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Wladimir I. Lenin 19020916 Brief an die Redaktion des „Juschny Rabotschij"

Wladimir I. Lenin: Brief an die Redaktion des „Juschny Rabotschij"1

[Geschrieben am 16. (3.) September 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 248-250]

Liebe Genossen! Euer ausführlicher Brief hat uns alle außerordentlich gefreut. Bitte, schickt möglichst rasch die versprochenen Ergänzungen und schreibt uns öfters. Wir hoffen, bald einen Genossen zu eingehenderen und endgültigen Verhandlungen zu Euch senden zu können, und beschränken uns vorläufig auf das Wichtigste.

Ihr habt tausendmal recht, wenn Ihr sagt, dass wir uns möglichst bald, ja sofort zu einer allgemein-russischen Organisation vereinigen müssen, mit dem Ziel, die ideologische Einheit der Komitees und die praktische, organisatorische Einheit der Partei vorzubereiten. Wir haben von uns aus bereits ziemlich wichtige Schritte in dieser Richtung getan, und zwar dank dem Umstand, dass das Petersburger Komitee ganz „iskristisch" geworden ist, eine gedruckte Erklärung darüber abgegeben2 und sich tatsächlich (das natürlich ganz entre nous3) mit der Russischen ,,Iskra"-Organisation verschmolzen hat, deren Mitglieder sehr einflussreiche Stellen in der Zentralgruppe des Komitees erhielten. Wenn wir eine ebenso vollständige Übereinstimmung und die vollständige Verschmelzung mit dem Süden erreichen, so wird die Partei drei Viertel des Weges zu ihrer tatsächlichen Einigung zurückgelegt haben. Man muss sich damit sehr beeilen. Wir werden sofort Maßnahmen treffen, erstens, damit Mitglieder der Russischen „Iskra"-Organisation zu Besprechungen zu Euch kommen; zweitens, damit hier eine Verbindung mit Tschernyschew hergestellt wird. Ihr müsst von Euch aus die Veröffentlichung (oder den Abdruck in der „Iskra") Eurer grundsätzlichen Erklärung, die Eure Stellung in der Partei vollkommen festlegt, beschleunigen und alle Maßnahmen zur wirklichen Verschmelzung mit der russischen „Iskra"-Organisation treffen.

