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Wladimir I. Lenin 19020300 Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie

Wladimir I. Lenin: Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie1

[Geschrieben Februar-Anfang März 1902. Zum ersten Mal veröffentlicht im August 1902 in Nr. 4 der Zeitschrift „Sarja" gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 117-170]

I

Die Notwendigkeit eines „Agrarprogramms" für die russische sozialdemokratische Partei braucht man wohl nicht erst ausführlich nachzuweisen. Unter einem Agrarprogramm verstehen wir die Festlegung der leitenden Grundsätze für die sozialdemokratische Politik in der Agrarfrage, d. h. gegenüber der Landwirtschaft, den verschiedenen Klassen, Schichten, Gruppen der Landbevölkerung. In einem solchen „Bauern"-Land, wie Russland, ist das Agrarprogramm der Sozialisten natürlich hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, ein „Bauernprogramm", ein Programm, das die Stellung zur Bauernfrage bestimmt. Großgrundbesitzer, landwirtschaftliche Lohnarbeiter und „Bauern", – das sind die drei Hauptschichten der Landbevölkerung in jedem kapitalistischen Lande, also auch in Russland. Und wie klar und bestimmt das Verhältnis der Sozialdemokraten zu den ersten zwei der erwähnten drei Schichten (den Großgrundbesitzern und Arbeitern) schon an und für sich ist, so unbestimmt ist schon allein der Begriff der „Bauernschaft", und um so unbestimmter noch unsere Politik in Hinsicht auf die Grundfragen ihrer Lebensweise und ihrer Entwicklung. Wenn im Westen den Hauptpunkt des Agrarprogramms der Sozialdemokraten eben die „Bauernfrage" bildet, so muss das in Russland in bedeutend höherem Grade der Fall sein. Eine ganz unzweideutige Festlegung unserer Politik in der Bauernfrage ist für uns russische Sozialdemokraten um so notwendiger, als unsere Richtung in Russland noch ganz jung ist, als der gesamte alte russische Sozialismus letzten Endes ein „Bauern"-Sozialismus gewesen ist. Allerdings ha! jene Masse der russischen „Radikalen", die sich einbildet, die Hüterin des von unseren volkstümlerischen Sozialisten aller Schattierungen hinterlassenen Erbes zu sein, alles Sozialistische beinahe vollständig eingebüßt. Aber trotzdem stellen sie die Meinungsverschiedenheiten, die sie mit uns in der „Bauern"-Frage haben, um so lieber in den Vordergrund, je angenehmer es für sie ist, die Tatsache zu vertuschen, dass in den Vordergrund des sozialen und politischen Lebens Russlands bereits die „Arbeiter"-Frage gerückt ist, dass sie in dieser Frage keine festen Grundlagen haben, und dass neun Zehntel von ihnen hier eigentlich nur ganz gewöhnliche bürgerliche Sozialreformer sind. Auch die zahlreichen „Kritiker des Marxismus", die sich in dieser letzterwähnten Hinsicht fast vollständig mit den russischen Radikalen (oder Liberalen?) verschmolzen haben, bemühen sich, das Hauptgewicht auf die Bauernfrage zu legen, in der der „orthodoxe Marxismus" durch die „neuesten Arbeiten" der Bernstein, Bulgakow, David, Hertz und sogar … Tschernow am meisten bloßgestellt worden sei!

Weiter wird – abgesehen von den theoretischen Zweifeln und dem Kriege der „vorgeschrittenen" Richtungen – in der letzten Zeit durch die rein praktischen Bedürfnisse der Bewegung selber die Aufgabe der Propaganda und Agitation auf dem flachen Lande in den Vordergrund gestellt. Eine auch nur halbwegs ernste und umfassende Regelung dieser Sache ist aber ohne ein grundsätzlich folgerichtiges und politisch zweckmäßiges Programm unmöglich. Und die russischen Sozialdemokraten haben seit dem Augenblick ihrer Entstehung als besondere Richtung die ganze Bedeutung der „Bauernfrage" anerkannt. Wir erinnern daran, dass die Forderung „der gründlichen Umgestaltung der Agrarverhältnisse (die Bedingungen der Ablösung und der Versorgung der Bauern mit Land)" schon in dem Programmentwurf der russischen Sozialdemokraten enthalten ist, der von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" verfasst und im Jahre 1885 herausgegeben wurdeA. G. V. Plechanow spricht ebenfalls von der sozialdemokratischen Politik in der Bauernfrage in der Broschüre „Die Aufgaben der Sozialisten im Kampfe gegen die Hungersnot in Russland (1892)".

Es ist darum ganz natürlich, dass auch die „Iskra" in einer ihrer ersten Nummern (April 1901, Nr. 3) mit einem Entwurf zu einem Agrarprogramm aufgetreten ist. In dem Aufsatz „Arbeiterpartei und Bauernschaft" hat sie ihre Stellung zu den Grundlagen der Agrarpolitik der russischen Sozialdemokraten dargelegt. Dieser Aufsatz hat bei sehr vielen russischen Sozialdemokraten Befremden erregt; unsere Redaktion hat aus Anlass dieses Aufsatzes eine Reihe von Briefen und Zuschriften erhalten. Die Haupteinwände hat der Punkt über die Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke hervorgerufen, und wir beabsichtigten schon, in der „Sarja" eine Diskussion über diese Frage zu eröffnen, als Nr. 10 des „Rabotscheje Djelo" mit dem Aufsatz von Martynow erschien, der sich unter anderem auch mit dem Agrarprogramm der „Iskra" befasste.2 Da das „Rabotscheje Djelo" viele der landläufigen Beweisgründe zusammengefasst hat, hoffen wir, dass unsere Briefschreiber uns keinen Vorwurf daraus machen werden, dass wir uns vorläufig auf eine Antwort an Martynow beschränken.

Ich unterstreiche vorläufig – angesichts folgender Umstände. Der Aufsatz der „Iskra" war von einem der Redaktionsmitglieder geschrieben, und die übrigen Mitglieder der Redaktion, die mit dem Verfasser hinsichtlich der allgemeinen Art der Behandlung der Frage einverstanden waren, konnten natürlich über Einzelheiten, über einzelne Punkte verschiedener Ansicht sein. Zu derselben Zeit war unser gesamtes Redaktionskollegium (also auch die Gruppe „Befreiung der Arbeit") mit der Ausarbeitung eines kollektiven redaktionellen Entwurfes für das Programm unserer Partei beschäftigt. Diese Arbeit zog sich in die Länge (zum Teil infolge verschiedener Parteiangelegenheiten und einiger Umstände konspirativen Charakters, zum Teil infolge der Notwendigkeit eines besonderen Parteitages zur gründlichen Erörterung des Programms) und wurde erst in der allerletzten Zeit beendet. Solange der Punkt über die Rückgabe des abgetrennten Landes meine persönliche Meinung war, beeilte ich mich nicht, ihn zu verteidigen, denn für mich war die allgemeine Stellung der Frage unserer Agrarpolitik viel wichtiger als dieser einzelne Punkt, der in unserem Gesamtentwurf noch abgelehnt oder wesentlich abgeändert werden konnte. Nunmehr werde ich bereits diesen Gesamtentwurf verteidigen. Unsere Freunde aber, die Leser, die uns von ihrer kritischen Einstellung zu unserem Agrarprogramm Mitteilung gemacht haben, bitten wir jetzt, sich mit der Kritik unseres Gesamtentwurfes zu befassen.

II

Wir wollen den „Agrar"teil unseres Programms ungekürzt anführen.

Um die Überreste der alten Leibeigenschaftsordnung zu beseitigen3 und die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande zu fördern, kämpft die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands für:

1. Aufhebung der Ablösungs- und Obrokzahlungen wie auch aller übrigen Schuldverpflichtungen, die heute auf die Bauernschaft als steuerpflichtigen Stand fallen.

2. Aufhebung der Solidarhaft und aller Gesetze, die den Bauer in der freien Verfügung über sein Land beschränken.

3. Rückzahlung aller Geldsummen an das Volk, die ihm in Form von Ablösungs- und Obrokzahlungen abgenommen werden. Zu diesem Zweck – Beschlagnahme aller Klostergüter und Apanageländereien, ferner besondere Besteuerung der Ländereien der adligen Großgrundbesitzer, die solche Ablösungskredite ausgenutzt haben; Überweisung der auf diese Weise erhaltenen Summen an einen besonderen Fonds für die kulturellen und sozialen Nöte der Dorfgemeinden.

4. Gründung von Bauernkomitees:

a) Um den Dorfgemeinden die Landstücke wiederzugeben (durch Enteignung oder – wenn die Ländereien von Hand zu Hand gegangen sind – durch Ablösung usw.), die bei der Aufhebung der Leibeigenschaft von den Landstücken der Bauern abgetrennt worden sind und den Gutsbesitzern als Werkzeug zur Knechtung der Bauern dienen.

b) Um die Überreste der Leibeigenschaft zu beseitigen, die auf dem Ural, im Altai-Gebiet, in Westrussland und verschiedenen Teilen des Landes erhalten sind.

