestehen" (S. 71, 72, 73).

An Mut darf ich mich freilich mit Tugan nicht messen. Hat er doch den Mut, heute noch zu verkünden, dass die Kategorie des „sozialen Elends" eine Ausflucht sei, von mir erfunden, um den Bankrott der marxistischen Verelendungstheorie zu verstecken. Und doch wird es jetzt bald ein Jahrzehnt, dass ich nachwies, man müsse die Elemente der sozialistischen Theorie vergessen haben, um die Tatsache des steigenden Elends der arbeitenden Klassen im Sinne ihres physischen Verkommens und nicht ihres Zurückbleibens hinter dem allgemeinen Aufstieg der Gesellschaft auffassen. Ich zitierte damals Lassalle und verwies auf Engels, Marx und Rodbertus, die sich alle im letzteren Sinne aussprachen (Bernstein und das sozialdemokratische Programm, S. 119).

Genügt das Tugan nicht, dann sei ihm noch ein Zitat von Marx serviert. In seiner Broschüre über „Lohnarbeit und Kapital" untersucht Marx die Frage, wie sich die Lage des Arbeiters gestaltet, wenn der Arbeitslohn wächst:

Ein Haus mag klein sein, solange die es umgebenden Häuser ebenfalls klein sind, befriedigt es alle gesellschaftlichen Ansprüche an eine Wohnung. Erhebt sich aber neben dem kleinen Hause ein Palast, so schrumpft das kleine Haus zur Hütte zusammen. Das kleine Haus beweist nun, dass sein Inhaber keine oder nur die geringsten Ansprüche zu machen hat; und es mag im Laufe der Zivilisation noch so sehr in die Höhe schießen, wenn der benachbarte Palast in gleichem oder gar in höherem Maße in die Höhe schießt, wird der Bewohner des verhältnismäßig kleinen Hauses sich immer unbehaglicher, unbefriedigter, gedrückter in seinen vier Pfählen finden.

Ein merkliches Zunehmen des Arbeitslohns setzt ein rasches Wachsen des produktiven Kapitals voraus. Das rasche Wachsen des produktiven Kapitals ruft ebenso rasches Wachstum des Reichtums, des Luxus, der gesellschaftlichen Bedürfnisse und der gesellschaftlichen Genüsse hervor. Obgleich also die Genüsse des Arbeiters gestiegen sind, ist die gesellschaftliche Befriedigung, die sie gewähren, gefallen im Vergleich mit den vermehrten Genüssen des Kapitalisten, die dem Arbeiter unzugänglich sind, im Vergleich mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft überhaupt. Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft; wir messen sie nicht an den Gegenständen ihrer Befriedigung. Weil sie gesellschaftlicher Natur sind, sind sie relativer Natur." …

Der Arbeitslohn ist ferner noch bestimmt durch sein Verhältnis zum Gewinn, zum Profit des Kapitalisten – verhältnismäßiger, relativer Arbeitslohn. … Der relative Arbeitslohn kann fallen, obgleich der reelle Arbeitslohn (der Lohn, in Produkten gemessen) gleichzeitig mit dem nominellen Arbeitslohn, mit dem Geldwert der Arbeit steigt. aber nur nicht in demselben Verhältnis steigt wie der Profit. Steigt zum Beispiel in guten Geschäftszeiten der Arbeitslohn nur um 5 Prozent, der Profit dagegen um 30 Prozent, so hat der verhältnismäßige, der relative Arbeitslohn nicht zugenommen, sondern abgenommen.

Vermehrt sich also die Einnahme des Arbeiters mit dem raschen Wachstum des Kapitals, so vermehrt sich gleichzeitig die gesellschaftliche Kluft, die den Arbeiter vom Kapitalisten scheidet, so vermehrt sich gleichzeitig die Macht des Kapitals über die Arbeit, die Abhängigkeit der Arbeit vom Kapital."

Man sollte denken, das ist deutlich genug für jeden, wenigstens für jeden, der nicht den „Mut" des Revisionismus besitzt. Aber freilich, was bliebe von diesem übrig, wenn er Marx in allen Punkten vernünftig auffasste!

Damit sei jedoch nicht gesagt, dass in der Frage der Verelendungstheorie zwischen Marxismus und Revisionismus bloß das bekannte „große Missverständnis" obwaltet. Es besteht hier vielmehr eine sehr erhebliche Differenz der Auffassung. Aber sie ist nicht darin zu suchen, dass Marx vom Proletariat immer tieferes Versinken in Unwissenheit und Verwilderung erwartete und wir Marxisten diese Blöße durch allerlei Ausflüchte zu decken suchen, indes die Revisionisten sich durch den Mut, die Klarheit und Konsequenz auszeichnen, womit sie das Aufsteigen des Proletariats entdecken und verkünden.

Tugan gibt zu, dass bis in die fünfziger Jahre das Proletariat tatsächlich immer tiefer ins Elend versank. Von da an sei jedoch ein stetes Aufsteigen merkbar. Seine Darstellung ist, mit einigen erheblichen Einschränkungen, richtig, aber seine theoretische Begründung des Entwicklungsgangs ist unhaltbar.

Was zunächst die Einschränkungen betrifft, die an seiner Darstellung zu machen sind, so ist es falsch, allgemein zu sagen, dass sich „in der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts die Verhältnisse für die Arbeiterklasse günstiger als früher gestalteten".

Man kann dies Aufsteigen von den fünfziger Jahren an nicht für die gesamte Arbeiterklasse behaupten, sondern nur für die Englands, und auch dort nur für einige Schichten der Arbeiter, nicht ihre Gesamtheit. Außerhalb Englands beginnt eine erhebliche Verbesserung der Arbeiterverhätnisse erst ein bis zwei Jahrzehnte später einzutreten, und dort ebenfalls nur für eine Aristokratie von Arbeitern.

Das wird Tugan wohl zugeben. Das ist auch nicht das Wesentliche unserer Differenz.