Zum Schluss einige Worte über die von Euch aufgeworfenen Fragen. Was die Bauernschaft und das Agrarprogramm anbelangt, so ist uns nicht klar geworden, womit Ihr in unserem Entwurf zum Agrarprogramm unzufrieden seid und welche Änderungen Ihr wünscht. Sprecht Euch darüber deutlicher aus. Habt Ihr Nr. 4 der „Sarja" mit dem Aufsatz über das Agrarprogramm gesehen? Überhaupt sind Eure Bemerkungen über die Fehlgriffe der „Iskra" ein Beweis dafür, wie wichtig es für uns ist, unsern Verkehr reger und regelmäßiger zu gestalten, um vollständig in allem einig zu sein. Wir haben so verdammt wenig Kräfte, dass nur der engste Zusammenschluss aller Sozialdemokraten uns einen Erfolg im Kampf sowohl gegen die „Abenteurer" wie gegen die Regierung sichern kann. Und doch haben wir z. B. von Euren Ansichten, von Eurer praktischen Arbeit bisher fast nichts gewusst – ist das etwa in Ordnung? Oder ist es in Ordnung, dass Ihr z. B. jetzt für Euch allein Schritte zu einem ständigen Transport von Material unternehmt, und wir das gleiche – auch für uns allein tun? (Schreibt ausführlicher, wie und was Ihr unternommen habt, welche Mittel vorhanden sind usw.). Derselbe Umstand, d. h. der Mangel an Kräften muss in Betracht gezogen werden bei der Erörterung der Frage eines besonderen Blattes, der Fortsetzung des „Juschny Rabotschij", seiner Verwandlung in den „Russkij Rabotschij". Alle Seiten dieser Angelegenheit müssen sehr genau abgewogen werden. Überlegt nur, woher die Kräfte für zwei Organe hernehmen, wo wir doch so gut wissen, dass sie schon für eins nicht ausreichen. Werdet Ihr nicht Petersburg (den Nicht-Iskristen Petersburgs) den Anstoß geben, die „Rabotschaja Mysl" auch als „aufklärendes", volkstümliches usw. Blatt herauszugeben? – und das in einem Augenblick, wo Petersburg die „Rabotschaja Mysl" einzustellen beabsichtigt und an eine wirkliche Arbeit an der „Iskra" herangehen will. Wird unter Euren Plänen nicht Eure Arbeit für die Einrichtung einer regelmäßigen literarischen Mitarbeit an der „Iskra" von Russland aus leiden, – ohne diese Mitarbeit aber kann die „Iskra" kein wirkliches Parteiblatt werden, und vergesst nicht, dass wir für diese Sache außer Euch kaum jemanden in Aussicht haben. Und wenn nicht „Iskra"-Leute diese Arbeit in die Hände nehmen, wer wird es sonst tun und wann? Besprecht schließlich sorgfältiger die Frage, ob die Aufgaben einer aufklärenden, propagandistischen, volkstümlichen, auf den „Durchschnittsarbeiter" (wie Ihr Euch ausdrückt) berechneten Literatur vereinbar sind mit den Aufgaben einer Zeitung. Eine besondere Literatur für den Durchschnittsarbeiter und für die Masse ist notwendig, das kann nicht bestritten werden, aber das können nur Flugblätter und Broschüren sein, denn man kann in der Zeitung dem Durchschnittsarbeiter nicht jede Frage richtig auseinandersetzen. Man muss da von Anfang anfangen, vom Abc und bis zu Ende gehen und die Frage von allen Seiten gründlich erörtern. Eine Zeitung ist kaum imstande, das zu tun, selbst wenn sie mit literarischen Kräften aufs beste ausgerüstet ist. Vergesst schließlich nicht, dass Euer Beginnen, ob Ihr es wollt oder nicht, von allgemein russischer Bedeutung sein wird, und dass das Gerede, die Vorstellungen, die Theorien über besondere Zeitungen „für die Intelligenz" und „für die Arbeiter" eine verhängnisvolle Rolle spielen können, und zwar nicht nur unabhängig von Eurem Willen, sondern sogar trotz Eurer persönlichen Gegenwirkung. Von solchen Leuten, wie Ihr seid, gibt's doch unter den russischen Sozialdemokraten nur ein kleines Häuflein, in der Masse der russischen Sozialdemokratie aber gibt es noch sehr und sehr viel Beschränktheit aller Art. Wir denken natürlich nicht daran, uns in einer so wichtigen Frage auf diese flüchtigen Bemerkungen zu beschränken, nur bitten wir Euch, Euch mit der Entscheidung nicht zu übereilen und die Frage von allen Seiten zu erörtern. Die Aufrechterhaltung einer besonderen Gruppe (die Redaktion des „Juschny Rabotschij") halten wir sogar für wünschenswert, wenigstens bis zum Parteitag, aber diese Gruppe sollte sich mit ihrer Zeitung nicht übereilen.

1 In der Periode, in die dieser Brief Lenins fällt, hatten W. W. Rosanow und I. J. und J. S. Lewin an der organisatorischen und literarischen Arbeit der Gruppe regen Anteil genommen.

2 Die Mitteilung des St. Petersburger Komitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Kampfbund für die Befreiung der Arbeiterklasse), die „An alle russischen sozialdemokratischen Organisationen" gerichtet und das Ergebnis des Sieges der „Iskra"-Richtung über die ökonomistische Richtung in der Petersburger Organisation war, kam im Juli 1902 als Sonderdruck heraus und wurde in Nr. 26 der „Iskra" (15. Oktober 1902) abgedruckt. In seiner Mitteilung stellte das Komitee vor allem fest, dass man, „wie der Verfasser der Broschüre ,Was tun?' sagt, der Periode der Handwerklerei, der lokalen Zersplitterung, des organisatorischen Chaos und des Programm-Durcheinanders ein Ende setzen müsse", da sonst die Stärkung anderer revolutionärer und oppositioneller Strömungen auf Kosten der Sozialdemokratie unvermeidlich sei. Zum Schluss erklärte das Komitee, dass es „mit den theoretischen Anschauungen, den taktischen Ansichten und den organisatorischen Ideen der ,Sarja' und der ,Iskra', die es als führende Organe der russischen Sozialdemokratie betrachtet, einverstanden sei". Die Petersburger Ökonomisten, an deren Spitze Tokarew („Wyschibalo") stand, konnten sich mit der so entstandenen Lage nicht abfinden und versuchten den Kampf fortzusetzen, indem sie den vom Petersburger Komitee gefassten Beschluss über das Einverständnis mit der „Iskra" für unrechtmäßig erklärten. Der Kampf zog sich in die Länge. Aber trotz des erbitterten Widerstandes der Ökonomisten, behaupteten die Iskristen ihre herrschende Stellung in der Petersburger sozialdemokratischen Organisation.

3 unter uns. Die Red.

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