5. Das Recht der Gerichte, den übermäßig hohen Pachtzins herabzusetzen und Verträge für ungültig zu erklären, die versklavend wirken."

Der Leser wird vielleicht erstaunt sein, dass in unserem „Agrarprogramm" keine Forderungen für die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter enthalten sind. Wir wollen dazu bemerken, dass solche Forderungen im vorhergehenden Abschnitt des Programms enthalten sind, der die Forderungen enthält, die unsere Partei „zugunsten des Schutzes der Arbeiterklasse gegen die körperliche und sittliche Entartung, wie auch zugunsten der Erhöhung ihrer Fähigkeit zum Kampfe für ihre Befreiung" erhebt. Die von uns unterstrichenen Worte umfassen alle Lohnarbeiter, darunter auch die Landarbeiter, und alle 164 Punkte dieses Abschnittes des Programms gelten auch für die Landarbeiter.

Die Zusammenfassung der Industrie- und der Landarbeiter in einem Abschnitt, während in dem „Agrar"teil des Programms nur die „Bauern"-Forderungen enthalten sind, hat allerdings den Nachteil, dass die Forderungen für die Landarbeiter nicht gleich ins Auge fallen, nicht auf den ersten Blick zu sehen sind. Wenn man das Programm nur oberflächlich liest, kann sogar die vollständig falsche Vorstellung entstehen, dass wir die Forderungen für die Landarbeiter absichtlich in den Hintergrund gestellt haben. Man braucht nicht erst zu sagen, dass diese Vorstellung grundfalsch ist. Der erwähnte Nachteil ist eigentlich rein äußerlicher Art. Er ist leicht zu beseitigen durch das aufmerksame Studium des Programms wie auch des Kommentars zum Programm (unser Parteiprogramm aber wird natürlich in Begleitung nicht nur von schriftlichen, sondern auch – was viel wichtiger ist – von mündlichen Kommentaren „ins Volk gehen"). Wenn irgendeine Gruppe den Wunsch haben wird, sich gerade an die Landarbeiter zu wenden, so wird sie aus den Forderungen für die Arbeiter nur diejenigen herausnehmen müssen, die für die Landarbeiter, die Tagelöhner usw. am wichtigsten sind, um sie in einer besonderen Broschüre, einem besonderen Flugblatt oder in mündlichen Mitteilungen auseinanderzusetzen.

In grundsätzlicher Beziehung ist die einzig richtige Abfassung der in Frage stehenden Programmabschnitte eben eine solche, die alle Forderungen zugunsten der Lohnarbeiter in allen Zweigen der Volkswirtschaft vereinigt und von ihnen die Forderungen für die „Bauern" streng trennt und in einem besonderen Abschnitt zusammenfasst, da das Hauptmerkmal dessen, was wir im ersten und was wir im zweiten Falle fordern können und müssen, ganz verschieden ist. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den beiden in Frage stehenden Programmteilen kommt im Entwurf in den einleitenden Worten zu jedem Abschnitt zum Ausdruck.

Für die Lohnarbeiter fordern wir5 solche Reformen, die sie „gegen die körperliche und sittliche Entartung schützen und ihre Kampffähigkeit erhöhen"; für die Bauern aber streben wir nur6 solche Reformen7 an, die „die Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft und die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande" fördern. Daraus geht hervor, dass unsere Forderungen für die Bauern viel beschränkter sind, dass ihnen viel bescheidenere Bedingungen zugrunde liegen, dass ihr Rahmen enger ist8. Was die Lohnarbeiter anbelangt, so übernehmen wir die Verteidigung ihrer Interessen als die einer Klasse in der modernen Gesellschaft. Wir tun das, denn wir betrachten ihre Klassenbewegung als die einzige wirkliche revolutionäre Bewegung (vergleiche im grundsätzlichen Teil des Programms die Worte über das Verhältnis der Arbeiterklasse zu den übrigen Klassen)9, und streben danach, eben diese Bewegung zu organisieren, ihr die Richtung zu geben und sie mit dem Licht des sozialistischen Bewusstseins zu erleuchten. Was aber die Bauernschaft betrifft, so übernehmen wir keineswegs die Verteidigung ihrer Interessen als einer Klasse der kleinen Grundbesitzer in der modernen Gesellschaft. Durchaus nicht. „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein", und darum vertritt die Sozialdemokratie – unmittelbar und unbedingt – nur die Interessen des Proletariats, nur mit seiner Klassenbewegung will sie sich zu einem untrennbaren Ganzen verschmelzen. Alle übrigen Klassen der modernen Gesellschaft dagegen sind für die Aufrechterhaltung der Grundlagen der bestehenden Wirtschaftsweise, und darum kann die Sozialdemokratie die Verteidigung der Interessen dieser Klassen nur unter bestimmten Umständen und unter bestimmten, genau festgelegten Bedingungen übernehmen. Die Klasse der Kleinproduzenten, darunter der kleinen Landwirte, z. B. ist in ihrem Kampf gegen die Bourgeoisie eine reaktionäre Klasse. Der Versuch, „die Bauernschaft durch den Schutz der Kleinwirtschaft und des Kleinbesitzes vor dem Ansturm des Kapitalismus zu retten, würde heißen, die gesellschaftliche Entwicklung nutzlos aufhalten, den Bauer durch die Illusion eines auch unter der Herrschaft des Kapitalismus möglichen Wohlstandes betrügen, die werktätigen Klassen voneinander trennen und der Minderheit eine privilegierte Lage auf Kosten der Mehrheit einräumen" („Iskra" Nr. 3).

Aus diesem Grunde wird die Aufstellung von „Bauernforderungen" in unserem Programmentwurf von zwei sehr engen10 Bedingungen abhängig gemacht. Die Berechtigung der „Bauernforderungen" in einem sozialdemokratischen Programm ordnen wir erstens der Bedingung unter, dass sie zur Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft führen, und zweitens, dass sie die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem flachen Lande fördern.

Wir wollen auf jede von diesen Bedingungen, die schon in Nr. 3 der „Iskra" kurz umrissen wurden, ausführlich eingehen.

Die Überreste der alten Leibeigenschaftsordnung" sind bei uns auf dem flachen Lande noch ungeheuer groß. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache. Abarbeit und Knechtschaft, ständische und bürgerliche Rechtseinschränkung des Bauern, seine Abhängigkeit von dem mit der Rute bewaffneten privilegierten Großgrundbesitzer, die erniedrigende Lebensweise, die aus dem Bauern einen richtigen Barbaren macht, all das ist auf dem russischen Dorfe keine Ausnahme, sondern die Regel, und all das ist letzten Endes ein unmittelbares Überbleibsel der Leibeigenschaftsordnung. In den Fällen und Verhältnissen, in denen diese Ordnung noch herrscht und soweit sie noch herrscht, ist die gesamte Bauernschaft, die Bauernschaft als Ganzes ihr Feind. Der Leibeigenschaft, den Fron-Gutsherren und dem ihnen dienenden Staate gegenüber bleibt die Bauernschaft nach wie vor eine Klasse, und zwar eine Klasse nicht der kapitalistischen, sondern der auf Leibeigenschaft beruhenden Gesellschaft, d. h. eine ständische KlasseB. Und soweit dieser, der auf der Leibeigenschaft aufgebauten Gesellschaft eigene Klassengegensatz zwischen der „Bauernschaft" und dem privilegierten Grundbesitzer bei uns auf dem Lande erhalten ist, muss die Arbeiterpartei zweifellos auf der Seite der „Bauernschaft" sein, deren Kampf unterstützen und sie zum Kampfe gegen alle Überreste der Leibeigenschaft antreiben.