Aber Tugan meint, die Zunahme des Elends in den Anfängen des neunzehnten Jahrhunderts sei nur eine Kinderkrankheit des Kapitalismus, das ökonomische Aufsteigen des Proletariats seitdem sei eine notwendige Folge der kapitalistischen Entwicklung. Die Fabrik erzeugt die Tendenz zum Sinken der Löhne, solange sie mit dem Handwerk und der Heimarbeit konkurriert. deren niedrige Löhne auch die der Fabrikarbeiter drücken. Sind aber Heimarbeit und Handwerk zu Tode konkurriert. dann schafft „die weitere Steigerung der Produktivität der Arbeit (durch die Fabrik) die Tendenz zur Hebung des Arbeitslohns" (S. 70).

Gegen diese Auffassung spricht vor allem die Tatsache, dass in den fünfziger Jahren Handwerk und Heimarbeit noch lange nicht aus der Welt konkurriert waren, ja es bis heute nicht sind. Was verschwunden ist. das ist nur jenes Handwerk, das einen goldenen Boden hatte und seinen Arbeitern eine behagliche Zukunft verhieß. Das Sweating System hat dagegen seitdem gerade in den Ländern eines entwickelten Kapitalismus tiefe Wurzeln geschlagen, also eben jene Seite des Kleinbetriebs, die den Lohn drückt, den Arbeiter verelendet. Andererseits kann man sagen, dass an dem Tag, an dem aller Kleinbetrieb verschwindet. auch die kapitalistische Produktionsweise am Ende ihrer raschen Ausdehnungsmöglichkeit steht, die für den Lohnarbeiter noch die günstigste Bedingung bildet. Denn sie produziert notwendigerweise Überschüsse über die kaufkräftige Nachfrage ihrer eigenen Arbeiter hinaus, Überschüsse, die sie nur dadurch los wird, dass sie die heimische Industrie des Bauern sowie das städtische Handwerk vernichtet und durch ihre Produkte verdrängt. Ist dies dem industriellen Kapital eines Landes im Inland gelungen, dann muss es den auswärtigen Markt aufsuchen und dort dasselbe Spiel aufführen. Zur Lohnkonkurrenz der untergehenden und schon proletarisierten Handwerker, Heimarbeiter, Kleinbauern des eigenen Landes gesellt es dann noch die des Auslands. Der britische Textilarbeiter hat freilich nicht mehr mit der Konkurrenz der Handweber des eigenen Landes zu kämpfen, wohl aber mit der der Handweber und Textilproletarier Indiens und Chinas. In anderen Branchen, zum Beispiel im Bergbau und Baugewerbe wieder werden die Löhne gedrückt durch Einwanderung freigesetzter ausländischer Handwerker, Heimarbeiter, Kleinbauern. Also der Lohndruck, der in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre durch den Niedergang des Kleinbetriebs bestand, herrscht auch heute noch fort, nur hat er mehr internationalen Charakter angenommen. Er ist eine notwendige Erscheinung der kapitalistischen Produktionsweise, denn er ist mit den Bedingungen ihrer Ausdehnungs-, also Existenzmöglichkeit eng verknüpft. Ein Aufhören dieses Lohndrucks könnte nur unter Umständen eintreten, die ein Aufhören der Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise mit sich brächten. Das bedeutete aber bei „weiterer Steigerung der Produktivität der Arbeit" absolute Verminderung der Nachfrage nach Arbeitern. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch neu zuziehende Proletarierschichten könnte nur abnehmen, um vermehrter Konkurrenz durch Zunahme der Arbeitslosigkeit unter dem alten Stamm von Arbeitern Platz zu machen.

Also daher, dass die Herabdrückung und Proletarisierung von Kleinbetrieben aufgehört hätte oder auch nur zurückgetreten wäre, kann die Besserung der Arbeiterlage nicht kommen. Einmal hat diese Proletarisierung nicht aufgehört. und hörte sie auf, müsste das unter Umständen geschehen, die ganz andere Wirkungen auf den Lohn erzeugten, als Tugan davon erwartet.

In der Tat führt Tugan selbst, sobald er von der Theorie der Ursachen zur Darstellung des wirklichen Vorgangs übergeht, ganz andere Ursachen der Verbesserung in der Lage der Arbeiter an. Er sagt.

Die wichtigsten, zum Wachstum der ökonomischen Macht der Arbeiterklasse beitragenden Faktoren waren die Fabrikgesetzgebung, die Arbeiterorganisationen und die kooperative Bewegung" (S. 79).

Von allen diesen drei Faktoren hat kein einziger auch nur den mindesten Zusammenhang mit den beiden Ursachen, auf die Tugan in letzter Linie die Verbesserung der Arbeiterlage zurückführt, der Zunahme der Produktivität der Arbeit und dem Untergang des Kleinbetriebs.

In dem Hinweis auf jene drei Ursachen kommt Tugan dem wirklichen Sachverhalt bedeutend näher, obwohl er auch da auf der einen Seite übertreibt, auf der anderen wichtige Einflüsse vergisst.

So übertreibt er, wenn er als eine der wohltätigen Wirkungen des Arbeiterschutzes das „Steigen der Nachfrage nach Arbeiterhänden" bezeichnet. „weil nach der Verkürzung der Arbeitszeit für die Verrichtung einer bestimmten Arbeit eine größere Zahl von Arbeitern erforderlich wurde".

Da wird unzählige Mal nachgewiesen, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit in gewissen Grenzen für viele Arbeiter nicht eine Verminderung, sondern eine Vermehrung der Arbeitsleistung bedeutet, dass andererseits dort, wo das nicht der Fall ist, die Einführung von arbeitssparenden Maschinen durch den Arbeiterschutz begünstigt wird, endlich, dass die Intensität der Arbeit überall in rascher Zunahme begriffen ist und ihre Steigerung ebenfalls durch den Arbeiterschutz gefördert wird; nirgends ist für einen größeren Zeitraum und eine größere Arbeiterzahl auch nur im Mindesten eine Verminderung .der Arbeitsleistung durch den Arbeiterschutz nachgewiesen, trotzdem operiert unser Revisionist der ökonomischen Theorie, dem keine Anschauung neu genug sein kann, immer noch mit diesem alten Ladenhüter aller bürgerlichen Gegner des Arbeiterschutzes, die durch diesen die Konkurrenzfähigkeit der „nationalen Arbeit" bedroht sehen!

Maßlos übertrieben ist andererseits die Bedeutung, die Tugan den Konsumvereinen für die Hebung der Arbeiterlage zuschreibt:

Die kooperative Bewegung befreite die Arbeiter als Konsumenten von der Macht des Händlers."