Wir stellen das Wort Bauernschaft in Anführungszeichen, um den in diesem Falle zweifellos vorhandenen Widerspruch festzustellen: in der modernen Gesellschaft ist die Bauernschaft natürlich keine einheitliche Klasse mehr. Wem aber dieser Widerspruch nicht behagt, der vergisst, dass das kein Widerspruch in der Darstellung, in der Lehre, sondern ein Widerspruch im11 Leben selber ist. Es ist kein ausgeklügelter, sondern ein lebendiger, dialektischer Widerspruch. Soweit bei uns auf dem Lande die „moderne" (bürgerliche) Gesellschaft die Gesellschaft der Leibeigenschaft verdrängt, hört die Bauernschaft auf, eine Klasse zu sein; sie zerfällt in das Landproletariat und die Dorfbourgeoisie (Großbauern, Mittelbauern, Kleinbauern und Zwergbauern). Soweit die Hörigkeitsverhältnisse noch vorhanden sind, – bleibt die Bauernschaft noch eine Klasse, d. h. wir wiederholen, eine Klasse nicht der kapitalistischen, sondern der auf der Leibeigenschaft aufgebauten Gesellschaft. Dieses „soweit" besteht in der Wirklichkeit als eine äußerst verwickelte Verflechtung der Hörigkeitsverhältnisse und der bürgerlichen Verhältnisse im russischen Dorfe der Gegenwart. Ausdrücke von Marx gebrauchend, müssen wir sagen, dass sich bei uns Arbeitsrente, Naturalrente, Geldrente und kapitalistische Rente auf die merkwürdigste Weise miteinander verflechten. Wir unterstreichen diese, durch alle ökonomischen Untersuchungen Russlands festgestellte Tatsache insbesondere darum, weil sie notgedrungen und unvermeidlich die Quelle jener Verzwicktheit, Verworrenheit, ja, wenn man will, Gezwungenheit verschiedener unserer „Agrar"-Forderungen ist, die viele auf den ersten Blick stutzig machen. Wer sich in seinen Einwänden auf die allgemeine Unzufriedenheit mit dieser „Verzwicktheit" der vorgeschlagenen Entschließungen beschränkt, der vergisst, dass es eine einfache Lösung so verwickelter Fragen gar nicht geben kann. Wir sind verpflichtet, gegen alle Reste der Hörigkeitsverhältnisse zu kämpfen, – darüber kann bei einem Sozialdemokraten kein Zweifel bestehen. Da aber diese Verhältnisse sich auf eine höchst verwickelte Art mit den bürgerlichen verflechten, so sind wir gezwungen, uns in das, mit Verlaub zu sagen, Innerste dieses Wirrwarrs zu begeben, ohne vor der Schwierigkeit der Aufgabe zurückzuschrecken. Eine „einfache" Lösung der Aufgabe könnte nur die eine sein: abseits stehn, vorbei gehn, den „Naturelementen" überlassen, dieses ganze Durcheinander zu meistern. Eine solche „einfache" Lösung, die alle bürgerlichen und „ökonomistischen" Anbeter der Spontaneität so sehr lieben, ist aber eines Sozialdemokraten unwürdig. Die Partei des Proletariats muss die Bauernschaft in ihrem Kampfe gegen alle Überreste der Leibeigenschaft nicht nur unterstützen, sondern auch vorwärtstreiben, um aber vorwärtszutreiben, darf man sich nicht auf allgemeine Wünsche beschränken, – man muss ihr eine bestimmte revolutionäre Richtlinie geben, man muss ihr helfen, sich in dem Wirrwarr der Agrarverhältnisse zurechtzufinden.

III

Damit der Leser sich die Unvermeidlichkeit einer verwickelten Lösung der Agrarfrage anschaulicher vergegenwärtige, bitten wir ihn, in dieser Hinsicht den von den Arbeitern handelnden Teil und den die Bauern betreffenden Teil des Programms miteinander zu vergleichen. In dem Abschnitt über die Arbeiter sind alle Beschlüsse außerordentlich einfach, sogar für einen mit dem Stoff wenig vertrauten und ans Denken wenig gewohnten Menschen verständlich, „natürlich", naheliegend, leicht zu verwirklichen. In dem Teil dagegen, der die Bauernschaft betrifft, sind die meisten Beschlüsse außerordentlich verwickelt, auf den ersten Blick „unverständlich", gekünstelt, wenig wahrscheinlich, schwer zu verwirklichen. Wie erklärt sich dieser Unterschied? Haben die Verfasser des Programms im ersten Falle nüchtern und sachlich überlegt, im zweiten aber sich auf Abwege begeben, sich, in Romantik und Wortmacher ei verfallend, verirrt? Eine solche Erklärung wäre, das muss man sagen, außerordentlich „einfach", kindlich-einfach, und es wundert uns nicht, dass Martynow sich an sie klammert. Er hat nicht überlegt, dass die wirtschaftliche Entwicklung selber die praktische Lösung der kleinen Arbeiterfragen erleichtert und im höchsten Maße vereinfacht hat12. Die sozial-ökonomischen Verhältnisse auf dem Gebiete der kapitalistischen Großproduktion sind bis zu einem solchen Grade durchsichtig, klar und einfach geworden (und werden es immer mehr), dass die nächsten Schritte vorwärts von selbst gegeben sind, sich sofort und auf den ersten Blick aufdrängen. Dagegen hat die Verdrängung der Leibeigenschaft durch den Kapitalismus auf dem Lande die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in so hohem Maße verwirrt und verwickelt, dass man sich die Lösung der nächsten praktischen Fragen (im Geiste der revolutionären Sozialdemokratie) sehr lange überlegen muss, und eine „einfache" Lösung – das kann man im Voraus mit voller Sicherheit sagen – wird nicht zu finden sein.

Übrigens, da wir schon begonnen haben, den die Arbeiter und den die Bauern betreffenden Teil des Programms miteinander zu vergleichen, so wollen wir noch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen ihnen feststellen. Diesen Unterschied könnte man mit wenigen Worten folgendermaßen ausdrücken: im Abschnitt über die Arbeiter haben wir nicht das Recht, über die Forderungen sozialer Reformen hinauszugehen; im Abschnitt über die Bauern dürfen wir auch vor Sozialrevolutionären Forderungen nicht haltmachen. Mit anderen Worten, in jenem müssen wir uns unbedingt auf den Rahmen eines Mindestprogramms beschränken, in diesem können und müssen wir ein Maximalprogramm aufstellen.C Erklären wir das.

In beiden Teilen legen wir nicht unser Endziel, sondern unsere nächsten Forderungen dar. In beiden Teilen müssen wir darum auf dem Boden der gegenwärtigen (= bürgerlichen) Gesellschaft bleiben. Darin besteht die Ähnlichkeit beider Teile. Ihr wesentlicher Unterschied aber ist der: der den Arbeitern gewidmete Teil enthält Forderungen, die gegen die Bourgeoisie, der den Bauern gewidmete Forderungen, die gegen die Fron-Gutsherren gerichtet sind (gegen die Feudalen würde ich sagen, wäre nicht die Anwendbarkeit dieses Ausdrucks auf unseren adligen Grundbesitzer so umstrittenD). Im Abschnitt über die Arbeiter müssen wir uns auf teilweise Verbesserungen der bestehenden bürgerlichen Ordnung beschränken. Im Abschnitt über die Bauern müssen wir die vollständige Säuberung dieser bestehenden Ordnung von allen Resten der Leibeigenschaft anstreben. Im Abschnitt über die Arbeiter können wir keine Forderungen aufstellen, deren Erfüllung den endgültigen Sturz der Herrschaft der Bourgeoisie voraussetzt: wenn wir dieses unser Endziel erreicht haben werden, das wir an einer andern Stelle des Programms genügend betont haben und im Kampfe um die nächsten Forderungen „keinen Augenblick" außer acht lassen, dann werden wir, die Partei des Proletariats, uns schon nicht mehr auf die Fragen irgendeiner Haftpflicht der Unternehmer oder irgendwelcher Fabrikwohnungen beschränken, sondern wir werden die gesamte Leitung und die Verfügung über die ganze gesellschaftliche Produktion, folglich auch über die Verteilung, in unsere Hände nehmen. Im Abschnitt über die Bauern dagegen können und müssen wir Forderungen aufstellen, deren Erfüllung den endgültigen Sturz der Fron-Gutsherren, die vollständige Säuberung des flachen Landes von allen Spuren der Leibeigenschaft voraussetzt. In dem Teil, der die nächsten Forderungen der Arbeiter betrifft, können wir keine sozialrevolutionären Forderungen aufstellen, denn die soziale Revolution, die die Herrschaft der Bourgeoisie niederwirft, ist schon die Revolution des Proletariats, die unser Endziel verwirklicht. In dem Teil, der von den Bauern handelt, stellen wir auch sozialrevolutionäre Forderungen auf, denn die soziale Revolution, die die Herrschaft der Fron-Gutsherren niederwirft (d. h. eine ebensolche soziale Revolution der Bourgeoisie, wie die Große Französische Revolution gewesen ist), ist auch auf dem Boden der bestehenden bürgerlichen Ordnung möglich. Im Abschnitt über die Arbeiter bleiben wir (vorläufig und bedingt, mit unseren selbständigen Zielen und Absichten, aber wir bleiben trotzdem) auf dem Boden der sozialen Reform, denn wir fordern hier nur das, was die Bourgeoisie uns (grundsätzlich) geben kann, ohne noch ihre Macht zu verlieren (und was die Herren Sombart, Bulgakow, Struve, Prokopowitsch und Konsorten ihr darum vernünftigerweise und in allen Ehren zu tun raten). Im Abschnitt über die Bauern aber müssen wir im Gegensatz zu den Sozialreformern auch das fordern, was die Fron-Gutsherren uns (oder den Bauern) nie geben werden und nie geben können, – müssen wir auch das fordern, was die revolutionäre Bewegung der Bauernschaft sich nur mit Gewalt nehmen kann.