Selbst die optimistischsten Konsumvereinler dürften vor dieser Behauptung zurückschrecken. Sie erwarten wohl, der Konsumverein werde eines schönen Tages die Arbeiter von der Macht des Händlers befreien; sie müssen aber zugestehen, dass die Vorteile des Konsumvereins bisher nur einer wenig erheblichen Minorität von Proletariern zugute gekommen sind.

Tugan selbst vergisst einige Seiten später, dass er den Arbeiter durch den Konsumverein vom Händler emanzipieren ließ, und weist nach, dass der Konsumverein nicht einmal imstande ist, den Handel einzuschränken, geschweige denn ihn zu verdrängen.

Im Großen und Ganzen ist die Rolle des Handels in der modernen Wirtschaft, trotz der erwähnten, sie einschränkenden Tendenzen, nicht im Fallen, sondern in raschem Steigen begriffen, was unter anderem durch das rasche Anwachsen der Zahl der in verschiedenen Handelsoperationen beschädigten Personen bewiesen wird" (S. 87).

Macht also Tugan in Sachen der Konsumvereine aus der Mücke einen Elefanten, so übersieht er dafür die wirklichen Elefanten völlig, nämlich die wichtigsten der Ursachen, die den Aufstieg der Arbeiterklasse ermöglichten.

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass das Datieren des Beginnens dieses Aufstiegs in die fünfziger Jahre nur für England richtig ist. Dort wurde es veranlasst durch den Sieg des internationalen Freihandels, der Englands Industrie vorübergehend eine Monopolstellung auf dem Weltmarkt verlieh, von deren reichen Früchten auch einige Abfälle den Arbeitern England zugute kamen.

In Deutschland haben erst die gewaltsamen Umwälzungen von 1866 und 1870, die Throne stürzten und ein neues Reich auf liberaleren Grundlagen schufen, dadurch Bedingungen für ein rasches Anwachsen des Kapitals, aber auch für die Organisierung vieler Arbeiterschichten geschaffen. Seit dem Ende der siebziger Jahre endlich war es die Überflutung Europas mit billigen Lebensmitteln, das Sinken der Lebensmittelpreise, was eine Besserung der Arbeiterlage herbeiführte, sobald die industrielle Depression des Anfangs der achtziger Jahre überwunden war und eine Ära der Prosperität begann. Dies zusammen mit den Arbeiterschutzgesetzen und der raschen Erstarkung der Gewerkschaften hat, wenn auch nicht für das gesamte Proletariat, so doch wenigstens für einen erheblichen Teil in den Industrieländern Europas eine Verbesserung seiner Lebensbedingungen gebracht.

Sind das aber Bedingungen, die mit der weiteren Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise naturnotwendig verknüpft sind und deren Wirken sich mit ihrem Fortgang immer steigern muss, so dass eine stetige Erhöhung der Reallöhne daraus notwendigerweise folgt?

Sollte die revisionistische Theorie der fortschreitenden Entelendung der arbeitenden Massen eine sichere Grundlage haben, dann müsste sie einen derartigen notwendigen Zusammenhang herzustellen vermögen. Das wäre die wichtigste Aufgabe für eine Theorie des Revisionismus. Er denkt aber gar nicht daran, und es würde ihm auch nicht gelingen; denn die Faktoren, die eine Hebung des Reallohns in den letzten Jahrzehnten hervorriefen, sind alle bereits wieder im Rückgange begriffen.

Zuerst verschwand die Übermacht der Industrie Englands. Aber die Wirkung ihres Schwindens auf die Arbeiterlöhne dieses Landes wurde in den achtziger und neunziger Jahren noch einigermaßen anfgewogen durch den Rückgang der Lebensmittelpreise. der sich gerade im freihändlerischen England stark fühlbar machte. Dieser Rückgang hat jetzt aufgehört. Die Vereinigten Staaten werden ein Industrieland mit steigender Grundrente, seine Reserven unkultivierten, unerschöpften Bodens nehmen rasch ab. Russland und Indien wieder verfallen immer mehr chronischer Hungersnot, ihre Landwirtschaft ist in völligem Niedergang begriffen. So hört von hier wie von dort die Überflutung des Weltmarktes mit billigen Lebensmitteln immer mehr auf.

Aber auch die Arbeiterschutzgesetzgebung ist ins Stocken gekommen. Das Proletariat allein ist noch nicht stark genug, für sich allein neue Schutzgesetze zu erzwingen; die Beweggründe aber, die ehedem manche Schichten der herrschenden Klassen solchen Gesetzen geneigt machten, verlieren zusehends an Kraft. Ein Minimum von Arbeiterschutz, das notdürftig ausreicht, das allzu rasche physische Verkommen der Arbeiterschaft aufzuhalten, soweit es aus dem Arbeitsprozess herrührt, ist in den meisten Industrieländern eingeführt. Darüber hinauszugehen haben die bürgerlichen Elemente kein Interesse, nicht zum Wenigsten gerade deshalb, weil die Arbeiterbewegung inzwischen erstarkt ist. Als die wichtigsten Arbeiterschutzgesetze eingeführt wurden, da war das Proletariat noch hilflos, und man sah nicht, dass Arbeiterschutzgesetze nicht nur den physischen Verfall des Proletariats hindern, sondern auch, ja noch in höherem Grade, seine Organisation, seine intellektuelle und moralische Hebung, sein Kraftgefühl und seine Selbständigkeit steigern. Seitdem man das erkannt hat, nimmt das bürgerliche Interesse an der Sozialreform bedeutend ab.

Gleichzeitig wächst die Schicht innerhalb der besitzenden Klassen, die in einem direkten Interessengegensatz zum Arbeiterschutz steht. Eines der mächtigsten Mittel seiner Förderung war der Hass des Grundbesitzes einerseits, des Kleinbürgertums andererseits gegen das industrielle Kapital. Heute sind die Grundbesitzer selbst vielfach industrielle Kapitalisten geworden, andererseits verspüren sie den proletarischen Klassenkampf jetzt am eigenen Leibe, ihre Landarbeiter werden in dem Maße „begehrlicher", in dem sich die Lage der Industriearbeiter bessert. Der Kleinbürger endlich sieht keine ändere Rettung mehr vor sich als unbegrenzte Ausbeutung seiner Arbeitskräfte, die im Handwerk durch die Errungenschaften der Arbeiter der Großindustrie angestachelt werden, auch ihrerseits Forderungen zu stellen. Kleinbürger und Grundbesitzer, die ehedem den Kampf des Proletariats gegen das Kapital um Sozialreformen wenigstens bis zu gewissen Grenzen sympathisch aufnahmen, übertreffen heute womöglich an Arbeiterfeindschaft und Wut über jede soziale Reform die industriellen Kapitalisten.

Alles das bewirkt, dass die Sozialreform nach den paar dürftigen Leistungen, die sie aufzuweisen hatte, wieder ins Stocken gekommen ist. Diese Leistungen sind nicht der Anfang einer Entwicklungsreihe, die immer weiter in der gleichen Richtung fortschreitet, sondern Fragmente, die von ihren Urhebern selbst immer mehr als Grenzpfähle gegen alle weiteren Konzessionen betrachtet werden: bis hierher und nicht weiter. Hin und wieder kann noch ein Arbeiterschutzgesetz, namentlich auf einem kleinen Gebiet, etwa der Heimarbeit, durchgesetzt werden, im Allgemeinen ist die Arbeiterschutzgesetzgebung zum Stillstand gekommen, das heißt aber zum Rückschritt angesichts der stetigen Zunahme der Intensität der Arbeit und anderer Schädigungen der Arbeiterschaft, zum Beispiel des Wachsens der Entfernung der Wohnstätten der Arbeiter von der Arbeitsstätte, was tatsächlich einer Verlängerung ihrer dem Unternehmer geopferten Zeit bedeutet.

Aber auch das Anwachsen der gewerkschaftlichen Macht findet immer mehr seine Grenzen – das heißt ihr relatives Anwachsen, das Anwachsen ihrer Macht im Vergleich zu der der Unternehmer, nicht ihr absolutem Wachsen. Letzteres kann und wird fortgehen, der ökonomische Fortschritt des Proletariats in der Gesellschaft wird aber nur durch ihr relatives Anwachsen bestimmt.

Schon das Aufhören der eben behandelten, dem Fortschritt des Proletariats günstigen Faktoren muss auf die Kraft der Gewerkschaften hemmend einwirken. Dazu kommt noch folgendes. Die Kraft der Gewerkschaften seit den fünfziger Jahren in England, seit den achtziger und namentlich den neunziger Jahren auf dem Festland Europas würde durch zwei Umstände begünstigt: die Arbeiter schlossen sich vielfach rascher zusammen als die Unternehmer. Organisierte Arbeiter standen unorganisierten Unternehmern gegenüber. Dann aber vollzog sich in dieser Zeit eine Wandlung der kapitalistischen Produktionsweise in der Art, dass die Textilindustrie aufhörte, die führende Industrie zu sein, dass die Eisenindustrien und ihre Anhängsel immer mehr zu den herrschenden Industrien wurden. Da dominierte aber noch die Arbeit der Männer und die qualifizierte Arbeit. Die Verdrängung des Mannes durch Frauen und Kinder, der gelernten durch ungelernte Arbeit, kam da noch wenig vor.

Die rasche Entwicklung der Metallindustrien brachte daher eine starke Vermehrung der Nachfrage nach gelernten männlichen Arbeitern mit sich, nach jener Arbeiterschicht, die. am kampffähigsten und zur gewerkschaftlichen Organisation am besten geeignet ist.

Es war dies einer der Gründe, die die bürgerlichen Kritiker des Marxschen „Kapital" und ihnen nachbetend die Revisionisten gegen dieses vorbrachten: dessen Ausführungen sollten bloß auf die Entwicklung der Textilindustrie passen, nicht auf die der Metallindustrie. Für diese seien sie überholt, veraltet. nur kritiklose Dogmengläubige könnten noch darin die Gesetze finden, die den heutigen Kapitalismus beherrschen.

Aber siehe da, recht behalten wieder einmal die „Dogmengläubigen", die nicht vor jeder neuen unbekannten Erscheinung den Kopf verlieren. Nur wenige Jahrzehnte haben genügt, und schon machen sich in den Metallindustrien dieselben Erscheinungen geltend wie in der Textilindustrie. Die Arbeit von Frauen und von ungelernten Arbeitskräften dringt auch in jenen vor und hemmt damit den gewerkschaftlichen Aufschwung. Gleichzeitig haben sich aber in den Metall- und Bergwerksindustrien die Unternehmerverbände enorm entwickelt, zu einer Solidität und Schlagkraft, die vielfach der Gesamtheit der Arbeiter eines Industriezweigs tatsächlich einen einzigen Herrn dieser Industrie gegenüberstellt.

Manche Gewerkschafter trösten sich damit, dass mit organisierten Unternehmern besser auszukommen sei als mit unorganisierten. Das mag für einzelne Branchen zutreffen, in denen eine starke Schleuderkonkurrenz herrscht, die auch die Arbeiterlöhne drückt. Aber solche Branchen sind nur wenige, es sind keineswegs die entscheidenden Industriezweige, und auch in jenen kommt mit Naturnotwendigkeit der Tag, wo der Unternehmerverband nicht nur gegen die Schleuderkonkurrenz wirkt, sondern auch der Arbeiterklasse seine Zähne zeigt. Und je eher er mit jener fertig wird, desto früher geht er gegen diese zum Kampfe vor. Wo es aber Kampf zwischen Arbeitern und Unternehmern gibt, ist es offenbar, dass die organisierten Unternehmer stärker sind als die nichtorganisierten.

Alle diese Umstände bewirken, dass die Gewerkschaften mehr und mehr in die Defensive gedrängt und gezwungen werden, ihre Kraft immer mehr darauf zu konzentrieren, die gewonnenen Positionen zu behaupten; dass ihre Vorsicht steigt, wie durch die zunehmende Verpönung der Streiks und der Arbeitsruhe am 1. Mai bezeugt wird. Das letzte Jahr der Prosperität hat auch keine gewerkschaftlichen Errungenschaften mehr gebracht, die erheblich über das Maß der gleichzeitigen Lebensmittelteuerung hinausgingen. Die Lebensmittelpreise steigen, bleiben aber hoch auch in den Zeiten der Krise, und der Widerstand gegen neue Arbeiterschutzgesetze wächst.