IV

Aus diesem Grunde ist jener „einfache" Maßstab der „Durchführbarkeit", mit dessen Hilfe Martynow unser Agrarprogramm so „leicht" „zerschlägt", ungenügend und untauglich. Dieser Maßstab der unmittelbaren „Durchführbarkeit", der „Durchführbarkeit" in der nächsten Zeit ist überhaupt nur auf ausgesprochen reformerische Teile und Punkte unseres Programms anwendbar, keineswegs aber auf das Programm einer revolutionären Partei im Allgemeinen. Mit anderen Worten, dieser Maßstab ist auf unser Programm nur ausnahmsweise und nicht als allgemeine Regel anwendbar. Unser Programm muss nur in jenem weiten, philosophischen Sinne des Wortes durchführbar sein, dass kein einziger Buchstabe des Programms der Richtung der gesamten sozialökonomischen Entwicklung widerspricht. Haben wir aber diese Richtung (im Allgemeinen und in den Einzelheiten) einmal richtig festgestellt, so müssen wir – im Namen unserer revolutionären Grundsätze und unserer revolutionären Pflicht – mit allen Kräften stets und unbedingt für das Höchstmaß unserer Forderungen kämpfen. Will man aber im Voraus, vor dem endgültigen Ausgang des Kampfes, während seines Verlaufes, den Versuch machen, festzustellen13, dass wir das ganze Höchstmaß wohl gar nicht erreichen werden, so heißt das, in reinstes Philistertum verfallen. Erwägungen solcher Art führen stets zum Opportunismus, auch wenn die Urheber solcher Erwägungen es nicht wünschen mögen.

In der Tat, sind nicht ein solches Philistertum auch die Ausführungen Martynows, dem das Agrarprogramm der „Iskra" „romantisch" erscheint, „weil die Teilnahme der Bauernmassen an unserer Bewegung unter den gegenwärtigen Bedingungen sehr fragwürdig ist" („Rabotscheje Djelo", Nr. 10, S. 58, gesperrt von mir)? Das ist ein gutes Beispiel jener scheinbar guten und sehr wohlfeilen Beweisführung, mit deren Hilfe der russische Sozialdemokratismus zum Ökonomismus verflacht wurde. Betrachtet man sich diese scheinbar gute Beweisführung näher, so stellt sie sich als eine Seifenblase heraus. „Unsere Bewegung" ist die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Die Bauernmassen können an dieser Bewegung gar nicht „teilnehmen", ihre Teilnahme ist nicht fragwürdig, sondern unmöglich, und davon ist auch nie die Rede gewesen. Die Bauernmasse kann aber nicht umhin, an der „Bewegung" gegen alle Überreste der Leibeigenschaft (darunter auch gegen den Absolutismus) teilzunehmen. Martynow hat, ohne sich den – dem Wesen nach – verschiedenen Charakter der Bewegung gegen die Bourgeoisie und der gegen das Leibeigenschaftssystem richtig überlegt zu haben, durch den Ausdruck „unsere Bewegung" eine große Verwirrung in die Sache hineingebracht.E

Fragwürdig kann keineswegs die Teilnahme der Bauernmassen an der Bewegung gegen die Überreste der Leibeigenschaft genannt werden, sondern nur vielleicht der Grad dieser Teilnahme: die Hörigkeitsverhältnisse auf dem flachen Lande sind mit den bürgerlichen Verhältnissen sehr stark verflochten, als Klasse der bürgerlichen Gesellschaft aber sind die Bauern (die kleinen Landwirte) in viel höherem Maße konservativ als revolutionär (besonders da die bürgerliche Entwicklung der landwirtschaftlichen Verhältnisse sich bei uns erst in den Anfängen befindet). Darum wird es für die Regierung in der Zeit der politischen Umgestaltung viel leichter sein, die Bauern zu spalten (als z. B. die Arbeiter), es wird für sie viel leichter sein, deren revolutionäre Gesinnung mit kleinen und belanglosen Zugeständnissen an eine verhältnismäßig geringe Zahl von kleinen Eigentümern zu schwächen (oder sogar, schlimmstenfalls,zu ersticken).

Das alles ist richtig. Aber was folgt daraus? Je leichter es für die Regierung ist, sich mit dem konservativen Teil der Bauernschaft zu verständigen, um so größere Anstrengungen müssen wir auf eine möglichst rasche Verständigung mit den revolutionären Schichten der Bauernschaft richten. Es ist unsere Pflicht, mit möglichst weitgehender wissenschaftlicher Genauigkeit zu bestimmen, in welcher Richtung wir diese Schichten unterstützen müssen, und sie dann zum entschlossenen und bedingungslosen Kampf gegen alle Überreste der Leibeigenschaft vorwärts zu treiben, sie immer und unter allen Bedingungen, mit Hilfe aller gegebenen Mittel vorwärtszutreiben. Und ist es nicht philisterhaft, im Voraus den Grad des Erfolges „vorschreiben" zu wollen, den unser Vorwärtstreiben haben wird? Wird doch schon das Leben nachher darüber entscheiden und die Geschichte es vermerken, unsere Aufgabe aber ist es jetzt, in jedem Falle zu kämpfen und bis zu Ende zu kämpfen. Darf denn ein Soldat, der schon zum Angriff übergeht, Erwägungen darüber anstellen, dass wir vielleicht nicht das ganze feindliche Korps, sondern nur14 drei Fünftel von ihm vernichten werden? Ist denn nicht auch im Sinne Martynows z. B. eine solche Forderung, wie die Forderung der Republik „fragwürdig"? Ja, der Regierung wird es noch leichter fallen, sich mit einer kleinen Teilzahlung von diesem Wechsel loszukaufen, als den Wechsel der Bauernforderungen einzulösen und alle Spuren der Leibeigenschaft zu vernichten. Was aber geht das uns an? Diesen Teil der Summe werden wir uns selbstverständlich in die Tasche stecken, ohne jedoch darum unsern zähen Kampf für die ganze Summe einzustellen. Wir müssen den Gedanken möglichst weit zu verbreiten suchen, dass die entscheidende Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie nur in der Republik ausgefochten werden kann, wir müssen in allen Kreisen der russischen Revolutionäre und in möglichst breiten Massen der russischen15 Arbeiterschaft eine republikanische Überlieferung schaffenF und festigen, wir müssen durch diese Losung der „Republik" zum Ausdruck bringen, dass wir im Kampfe für die Demokratisierung der Staatsordnung bis zu Ende gehen werden, ohne zurückzuschauen. Der Kampf selber wird dann schon entscheiden, welchen Teil dieser Summe, wann und wie, uns zu erobern gelingen wird. Es wäre dumm, versuchen zu wollen, diesen Teil zu berechnen, bevor wir dem Feind die ganze Kraft unserer Schläge zu spüren gegeben und bevor wir die ganze Kraft seiner Schläge an uns verspürt haben. So ist es auch in den Bauernforderungen unsere Sache, – auf Grund wissenschaftlicher Unterlagen – das Höchstmaß dieser Forderungen festzustellen und den Genossen zu helfen, für dieses Höchstmaß zu kämpfen. Mögen dann die nüchternen legalen Kritiker und die in die Greifbarkeit der Ergebnisse verliebten illegalen „Chwostisten" über die „Fragwürdigkeit" dieses Höchstmaßes lachen.G

V

Gehen wir jetzt zu der zweiten allgemeinen These über, die den Charakter aller unserer Bauernforderungen bestimmt und in den Worten zum Ausdruck kommt: „um die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande zu fördern…"

Diese Worte sind außerordentlich wichtig sowohl für die grundsätzliche Einstellung zu der Agrarfrage im Narodnaja Wolja Aallgemeinen als auch insbesondere für die Beurteilung der einzelnen Agrarforderungen. Die Forderung der Aufhebung der Überreste der Leibeigenschaft teilen wir mit allen entschiedenen Liberalen, Volkstümlern, Sozialreformern, Kritikern des Marxismus in der Agrarfrage usw. usw. Von allen diesen Herrschaften unterscheiden wir uns, wenn wir eine solche Forderung aufstellen, nicht grundsätzlich, sondern nur dem Grade nach: sie werden auch in diesem Punkte stets unvermeidlich in den Grenzen der Reform bleiben, während wir auch vor sozialrevolutionären Forderungen (im obenerwähnten Sinne) nicht haltmachen werden. Indem wir jedoch Bürgschaften für die „freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande" fordern, stellen wir uns in einen prinzipiellen Gegensatz zu allen diesen Herrschaften und sogar zu allen nicht sozialdemokratischen Revolutionären und Sozialisten. Diese Letztgenannten werden ebenfalls vor sozialrevolutionären Forderungen in der Agrarfrage nicht haltmachen, sie werden diese Forderungen aber nicht gerade16 einer solchen Bedingung, wie der freien Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande, unterordnen wollen. Diese Bedingung ist der Kernpunkt der Theorie des revolutionären Marxismus auf dem Gebiete der Agrarfrage.H Diese Bedingung anerkennen, heißt zugeben, dass auch die Entwicklung der Landwirtschaft – trotz aller Verzwicktheit und Verworrenheit, trotz aller Mannigfaltigkeit ihrer Arten – eine kapitalistische Entwicklung ist, dass auch sie (wie die Entwicklung der Industrie) den Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie erzeugt, dass eben dieser Klassenkampf unsere erste und wichtigste Sorge, dass er der Prüfstein sein muss, an dem wir die grundsätzlichen Fragen, die politischen Aufgaben und die Methoden der Propaganda, der Agitation und der Organisation erproben werden. Diese Bedingung anerkennen heißt, sich verpflichten, auch in der besonders brennenden Frage der Teilnahme der Kleinbauern an der sozialdemokratischen Bewegung unbeirrt auf dem Klassenstandpunkt zu stehen, in keiner Frage den Standpunkt des Proletariats zugunsten des Kleinbürgertums preiszugeben, sondern, im Gegenteil, zu verlangen17, dass der kleine Bauer, der von dem gesamten modernen Kapitalismus zugrunde gerichtet und unterdrückt wird, seinen Klassenstandpunkt verlasse und sich auf den Standpunkt des Proletariats stelle.