Das sind Tatsachen, die unabhängig sind von dem Belieben einzelner Parteileiter und Gewerkschaftsbeamten und unabhängig von dieser oder jener Taktik.

Alles das muss aber dahin führen, dass die Periode des wachsenden Reallohns für eine Arbeiterschicht nach der andern aufhört, für manche sogar sinkende Löhne eintreten; und das verspricht nicht bloß für Zeiten vorübergehender Depressionen zu gelten, sondern sogar für Zeiten der Prosperität.

Die Periode des steigenden Reallohns und der zeitweisen Verbesserung der Lage weiter Arbeiterschichten, die seit den fünfziger Jahren in England, seit den siebziger Jahren und namentlich seit dem Ende der achtziger Jahre in Deutschland begann, ist zu Ende; eine neue Periode beginnt mit erheblich verschlechterten Bedingungen für die ökonomischen Kämpfe des Proletariats, die immer größere Kreise der Arbeiterschaft mit einer Stagnation oder sogar einem Sinken des Reallohns als länger dauernde, nicht kurz vorübergehende Erscheinung bedroht.

Damit ist nicht gesagt, dass diese Periode ihrerseits wieder jahrzehntelang dauern muss und für die Arbeiterklasse ein Ankämpfen gegen ihre degradierenden Tendenzen völlig aussichtslos ist. Aber immer aussichtsloser wird es, diese Tendenzen durch isolierte Kämpfe einzelner Berufsorganisationen oder einzelner parlamentarischer Fraktionen zu brechen. Aus einer gewaltigen Änderung der gesamten internationalen politischen und sozialen Situation hervorgegangen, kann die jetzige Periode, die wir kurz als eine Periode der Reaktion bezeichnen können, nur überwunden werden durch eine ebenso gewaltige Änderung der gesamten internationalen politischen und sozialen Situation, die eine Zusammenfassung aller Machtmittel des gesamten internationalen Proletariats erheischt. Die russische Revolution hätte der Anstoß zu einer solchen Überwindung der politischen und sozialen Reaktion werden und eine neue Ära raschen Ansteigens des Proletariats inaugurieren können. Aber es sind noch andere Möglichkeiten und Ausgangspunkte für diese neue Ära denkbar. Nicht Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit bedingt die gegenwärtige Situation, sondern sie fordert nur auf zur Überwindung aller Kleinkrämerei, aller Beschränkung auf die Kleinarbeit; sie fordert die Vorkämpfer des Proletariats auf zu weitem Blick und zu Kühnheit, welche Eigenschaften sich freilich paaren müssen mit vollkommener Sachkenntnis und Kaltblütigkeit. so dass die kämpfenden Proletarier es vermögen, sich von allen Illusionen und abenteuerlichen Experimenten fern zu halten, ebenso bereit, in einer aussichtslosen Situation geduldig zu warten und sich auf die Zusammenfassung und Schulung der proletarischen Kräfte zu beschränken, wie jede Möglichkeit einer erfolgreichen Aktion aufs Überraschendste und Rücksichtsloseste auszunutzen.

Solange aber nicht eine große welthistorische Wende eintritt, muss das Proletariat damit rechnen, dass die „guten Zeiten" vorüber sind und das ständige Wachsen des Reallohns ein Ende erreicht hat.

Wenn die Bewegung des Lohnes in der kapitalistischen Produktionsweise nicht in der Richtung einer ständigen Verelendung geht, so doch auch nicht in der Richtung ständigen Aufstiegs. Der Lohn bewegt sich stets innerhalb bestimmter Grenzen, die freilich elastischer sind als die des Lassalleschen ehernen Lohngesetzes, und er kann innerhalb dieser Grenzen nicht bloß mit den Fluktuationen von Prosperität und Krise, sondern auch in längeren Zeiträumen, Generationen, auf- und niedersteigen, nicht aus den malthusianischen Gründen, die Lassalle akzeptierte, sondern infolge tiefgehender Wandlungen in den allgemeinen Produktionsverhältnissen und im Staatsleben. Außergewöhnlich günstige Verhältnisse mögen die aufsteigende Lohnbewegung für manche Arbeiterschicht ein halbes Jahrhundert lang andauern lassen, aber keine ist je dagegen gefeit, durch eine Änderung der Situation des Weltmarktes, der Technik, der politischen Machtverhältnisse wieder in die absteigende Linie des Lohnes gedrängt zu werden. Wie über jedem Proletarier stets das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit schwebt, so über jeder Proletarierschicht das Damoklesschwert des ökonomischen Niederganges.

Wie mannigfaltig sich aber auch unter dem steten Wechsel der Verhältnisse die Bewegung der Arbeitslöhne gestalten mag, ununterbrochen wächst stetig die Ausbeutung, wächst die Zahl der Ausgebeuteten und damit die Masse des sozialen Druckes, wächst „aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse („Kapital", I, 2. Auflage. S. 793).

In diesem Wachstum, nicht in dem der Unwissenheit und der Verwilderung, beruhe die Notwendigkeit der Verschärfung der Klassengegensätze und Klassenkämpfe, beruht aber auch die Gewissheit unseres Sieges.

Mögen die Löhne steigen, mögen sie fallen, das Proletariat wächst an Zahl und intellektueller wie moralischer Kraft. Es gibt keine ärgere Verdrehung des Marxschen Standpunktes, als wenn man ihn behaupten lässt, „der Arbeiter schreite abwärts in physischer, geistiger und moralischer Hinsicht. er versinke immer tiefer in Unwissenheit und sittliche Verwilderung".

Das war der Standpunkt der Utopisten, die Tugan wieder zu Ehren bringen möchte, nicht der von Marx. Weil jene nur das Verkommen des Arbeiters sahen, waren sie Utopisten, das heißt suchten sie sozialistische Triebkräfte außerhalb der Arbeiterklasse zu finden, um diese zu befreien. Andererseits aber, weil sie nach solchen Triebkräften in der Bourgeoisie suchten, weil sie von der Befreiung des Proletariats durch eigene Kraft nichts wissen wollten, wurden sie gedrängt. das Verkommen der Arbeiter möglichst stark zu betonen, um das Mitleid der besitzenden Klassen zur Hilfe für die Besitzlosen anzustacheln.

Die große Tat von Marx bestand gerade darin, im Elend der Arbeiterklasse nicht bloß die sie degradierenden Seiten zu sehen, sondern auch die sie revoltierenden und damit erhebenden; nicht bloß, um hegelianisch zu sprechen, die Negation des früheren Wohlstandes des selbständigen Arbeiters durch dessen Proletarisierung, sondern auch die Negation dieser Negation. Dank seiner dialektischen Schulung und seinen persönlichen Beziehungen zu revolutionären Schichten des Proletariats erkannte er (mit Engels) deutlicher als ein anderer sozialistischer Denker seiner Zeit die welthistorische Bedeutung des Proletariats, durch sein intellektuelles, moralisches, politisches Erstarken sich selbst und damit die Menschheit zu befreien!

Und da findet Tugan, gleich den anderen Revisionisten, den Mut, gerade diesem Denker die Meinung unterzuschieben, das Proletariat versinke immer tiefer in Unwissenheit und sittliche Verwilderung!

Die Herren wissen selbst ganz gut, dass Marx das Gegenteil behauptet, dass „Marx sich hier und dort anders aussprach" (S. 73). Um trotzdem Marx gegenüber recht zu behalten, stammeln sie etwas von einem „Denkfehler" bei Marx, von einem „Widerspruch", in den sich Marx verwickelt. Aber wo sie einen Widerspruch sehen, da liegt nichts vor als ihre eigene Unfähigkeit, dialektisch zu denken.

IV

Noch schlimmer als bei der „Verelendungstheorie" spielt Tugan Marx bei der „Zusammenbruchstheorie" mit, die ebenso wie die Verelendungstheorie in der Form, in der sie kritisiert wird, eine lächerliche Erfindung des Revisionismus ist. Um den Marxschen Standpunkt zu charakterisieren, zitiert Tugan folgenden Passus:

Ganz wie Himmelskörper., einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen, so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist. … Die Periode dieser Zyklen umfasst bis heute zehn bis elf Jahre, aber es liegt kein Grund vor, diese Größe für eine bleibende zu halten. Auf Grund der Gesetze der kapitalistischen Produktion ist vielmehr anzunehmen, dass diese Größe sich ändert und dass die Dauer der Zyklen sich allmählich verringern wird" (S. 89).

Nach moderner Manier oder vielmehr Unmanier gibt Tugan nicht an, wo diese Zitate zu finden sind. Diese Manier ist sehr bequem für moderne Leser, denen es nur um rasches Überfliegen, nicht gründliches Studium eines Buches zu tun ist, und noch bequemer für moderne Autoren, die es dadurch dem Kritiker erschweren, ihre Zitate nachzuprüfen, nicht bloß auf die Genauigkeit des Wortlauts, sondern vor allem auf den Zusammenhang, in dem sie stehen und durch den allein sie ihren bestimmten Sinn erhalten.

Der erste Teil des Zitats ist im „Kapital" (I, 4. Aufl., S. 598) zu finden. Nicht aber der zweite Teil. Er steht nur in der französischen Übersetzung des „Kapital" (S. 200), der deutsche Wortlaut rührt von Tugan her.

Es ist eine gelegentliche Bemerkung von Marx, der er keine Wichtigkeit beilegte, da er sie nicht in die zweite Auflage des deutschen „Kapital" aufnahm, die ein Jahr nach der französischen Ausgabe erschien. Wie wenig sie das Wesen der Marxschen Krisentheorie berührt, kann man daraus ersehen, dass Engels in einer Fußnote zum dritten Band des „Kapital" (2, S. 27) „eine Ausdehnung der Dauer des Zyklus" für möglich hält. Auf jeden Fall besagt der Marxsche Satz nicht mehr, als dass die Dauer des Krisenzyklus nicht unverrückbar zehn Jahre betragen müsse, dass sie veränderlich sei (variable, was Tugan ungenau übersetzt: dass sie sich ändert) und dass Tendenzen auf eine Verkürzung dieses Zyklus von zehn und elf Jahren vielleicht auf neun oder acht Jahre bestehen. Was aber schließt Tugan daraus?

Auf diese Weise sieht Marx für die Zukunft eine chronische Krisis voraus, die die Bewegung der kapitalistischen Produktion zum Stillstand bringen und dadurch der kapitalistischen Ordnung den Todesstoß versetzen wird."

Ich frage, wo steht in dem obigen Zitat auch nur ein Wort von der chronischen Krise, die die kapitalistische Produktion zum Stillstand bringen und ihr den Todesstoß versetzen wird? Nie und nirgends hat Marx auch nur ein Wort geschrieben, das in diesem Sinne ausgelegt werden könnte.

Seit einem Jahrzehnt wird von den Revisionisten Marx diese alberne Anschauung unterschoben, stets in der willkürlichsten Weise, durch ganz lächerliche Zitatauslegungen. Seit einem Jahrzehnt stellen wir immer wieder den wahren Sachverhalt fest. Nutzt nichts. Die Herren kapieren's nicht.

Hat man die Lächerlichkeit einer Zitatauslegung widerlegt. so spornt das bloß ihren Eifer an, nach irgend einem anderen Sätzchen zu suchen, das im Sinne dieses Unsinnes gedreht werden könnte. Da er in den gesamten deutschen Schriften von Marx keinen Satz finden konnte, der auch nur annähernd für Tugans Kritik verwendbar wäre, blieb diesem nichts übrig, als die französische Übersetzung des „Kapital" und in dieser nur ein einziger Satz, der nicht in Entferntesten das sagt, was Tugan und ihm herausliest.

So wird Marx überwunden und schreitet die Wissenschaft über ihn zu höherer Erkenntnis vor.

Welches ist aber die Erkenntnis, zu der hier Tugan über Marx hinweg vordringt? Man höre:

,,Es gibt kleine Gründe, vorauszusetzen, dass der Kapitalismus je eines natürlichen Todes sterben wird; er muss zerstört werden durch den bewussten Willen des Menschen, zerstört durch die vom Kapital ausgebeutete Klasse – durch das Proletariat" (S. 90).

Sehr gut gesagt, lieber Tugan, aber müssen Sie nicht selber lachen, wenn Sie diesen Satz Marx entgegenhalten?