Durch die Aufstellung dieser Bedingung grenzen wir uns entschieden und unwiderruflich nicht nur von unseren Feinden ab (d. h. von den unmittelbaren oder mittelbaren, bewussten und unbewussten Anhängern der Bourgeoisie, die gelegentlich unsere Verbündeten im Kampfe gegen die Reste der Leibeigenschaft sind), sondern auch von jenen unzuverlässigen Freunden, die durch ihre unentschiedene Einstellung zur Agrarfrage der revolutionären Bewegung des Proletariats großen Schaden zufügen können (und tatsächlich auch zufügen).

Durch die Aufstellung dieser Bedingung schaffen wir einen Leitfaden, mit dessen Hilfe jeder Sozialdemokrat – selbst wenn das Schicksal ihn in irgendein entlegenes Dorf geworfen hat, selbst wenn er noch so verwickelten Agrarverhältnissen, die allgemein- demokratische Aufgaben in den Vordergrund stellen, gegenübersteht – bei der Lösung dieser Aufgaben seinen proletarischen Standpunkt festhalten und betonen kann, ebenso wie wir, auch wenn wir allgemein-demokratische politische Aufgaben lösen, doch immer Sozialdemokraten bleiben.

Durch die Aufstellung dieser Bedingung antworten wir auf den Einwand, den viele nach oberflächlicher Kenntnis der konkreten Forderungen unseres Agrarprogramms sich zu eigen machen… „Die Rückgabe der Ablösungsgelder und der abgetrennten Bodenstücke an die Dorfgemeinden!?" – ja, wo ist denn da unsere proletarische Besonderheit und unsere proletarische Selbständigkeit? Ja, wird denn das nicht, im Grunde genommen, ein Geschenk an die Dorfbourgeoisie sein??

Gewiss, – aber nur in dem Sinne, in dem auch die Aufhebung der Leibeigenschaft „ein Geschenk an die Bourgeoisie" war, d. h. eine Befreiung eben der bürgerlichen und keiner anderen Entwicklung von den Fesseln und Hemmnissen der Leibeigenschaft. Das Proletariat unterscheidet sich von allen anderen, von der Bourgeoisie unterdrückten und ihr entgegenstehenden Klassen gerade dadurch, dass es seine Hoffnungen nicht auf das Aufhalten der bürgerlichen Entwicklung, nicht auf das Abstumpfen oder die Abschwächung des Klassenkampfes setzt, sondern, im Gegenteil, auf die vollständigste und freieste Entwicklung des Klassenkampfes, auf die Beschleunigung des bürgerlichen Fortschritts.I In der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft kann man die Reste der ihre Entwicklung hemmenden Leibeigenschaft nicht beseitigen, ohne dadurch die Bourgeoisie zu stärken und zu festigen. Daran Anstoß nehmen, heißt den Fehler jener Sozialisten wiederholen, die sagten18, dass wir die politische Freiheit nicht brauchen, denn sie werde die Herrschaft der Bourgeoisie nur stärken und festigen.

VI

Nachdem wir den „allgemeinen Teil" unseres Agrarprogramms untersucht haben, wollen wir zur Analyse seiner einzelnen Forderungen übergehen. Wir werden uns dabei erlauben, nicht mit dem ersten, sondern mit dem vierten Punkt (über die abgetrennten Bodenstücke) zu beginnen, denn er ist der wichtigste, der Mittelpunkt, der unserm Agrarprogramm einen besonderen Charakter verleiht und gleichzeitig der angreifbarste (wenigstens nach Meinung der meisten, die zu dem Aufsatz in Nr. 3 der „Iskra" Stellung genommen haben). Wir erinnern daran, dass der Inhalt dieses Punktes aus folgenden Teilen besteht: 1. Er fordert die Gründung von Bauernkomitees mit der Vollmacht, die Agrarverhältnisse, die unmittelbare Überbleibsel der Leibeigenschaft sind, neu zu regeln. Der Ausdruck „Bauernkomitees" ist gewählt, um deutlich darauf hinzuweisen, dass – im Gegensatz zu der „Reform" vom Jahre 1861 mit ihren Adels-Komitees – die Bauern und nicht die Gutsbesitzer die neue Regelung in die Hand nehmen sollen. Mit anderen Worten: die endgültige Aufhebung der Hörigkeitsverhältnisse wird nicht den Unterdrückern überlassen, sondern dem durch diese Verhältnisse unterdrückten Teil der Bevölkerung, nicht der Minderheit, sondern der Mehrheit der daran Interessierten. Im Grunde genommen ist das nichts anderes als eine demokratische Revision der Bauernreform (d. h. gerade das, was der erste Punkt des von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" verfassten Programmentwurfs verlangte). Und wenn wir diesen Ausdruck nicht gewählt haben, so nur, weil er weniger klar ist, weil er weniger ausdrucksvoll den wahren Charakter und den konkreten Inhalt dieser Revision aufzeigt.J Darum müsste z. B. Martynow, wenn er zur Agrarfrage wirklich etwas eigenes zu sagen hätte, sich klar äußern, ob er den Gedanken der demokratischen Revision der Bauernreform an und für sich ablehnt, und, wenn nicht, wie er sie sich vorstellt19.

Weiter sollen 2. die Bauernkomitees das Recht haben, die Gutsbesitzerländereien zu enteignen und abzulösen, einen Austausch von Grundstücken vorzunehmen usw. (Punkt 4b), wobei dieses Recht sich nur auf Fälle der einfachen Überwindung der Hörigkeitsverhältnisse beschränkt. Und zwar erstreckt sich dieses Recht (3) der Enteignung und der Ablösung auf den Boden, der erstens20 „bei der Aufhebung der Leibeigenschaft von den Landstücken der Bauern abgetrennt worden ist" (dieses Land war also seit jeher ein notwendiger Bestandteil der Bauernwirtschaft, war ein Teil von dieser Wirtschaft und wurde künstlich durch jenen vom Gesetz geheiligten Raub von ihr genommen, der die große Bauernreform gewesen ist) und der zweitens „den Gutsbesitzern als Werkzeug zur Knechtung der Bauern dient".

Die zweite Bedingung schränkt das Recht der Ablösung und der Enteignung noch mehr ein, sie dehnt es nicht auf alle „abgetrennten Bodenstücke" aus, sondern nur auf jene, die auch heute noch als Werkzeug der Knechtung dienen, „mit deren Hilfe – wie es die „Iskra" ausdrückte – sich die unfreie, versklavende Fronarbeit, d. h. in Wirklichkeit dieselbe Leibeigenschaft aufrechterhält". Mit anderen Worten: dort, wo dank unserer nur halben Bauernreform mit Hilfe der von den Bauern abgetrennten Bodenstücke bis heute noch die Frondienstformen der Wirtschaft aufrechterhalten werden, wird den Bauern das Recht gegeben, mit diesen Überresten der Leibeigenschaft – sogar auf dem Wege der Enteignung – sofort und endgültig aufzuräumen, dort wird ihnen das Recht eingeräumt, „die abgetrennten Bodenstücke zurückzugeben"21.

Wir können darum unsern guten Martynow beruhigen, der mit solcher Besorgnis fragte: „Was soll mit den abgetrennten Bodenstücken geschehen, die sich in Händen von adligen Gutsbesitzern oder von Angehörigen anderer Stände, die das Land gekauft haben, befinden und jetzt in musterhafter kapitalistischer Weise ausgebeutet werden?" Nicht um diese vereinzelten Bodenstücke handelt es sich, Verehrtester, sondern um die typischen (sehr zahlreichen) abgetrennten Bodenstücke, die auch heute noch als Grundlage der weiterbestehenden Überreste der auf Leibeigenschaft aufgebauten Wirtschaft dienen22.

Schließlich gewährt Punkt 4b den Bauernkomitees das Recht, die Überreste der Leibeigenschaftsordnung zu beseitigen, die in einzelnen Gegenden des Reiches noch vorhanden sind (Servituten, nicht zu Ende geführte Bodenzuteilung und Feldvermessung usw.).