Sie zitieren unmittelbar vorher fast auf einer ganzen Seite den Passus des Kommunistischen Manifestes über die Krisen, leider brechen Sie ihn gerade vor folgendem Satz ab:

Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier."

Das wurde sechzig Jahre vor Tugans neuestem Buch geschrieben.

Unser Revisionist hat vor diesem Satz haltgemacht, jedoch ahnt er, dass er ihm wieder entgegengehalten werden wird, und so gebraucht er auch hier wieder die seit Bernstein und Sombart so beliebte Ausflucht des „tiefen Widerspruchs" in der „sozialen Philosophie von Marx". Dieser sei eben nicht bloß Denker gewesen, sondern auch Kämpfer. Als Kämpfer habe er an die Proletarier appelliert, als Denker glaubte er, der Kapitalismus werde ohne Kampf eines natürlichen Todes sterben. Als Forscher „überschätzte er die Bedeutung der elementaren Seite des geschichtlichen Prozesses und begriff nicht die schöpferische Riesenrolle der lebendigen, menschlichen Persönlichkeit in diesem Prozess" (S. 91).

Die Bedeutung von Marx als Denker und Forscher bestünde also darin, dass er etwas nicht begriff, was für Tugan völlig klar ist. Aber diese Tugansche Klarheit hat Löcher, durch welche eine faustdicke Unklarheit sichtbar wird.

Nichts konfuser, als die „lebendige, menschliche Persönlichkeit", den „bewussten Willen des Menschen" in Gegensatz zu bringen zu der „ökonomischen Entwicklung", dieser „elementaren Seite des geschichtlichen Prozesses". Als wenn die Ökonomie nicht selbst das Werk der „lebendigen, menschlichen Persönlichkeit" wäre, als wenn der ökonomische Prozess etwas anderes wäre als die Arbeit der menschlichen Persönlichkeit. als wenn die Triebfeder des ökonomischen Prozesses etwas anderes wäre als der „bewusste Wille des Menschen", der Wille zu leben! Als wenn in den ökonomischen Werken von Marx nicht ununterbrochen von der menschlichen Persönlichkeit und ihrem Willen die Rede wäre, als ab die Klassen nicht aus Menschen beständen, die Klasseninteressen nicht dem „bewussten Willen des Menschen" entsprängen und Klassenkämpfe ohne solchen Willen geführt werden könnten!

Hat Tugan von alledem nichts bei Marx gefunden oder entspringt alles, was Marx darüber gesagt, auch einem „Denkfehler"? War es nicht der Denker, sondern bloß der Agitator Marx, der die „schöpferische Riesenrolle" der Klassen und damit der „lebendigen, menschlichen Persönlichkeit" im „geschichtlichen Prozess" darlegte?

Achtzig Seiten später weiß Tugan selbst, was Marx geleistet:

,,Worin besteht die neue Bahn, die Marx dem Sozialismus erschlossen hatte? In dem genial einfachen Grundsatze, dass die Ziele des Sozialismus nur durch den Klassenkampf der bisher unterdrückten Klasse erreicht werden können. … Aber jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf, da der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist, und das einzige Mittel für die unterdrückte Klasse, diese Herrschaft zu stürzen, die Eroberung der Staatsmacht ist. … Der Sieg des allen materiellen Reichtum produzierenden Proletariats muss die Abschaffung jeder Ausbeutung der Arbeit. jeder Klassenherrschaft nach sich führen. Das seit der Veröffentlichung des ,Kommunistischen Manifestes' verflossene halbe Jahrhundert ist im Großen und Ganzen ein Triumph der neuen Taktik des Sozialismus und ein anschaulicher Experimentalbeweis ihrer Fruchtbarkeit und Zweckmäßigkeit" (S. 180, 181).

Vortrefflich! Aber was bleibt dann übrig von der Kritik, die Tugan anlässlich der Krisentheorie an Marx übt? Und was bleibt nach alledem vom Revisionismus übrig? Setzt der nicht der Marxschen „Revolutionsromantik“ von der Eroberung der Staatsgewalt die Lehre vom friedlichen „Hineinwachsen“ in den Zukunftsstaat entgegen?

Was wird Sombart zu dieser Auffassung Tugans sagen, Sombart, der uns versichert. die neue Gesellschaft müsse „eben im Schoße der alten Ordnung langsam heranreifen", „alle historischen Revolutionen" seien bisher „ohne jede Bedeutung für den Gang der sozialen Entwicklung gewesen", die Idee der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat sei ein Unsinn, ein „Fremdkörper" in der „historisch realistischen Auffassung von Marx", den „alle Sophistik der Welt" mit dieser nicht wird „zusammendeuten können" (Sozialismus und soziale Bewegung. 6. Aufl. Verlag von G. Fischer, S. 78, 79).

Und was wird aus dem gewerkschaftlichen Revisionismus à la Rexhäuser-Döblin, der da findet, die Idee des Klassenkampfes erschwere die Verständigung mit den Unternehmern, die so gern bereit wären, die „berechtigten Forderungen der Arbeiter zu erfüllen"; die Betonung des Klassenkampfes gehöre bloß in die reine „Theorie", in der praktischen Gegenwartsarbeit der Gewerkschaften sei sie schädlich (Tarifvertragspolitik und Klassenkampf, „Soz. Monatshefte", 1908, S. 723, 724).

Tugan bleibt Revisionist und Marxkritiker, aber er stellt dabei den Revisionismus auf den Kopf. Dieser war davon ausgegangen, dass der Marxismus durch seine steten Hinweise auf das „Endziel", durch seine „Fresslegende", die praktische Arbeit der Hebung der Arbeiterklasse störe. Das bammelnde Endziel wurde verhöhnt, der Satz geprägt von der Bewegung, die alles ist, wogegen das Endziel nichts. Jetzt dagegen klagt Tugan:

Um auf die Massen Einfluss zu gewinnen, musste der Sozialismus den alltäglichen Interessen der Massen näher treten. Diese Aufgabe hat der Marxismus gelöst. Dank der genialen, von Marx geschaffenen Taktik wurde die sozialistische Bewegung zu einer Arbeiterbewegung. Der Kampf um das sozialistische Ideal hat den Charakter des Kampfes um die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse angenommen. Und nur dank dieser neuen Taktik ist der Sozialismus zu dem geworden, was er jetzt ist, zur größten politischen Macht unserer Zeit!