Den ganzen Inhalt des Punktes 4 kann man also der Einfachheit halber in wenigen Worten zum Ausdruck bringen: Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke. Es fragt sich: wie ist der Gedanke einer solchen Forderung entstanden? Als unmittelbarer Schluss aus dem allgemeinen Leitsatz, dass wir den Bauern helfen und sie zur möglichst vollständigen Vernichtung aller Überreste der Leibeigenschaft antreiben müssen. Damit sind wohl „alle einverstanden", nicht wahr? Nun, wenn ihr aber einverstanden seid, diesen Weg zu gehen, so bemüht euch schon, selbständig auf ihm vorwärts zu schreiten, müsst euch nicht schleppen, müsst euch nicht einschüchtern durch das „ungewöhnliche" Aussehen dieses Weges, durch den Umstand, dass ihr an vielen Stellen überhaupt noch keinen ausgetretenen Weg finden, sondern gezwungen sein werdet, am Rande von Abgründen durch zu kriechen, euch durch dichte Wälder durchzuarbeiten und über Gräben hinüber zu springen. Beschwert euch nicht über die Unfahrbarkeit der Wege: diese Beschwerden werden nutzlose Flennerei sein, denn ihr musstet im Voraus wissen, dass ihr nicht eine Landstraße beschreitet, an der alle Kräfte des sozialen Fortschritts gearbeitet haben, um sie eben und gerade zu machen, sondern dass ihr krumme und entlegene Pfade werdet gehen müssen, aus denen es einen Ausweg gibt; doch einen unmittelbaren, einfachen und leichten Ausweg wird nie jemand, weder ihr noch wir, finden, – „nie", d. h. solange diese verschwindenden und qualvoll langsam verschwindenden krummen und entlegenen Pfade noch vorhanden sind.

Wollt ihr euch aber auf diese krummen Pfade nicht begeben, so sagt offen, dass ihr nicht wollt, und macht keine Redensarten.K

Ihr seid bereit, für die Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft zu kämpfen? – Gut. So denkt daran, dass es eine einheitliche Rechtseinrichtung nicht gibt, die alle diese Überreste zum Ausdruck bringt oder voraussetzt. Ich spreche natürlich von den Überresten der Leibeigenschaft ausschließlich auf dem Gebiete der uns jetzt beschäftigenden Agrarverhältnisse, und nicht auf dem Gebiete der Stände-, der Finanz- usw. Gesetzgebung. Die unmittelbaren Überreste der Fronwirtschaft, die von allen ökonomischen Forschungen in Russland unzählige Male festgestellt worden sind, behaupten sich nicht kraft irgendeines besonderen, sie schützenden Gesetzes, sondern kraft der tatsächlich bestehenden Grundbesitzverhältnisse. Das gilt in einem so hohen Grade, dass die von der berühmten Walujew-Kommission23 vernommenen Zeugen24 geradezu sagten: die Leibeigenschaft würde zweifellos wieder auferstehen, wäre sie nicht durch das Gesetz einfach verboten. Eins von beiden also: entweder man kümmert sich gar nicht um die Grundbesitzverhältnisse zwischen Bauern und Gutsbesitzern, – dann lassen sich alle übrigen Fragen sehr „einfach" lösen. Dann aber werdet ihr auch die Hauptquelle aller Überbleibsel der Leibeigenschaft auf dem flachen Lande nicht berühren, dann werdet ihr an einer sehr brennenden Frage „einfach" vorbeigehen, die die wichtigsten Interessen der Fronherren und der geknechteten Bauernschaft betrifft, an einer Frage, die morgen oder übermorgen leicht25 zu einer der dringendsten sozialpolitischen Tagesfragen Russlands werden kann. Oder ihr wollt auch die Quelle „der rückständigen Formen der wirtschaftlichen Knechtung", die Grundbesitzverhältnisse, ändern, – dann müsst ihr mit einer solchen Verzwicktheit und Verworrenheit dieser Verhältnisse rechnen, dass eine leichte und einfache26 Lösung überhaupt unmöglich wird. Dann habt ihr, die ihr mit der von uns vorgeschlagenen konkreten Lösung der verwickelten Frage nicht einverstanden seid, kein Recht mehr, euch auf eine allgemeine „Beschwerde" über die Verzwicktheit zu beschränken, sondern ihr müsst versuchen, euch selbständig in ihr zurechtzufinden und eine konkrete Lösung vorzuschlagen.

Dass die abgetrennten Bodenstücke in der heutigen Bauernwirtschaft von großer Bedeutung sind, – das ist Tatsache. Es ist kennzeichnend, dass, wie tief der Abgrund zwischen den Volkstümlern (im weiten Sinne des Wortes) und dem Marxismus in der Beurteilung der Wirtschaftsordnung und der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands auch sein mag, in dieser Frage keine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Lehren besteht. Die Vertreter beider Richtungen stimmen darin überein, dass auf dem flachen Lande in Russland eine Unmenge von Überresten der Leibeigenschaft sind, und (nota bene) dass die in den zentralen Gouvernements Russlands herrschende Form der Privatwirtschaft (das Wirtschaftssystem der Abarbeit) ein unmittelbares Überbleibsel der Leibeigenschaft ist. Ferner stimmen sie darin überein, dass die Abtrennung des Bauernlandes zugunsten der Gutsbesitzer, – d. h. die Abtrennung der Bodenstücke im direkten unmittelbaren Sinne und der Verlust des Rechtes, die Weide, den Wald, die Tränke usw. usw. zu benutzen, – eine der Hauptgrundlagen (wenn nicht die Hauptgrundlage) der Abarbeit ist. Es genügt, daran zu erinnern, dass nach den neuesten Angaben die auf der Abarbeit beruhende Gutsbesitzerwirtschaft in nicht weniger als 17 Gouvernements des Europäischen Russland als überwiegend gilt. Mögen diejenigen, die in dem Punkt über die abgetrennten Bodenstücke eine rein-künstliche, mit Gewalt heraus gepresste, schlaue Erfindung sehen, versuchen, diese Tatsache zu bestreiten!

Die auf der Abarbeit beruhende Wirtschaft bedeutet folgendes: Ländereien und Zugehörigkeiten der Gutsbesitzer und der Bauern sind tatsächlich, d. h. nicht auf Grund des Besitzrechtes, sondern hinsichtlich der wirtschaftlichen Nutzung, nicht endgültig voneinander getrennt, sondern bleiben nach wie vor vereint: ein Teil des Bauernlandes dient z. B. zur Erhaltung des Viehs, das man zur Bestellung nicht des Bauernlandes, sondern des Gutsbesitzerlandes braucht; ein Teil des Gutsbesitzerlandes ist angesichts des herrschenden Systems für die benachbarte Bauernwirtschaft unbedingt erforderlich (Tränke, Weide usw.). Diese tatsächliche Verflechtung der Bodennutzung erzeugte unvermeidlich ein ebensolches (oder besser: erhält das durch eine tausendjährige Geschichte geschaffene) Verhältnis des Bauern zum Gutsherren, wie es unter der Leibeigenschaft bestand. Der Bauer bleibt de facto hörig, er arbeitet nach wie vor mit seinem alten Inventar, nach der alten Gewohnheit der Dreifelderwirtschaft, für seinen alten „Erbherren". Was will man mehr, wenn die Bauern selber diese Arbeit überall Fronarbeit nennen? – wenn die Gutsbesitzer selber, ihre Wirtschaft beschreibend, sagen: „meine ehemaligen" (also nicht nur die ehemaligen, sondern auch die jetzigen!) „Bauern" bearbeiten meinen Boden mit ihrem Inventar für das Weideland, das ich an sie verpachte.

Wenn man irgendeine verwickelte und verworrene sozialökonomische Frage lösen will, so verlangt eine einfache Grundregel, dass man zuerst den typischsten, von störenden Nebeneinflüssen und Umständen am wenigsten berührten Fall untersucht und erst nach seiner Lösung weitergeht, indem man nacheinander diese fremden und störenden Umstände berücksichtigt. Man nehme also auch hier den „typischsten" Fall: die Kinder von ehemaligen Leibeigenen leisten für die Söhne des ehemaligen Herrn ihrer Eltern Arbeit als Entgelt für die von ihnen gepachtete Weide. Die Abarbeit bedingt den Stillstand der Technik und aller sozialökonomischen Verhältnisse auf dem Lande, denn diese Abarbeit verhindert die Entwicklung der Geldwirtschaft und die Differenzierung der Bauernschaft, befreit den Gutsbesitzer (verhältnismäßig) von dem anspornenden Einfluss der Konkurrenz (anstatt die Technik zu verbessern, verringert er den Anteil des Halbpächters; diese Verringerung ist übrigens in einer Reihe von Gegenden für viele Jahre der Nachreformzeit festgestellt worden), fesselt den Bauer an den Grund und Boden, hält dadurch die Entwicklung der Umsiedelungen und der Wandererwerbsarbeit auf usw.

Es fragt sich nun, ob irgendein Sozialdemokrat daran zweifeln kann, dass die Enteignung eines entsprechenden Teiles des Gutsbesitzerbodens zugunsten der Bauern in diesem „reinen" Fall vollkommen natürlich, erwünscht und durchführbar ist? Diese Enteignung wird den Oblomow aus seinem Schlaf erwecken und ihn zwingen, auf seinem kleiner gewordenen Gute zu einer höheren Wirtschaftsweise überzugehen, diese Enteignung wird das System der Abarbeit erschüttern (ich will nicht sagen vernichten, sondern eben erschüttern), die Selbständigkeit und den demokratischen Geist in der Bauernschaft stärken, ihre Lebenshaltung heben, der weiteren Entwicklung der Geldwirtschaft und dem weiteren kapitalistischen Fortschritt der Landwirtschaft einen gewaltigen Antrieb geben.

Und überhaupt: wenn allgemein anerkannt wird, dass die abgetrennten Bodenstücke eine der Hauptquellen des Systems der Abarbeit sind, dieses System aber ein unmittelbares Überbleibsel der Leibeigenschaft ist, das die Entwicklung des Kapitalismus aufhält, wie kann man dann daran zweifeln, dass die Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke das System der Abarbeit erschüttern und die sozialökonomische Entwicklung beschleunigen wird?

VII

Sehr viele jedoch haben Zweifel daran geäußert, und wir wollen jetzt ihre Einwände untersuchen. Alle diese Einwände können unter folgende Rubriken gebracht werden: a) Entspricht die Forderung der Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke den theoretischen Grundsätzen des Marxismus und den Programmgrundsätzen der Sozialdemokratie? b) ist es vom Standpunkt der politischen Zweckmäßigkeit klug, die Forderung der Beseitigung einer geschichtlichen Ungerechtigkeit aufzustellen, deren Bedeutung mit jedem Schritt der ökonomischen Entwicklung schwächer wird? c) ist diese Forderung auch durchführbar? d) wenn man zugibt, dass wir eine Forderung dieser Art aufstellen und in unserem Agrarprogramm nicht das Mindestmaß, sondern das Höchstmaß geben können und müssen, ist dann von diesem Standpunkt die Forderung der Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke konsequent? Ist eine solche Forderung wirklich eine Höchstforderung?

Soweit ich urteilen kann, lassen sich alle Einwände „gegen die abgetrennten Bodenstücke" unter den einen oder den andern dieser vier Punkte einreihen, wobei die meisten Opponenten (darunter auch Martynow) auf alle vier Fragen verneinend geantwortet und die Forderung der Rückgabe des abgetrennten Landes für grundsätzlich falsch, politisch unzweckmäßig, in Wirklichkeit undurchführbar und logisch nicht folgerichtig erklärt haben.

Wir wollen alle diese Fragen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit untersuchen.

a) Die Forderung der Rückgabe des abgetrennten Landes wird aus zwei Gründen für grundsätzlich falsch gehalten. Erstens sagt man, dass das die kapitalistische Landwirtschaft „treffen", d. h. die Entwicklung des Kapitalismus aufhalten oder hemmen werde; zweitens sagt man, dass dadurch das kleine Eigentum nicht nur gestärkt, sondern geradezu vervielfacht werde. Der erste von diesen Einwänden (den Martynow besonders betont hat), ist vollkommen unbegründet, da in typischen Fällen das abgetrennte Land gerade im Gegenteil die Entwicklung des Kapitalismus aufhält, seine Rückgabe aber diese Entwicklung beschleunigen wird. Was die nicht typischen Fälle anbelangt (ganz abgesehen davon, dass Ausnahmen stets und überall möglich sind und dass sie nur die Regel bestätigen), so ist sowohl in der „Iskra" als auch im Programm ein Vorbehalt gemacht worden („… die Landstücke, die abgetrennt wurden und als Werkzeug zur Knechtung der Bauern dienen …"). Dieser Einwand beruht auf der mangelnden Kenntnis der wirklichen Bedeutung des abgetrennten Bodens und der Abarbeit in der russischen Landwirtschaft27.

Der zweite Einwand (der in einigen Privatbriefen besonders ausführlich entwickelt wurde) ist viel ernster und ist überhaupt der stärkste Einwand gegen das von uns verteidigte Programm. Es sei im Allgemeinen gar nicht Aufgabe der Sozialdemokratie, den Kleinbetrieb und das kleine Eigentum zu entwickeln, zu unterstützen, zu festigen, geschweige denn zu vervielfachen. Das ist vollkommen richtig. Doch handelt es sich darum, dass wir es hier eben nicht mit einem „allgemeinen", sondern mit einem besonderen Beispiel des Kleinbetriebes zu tun haben. Dieses Besondere ist in der Einleitung zu unserem Programm klar zum Ausdruck gekommen: „Um die Überreste der Leibeigenschaft zu beseitigen und um die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande zu fördern." Allgemein gesprochen, ist die Unterstützung des kleinen Eigentums reaktionär, denn sie ist gegen den kapitalistischen Großbetrieb gerichtet, hält also die gesellschaftliche Entwicklung auf, verdunkelt und verwischt den Klassenkampf. In dem gegebenen Falle aber wollen wir das kleine Eigentum nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen die Leibeigenschaft unterstützen, im gegebenen Falle geben wir durch die Unterstützung der Kleinbauernschaft der Entfaltung des Klassenkampfes einen gewaltigen Anstoß. In der Tat machen wir dadurch einerseits den letzten Versuch, die Reste des (ständischen) Klassenhasses der Bauernschaft gegen die Fronherren anzufeuern. Andererseits machen wir den Weg frei für die Entwicklung des bürgerlichen Klassenantagonismus auf dem flachen Lande, denn dieser Antagonismus ist heute verdeckt durch die angeblich gleiche und allen gemeinsame Unterdrückung aller Bauern durch die Überreste der Leibeigenschaft.

Alles auf der Welt hat zwei Seiten. Der Bauer als Eigentümer hat im Westen schon seine Rolle in der demokratischen Bewegung ausgespielt und verteidigt seine im Vergleich zum Proletariat privilegierte Stellung. In Russland steht der Bauer als Eigentümer noch am Vorabend der entschiedenen und allgemeinen demokratischen Volksbewegung, die unbedingt nach seinem Sinn ist. Er schaut noch mehr vorwärts als rückwärts. Er kämpft noch viel mehr gegen die in Russland noch sehr starken ständisch-leibeigenschaftlichen Privilegien als für die Verteidigung seiner privilegierten Stellung. In einem solchen geschichtlichen Augenblick sind wir geradezu verpflichtet, die Bauernschaft zu unterstützen und zu versuchen, ihre vorläufig noch nebelhafte und unklare Unzufriedenheit gegen ihren wirklichen Feind zu lenken. Und wir werden uns keineswegs widersprechen, wenn wir im nächsten Abschnitt der Geschichte, wo die Besonderheiten der gegenwärtigen sozialpolitischen28 „Konjunktur" nicht mehr vorhanden sein werden und die Bauernschaft sich mit dem winzigen Almosen an einen winzigen Teil der Eigentümer begnügen und bereits29 entschieden gegen das Proletariat „los brüllen wird", – wenn wir dann den Kampf gegen die Überreste der Leibeigenschaft aus unserem Programm hinauswerfen. Wir werden dann wahrscheinlich auch gezwungen sein, den Kampf gegen den Absolutismus aus dem Programm zu streichen, denn man kann auf keinen Fall annehmen, dass die Bauernschaft sich vor der Eroberung der politischen Freiheit von dem widerwärtigen und schwer lastenden Druck der Leibeigenschaft frei machen wird.

Unter der Herrschaft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hält das kleine Eigentum die Entwicklung der Produktivkräfte auf, es bindet die Arbeiter an ein kleines Grundstück, erhält die veraltete Technik und erschwert die Einbeziehung des Grund und Bodens in den Handelsverkehr. Unter der Herrschaft der auf Abarbeit beruhenden Wirtschaft treibt das kleine Grundeigentum durch seine Befreiung von der Abarbeit die Entwicklung der Produktivkräfte vorwärts, es befreit den Bauer30 von der ihn an die Scholle bindenden Knechtschaft, befreit den Gutsbesitzer von dem „unentgeltlichen" Knecht, vernichtet die Möglichkeit, technische Verbesserungen durch grenzenlose Erweiterung der „patriarchalischen" Ausbeutung zu ersetzen, erleichtert die Einbeziehung des Grund und Bodens in den Handelsverkehr. Mit einem Worte, die widerspruchsvolle Lage der Kleinbauernschaft an der Grenze zwischen der auf Leibeigenschaft aufgebauten und der kapitalistischen Wirtschaft rechtfertigt vollkommen diese vorübergehende und ausnahmsweise zugelassene Unterstützung des kleinen Eigentums durch die Sozialdemokratie. Wir wiederholen noch einmal: dies ist kein Widerspruch in der Fassung oder Ausdrucksweise unseres Programms, sondern ein Widerspruch des lebendigen Lebens.

Man wird uns entgegnen: Wie stark der Widerstand auch sein mag, den die auf Abarbeit beruhende Wirtschaft dem Ansturm des Kapitalismus entgegenstellt, so gibt sie doch nach, – mehr als das: sie ist zum vollständigen Untergang verurteilt. Die auf Abarbeit beruhenden Großbetriebe werden unmittelbar durch kapitalistische Großbetriebe abgelöst und müssen ihnen den Platz überlassen. Ihr aber wollt den Prozess der Ausrottung der Leibeigenschaft durch eine Maßnahme beschleunigen, die eigentlich eine Zersplitterung (wenn auch nur eine teilweise, aber dennoch eine Zersplitterung) der Großbetriebe ist. Opfert ihr nicht dadurch das Interesse der Zukunft den Interessen der Gegenwart? Wegen der fragwürdigen Möglichkeit eines Bauernaufstandes gegen die Leibeigenschaft in der nächsten Zukunft erschwert ihr den Aufstand des Landproletariats gegen den Kapitalismus in einer mehr oder weniger fernen Zukunft!