Je mehr aber der Schwerpunkt der sozialistischen Bewegung auf das Gebiet der praktischen Politik, der allernächsten Bedürfnisse der Arbeiterklasse verlegt wurde, desto mehr rückt das Endziel der Bewegung in den Hintergrund. … Auf diese Weise hat sich die marxistische Taktik, die im praktischen Leben mit so glänzendem Erfolge gekrönt wurde, auf dem Gebiet der Theorie als eine Schwächung des Interesses für die Endziele des Sozialismus ergeben" (S. 8 u. 9).

Diesem Mangel will Tugan abhelfen, indem er die Denkweise der Utopisten neu belebt, es für dringend notwendig erklärt, jetzt schon die Einrichtungen des sozialistischen Zukunftsstaates festzustellen. Dass Marx darüber nichts Bestimmtes sagte, das sei sein großer Fehler gewesen.

Die Ausführungen, die Tugan im Anschluss an diese Auffassung entwickelt, sind das Bemerkenswerteste an seinem Buche. Ich hoffe, noch Gelegenheit zu haben, sie in einem anderen Zusammenhang zu beleuchten. Einstweilen aber wollen wir nur konstatieren, dass der klügste Kopf des Revisionismus dessen Anklagen gegen Marx in ihr Gegenteil verkehrt hat.

Das ist das theoretische Ergebnis von zehn Jahren Revisionismus. Er beginnt mit der fulminanten Erklärung, dass die Bewegung alles sei und das Endziel nichts, und kommt zu der wehmütigen Klage, dass es ohne Endziel nicht gehe und dass dieses durch die Bewegung verschüttet werde. Der Revisionismus von heute schlägt den von gestern tot.

Der notwendige Zusammenhang zwischen Endziel und Bewegung, die nur zwei Seiten derselben Sache sind, bleibt dem Revisionismus dabei nach wie vor verborgen. Darin ändert er sich nicht, trotz aller seiner Wandlungen, und darum bleibt er dem Marxismus gegenüber heute ebenso theoretisch unfruchtbar wie ehedem.

Dabei aber gibt er fast alle Positionen preis, die er diesem gegenüber eingenommen hatte, und wo er sie zu behaupten sucht, geschieht es nur durch Verkehrung und Verballhornung des Marxschen Standpunktes.

Und schließlich sieht sich der Revisionismus gezwungen, zu gestehen, dass „die marxistische Taktik im praktischen Leben mit glänzendem Erfolg gekrönt wurde", mit glänzendem Erfolg für das Proletariat, das sie „zur größten politischen Macht unserer Zeit gestaltete".

Was hat dagegen der Revisionismus praktisch erreicht? Nichts als eine Stärkung der Bourgeoisie.

Er flößte einer Reihe von Arbeitern, die sich schon vom Liberalismus losgelöst hatten, wenigstens vorübergehend wieder neues Zutrauen zu diesem ein, Er bewirkte, dass der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat nur als ein Produkt von Rückständigkeit erschien, einerseits ein Überbleibsel veralteter Dogmengläubigkeit und gewissenloser Demagogie im Proletariat, andererseits ein Produkt der Bösartigkeit von „Scharfmachern" und Junkern, die als ein rückständiger Typus aufgefasst wurden, denen man das „freiheitliche Bürgertum" mit starkem „sozialem Empfinden" als den Typus der Zukunft gegenüberstellte, als eine Schicht, die bereit sei, Arm in Arm mit den Proletariern gegen Junker, Pfaffen und Scharfmacher zu kämpfen und eine Periode der „industriellen Demokratie" zu begründen.

Durch diese Illusionen wurde dem bürgerlichen Radikalismus in manchen Ländern die Bundesgenossenschaft von Arbeitern zugeführt. die sich bereits zu sozialistischer Erkenntnis durchgerungen hatten. Aber noch in anderer Weise wurde dieser durch den Revisionismus gestärkt.

Der Liberalismus ist theoretisch bankrott und wird dadurch unfähig, einen Nachwuchs an weiterblickenden Politikern zu erzeugen. Der Revisionismus, der in der Praxis das Zusammenwirken mit dem Liberalismus predigt, schlägt die Brücke, auf der diesem Elemente zuziehen können, die durch die Schule des Marxismus gegangen sind und, wenn sie ihn auch nicht zu Ende gedacht. so doch genug von ihm gelernt haben, um an Verständnis der Triebkräfte der modernen Gesellschaft den liberalen Politikern weit überlegen zu sein. Wenn solche Elemente, durch revisionistische Erwägungen getrieben, sich dem Libera­lismus nähern in der Erwartung, ihn vor den Wagen des Sozialismus spannen zu können, geraten sie unbemerkt dahin, selbst vor den Wagen des Liberalismus gespannt zu werden, dem sie dadurch neue Kraft verleihen. Es ist eines der Anzeichen des Übergangsstadiums, in dem wir leben, dass die Bourgeoisie vieler Länder ihre Staatsmänner wie ihre Klopffechter mit steigender Vorliebe aus Kreisen holt, die etwas vom Marxismus gelernt haben. Es ist aber auch ein Anzeichen der hoffnungslosen Dummheit des deutschen Liberalismus, dass er blind dafür ist, und die Barth und Breitscheid, die den Wert eines sozialistischen Zuzugs für die intelligente Bourgeoisie begriffen haben, im Stiche lässt. Daher finden die F. D. Hertz, Struve, Briand, Millerand, John Burns usw. in Deutschland keine Genossen. Nicht einmal Herrn Sombart hat der deutsche Liberalismus zu fesseln verstanden. Und da man nicht dauernd zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie hin und her pendeln kann, hat dieser Vertreter des professoralen Revisionismus die Politik für ein undankbares Geschäft erklärt.

So ist die praktische wie die theoretische Bilanz des ersten Jahrzehnts des Revisionismus keine glänzende. Sie gemahnt sehr an die Schlagworte, mit denen er den Marxismus zu töten meinte: Verelendung und Zusammenbruch.

1 Dr. M. Tugan-Baranowsky, Der moderne Sozialismus in seiner geschichtlichen Entwicklung. Dresden, O. B. Böhmert.

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