Eine solche Betrachtung, wie überzeugend sie auf den ersten Blick auch sein mag, leidet an großer Einseitigkeit: erstens gibt auch die Kleinbauernschaft, wenn auch schwer, dem Ansturm des Kapitalismus nach, auch sie ist letzten Endes unbedingt zum Untergang verurteilt; zweitens wird auch der auf Abarbeit beruhende Großbetrieb nicht immer „unmittelbar" durch den kapitalistischen Großbetrieb abgelöst, sondern fast durchweg entsteht dabei eine Schicht von Halb-Abhängigen, Halb-Lohnarbeitern, Halb-Eigentümern. Eine so revolutionäre Maßnahme dagegen, wie die Rückgabe des abgetrennten Landes, würde sich gerade dadurch als sehr nützlich erweisen, dass sie wenigstens einmal die „Methode" der allmählichen und unmerklichen Verwandlung der versklavenden Abhängigkeit in die bürgerliche Abhängigkeit ersetzt hätte durch die „Methode" der offenen revolutionären Verwandlung: das würde nicht ohne den allergrößten Einfluss auf den Geist des Protestes und des selbständigen Kampfes der gesamten werktätigen Landbevölkerung vor sich geben können. Drittens werden wir russischen Sozialdemokraten uns bemühen, die Erfahrungen Europas auszunutzen, und wir werden uns viel früher, viel eifriger damit befassen, die Dorfbevölkerung für die sozialistische31 Arbeiterbewegung zu gewinnen, als es unseren westlichen Genossen gelungen ist, die nach der Eroberung der politischen Freiheit noch lange „tastend" die Wege für die Bewegung der Industriearbeiter suchten: auf diesem Gebiete werden wir viel Fertiges von den „Deutschen" übernehmen, auf dem Gebiete der Landwirtschaft dagegen werden wir vielleicht auch etwas Neues schaffen. Und um unseren Landproletariern und Halbproletariern späterhin den Übergang zum Sozialismus zu erleichtern, ist es äußerst wichtig, dass die sozialistische Partei jetzt sofort für die Kleinbauernschaft „einzutreten" beginnt, dass sie alles, was in ihren Kräften steht, tut, auf die Teilnahme an der Lösung der dringenden und verwickelten „fremden" (nicht-proletarischen) Fragen nicht verzichtet und die gesamte werktätige ausgebeutete Masse lehrt, in der Partei ihren Führer und Vertreter zu sehen. Gehen wir weiter.

b) Die Forderung der Rückgabe der abgetrennten Landstücke wird als politisch unzweckmäßig betrachtet: es sei unrichtig, die Aufmerksamkeit der Partei auf die Beseitigung von allerhand geschichtlichen Ungerechtigkeiten, die heutzutage ihre Bedeutung bereits verlieren, abzulenken, – die Aufmerksamkeit abzulenken von der grundlegenden und immer mehr in den Vordergrund rückenden Frage des Kampfes des Proletariats und der Bourgeoisie. Es sei ein sonderbarer Einfall, „mit einer Verspätung von vierzig Jahren die Bauern neu zu befreien" – spöttelt Martynow. Auch diese Erwägung erscheint nur auf den ersten Blick so einleuchtend32. Die geschichtlichen Ungerechtigkeiten sind ja verschieden. Es gibt solche, die sozusagen abseits vom geschichtlichen Hauptstrom bleiben, ihn nicht aufhalten, seinem Lauf nicht im Wege stehen, die Vertiefung und Ausbreitung des proletarischen Klassenkampfes nicht hindern. Solche geschichtliche Ungerechtigkeiten beseitigen zu wollen, wäre wirklich nicht klug. Als Beispiel wollen wir auf die Angliederung Elsass-Lothringens an Deutschland hinweisen. Keiner sozialdemokratischen Partei wird es einfallen, die Beseitigung einer solchen Ungerechtigkeit in ihr Programm aufzunehmen, obgleich keine ihrer Pflicht ausweichen wird, gegen diese Ungerechtigkeit Verwahrung einzulegen und die herrschenden Klassen dafür zu brandmarken. Und würden wir unsere Forderung der Rückgabe der abgetrennten Landstücke damit und33 nur damit begründen, dass hier eine Ungerechtigkeit begangen worden ist, – lasst sie uns34 beseitigen –, so würde das eine leere demokratische Redensart sein. Wir begründen aber unsere Forderung nicht durch Flennerei über geschichtliche Ungerechtigkeiten, sondern mit der Notwendigkeit, die Überreste der Leibeigenschaft zu beseitigen und den Weg für den Klassenkampf auf dem Lande freizumachen, d. h. mit einer sehr „praktischen" und für das Proletariat sehr dringenden Notwendigkeit.

Wir haben hier ein Beispiel einer anderen geschichtlichen Ungerechtigkeit, und zwar einer solchen, die die gesellschaftliche Entwicklung und den Klassenkampf unmittelbar aufhält. Auf den Versuch, solche geschichtlichen Ungerechtigkeiten zu beseitigen, verzichten, hieße „die Knute darum verteidigen, weil sie eine geschichtliche Knute ist". Die Frage der Befreiung unseres flachen Landes von dem Drucke der Überreste35 des „alten Regimes" ist eine der brennendsten Fragen der Gegenwart, die von allen Richtungen und Parteien (mit Ausnahme der der Fronherren) gestellt wird, so dass der Hinweis auf die Verspätung überhaupt nicht am Platze und im Munde Martynows einfach lächerlich ist. „Verspätet" hat sich die russische Bourgeoisie mit der eigentlich ihr zukommenden Aufgabe, alle Überreste des alten Regimes wegzufegen, – und wir werden diesen Mangel solange verbessern müssen, bis er verbessert sein wird, bis wir die politische Freiheit errungen haben, solange die Lage der Bauernschaft die Unzufriedenheit fast der gesamten gebildeten bürgerlichen Gesellschaft nährt (wie wir es in Russland sehen), anstatt in dieser Masse das Gefühl der konservativen Selbstzufriedenheit über die „Unzerstörbarkeit" des angeblich stärksten Bollwerks gegen den Sozialismus zu wecken (wie wir es im Westen sehen, wo sich eine solche Selbstzufriedenheit in allen Ordnungsparteien bemerkbar macht, angefangen von den Agrariern und Konservativen pur sang36, den bürgerlichen Liberalen und Freidenkern bis zu den die Herren Tschernow und37 der „Wjestnik Russkoi Rewoluzii " mögen verzeihen bis zu den modernen „Kritikern des Marxismus" in der Agrarfrage). Nun, und dann haben sich natürlich noch jene russischen Sozialdemokraten „verspätet", die grundsätzlich hinter der Bewegung einherhinken und sich nur mit den Fragen beschäftigen, die „greifbare Resultate verheißen". Da sie sich damit verspätet haben38, bestimmte Richtlinien auch in der Agrarfrage zu geben, so liefern diese „Chwostisten" nur den revolutionären, nichtsozialdemokratischen Richtungen die stärkste und sicherste Waffe in die Hand.

c) Was die praktische „Undurchführbarkeit" der Forderung der Rückgabe des abgetrennten Landes betrifft, so ist dieser Einwand (den Martynow besonders betont) einer der schwächsten. Mit der Frage, in welchen Fällen und wie die Enteignung, die Ablösung, der Austausch, die Feldvermessung usw. durchzuführen sind, würden die Bauernkomitees, wenn politische Freiheit herrschte, zehnmal besser fertig werden als die Adelskomitees, die aus Vertretern der Minderheit bestehen und für die Minderheit wirken. Nur Leute, die gewohnt sind, die revolutionäre Aktivität der Massen zu unterschätzen, können diesem Einwand Bedeutung beimessen.

Hier stoßen wir auf den vierten und letzten Einwand.

d) Wenn man schon auf die revolutionäre Aktivität der Bauernschaft rechnet und für sie nicht ein Mindest-, sondern ein Höchstprogramm aufstellt, so muss man konsequent sein und entweder die „bäuerliche" schwarze Umteilung oder die „bürgerliche" Nationalisierung des Grund und Bodens fordern39.

Wenn wir – schreibt Martynow – eine wirkliche (sic!) Klassenlosung für die Massen der landarmen Bauernschaft finden wollten, so müssten wir noch weiter gehen – und die Forderung der schwarzen Umteilung aufstellen, dann aber müssten wir auf das sozialdemokratische Programm verzichten."

Diese Betrachtung verrät sehr deutlich den „Ökonomisten" und ruft das Sprichwort von den Leuten in Erinnerung, die sich die Stirn zerschlagen, wenn man sie zwingt, zu Gott zu beten40.

Ihr seid für eine der Forderungen eingetreten, die bestimmten Interessen einer bestimmten Schicht von Kleinproduzenten entsprechen: folglich müsst ihr euren Standpunkt aufgeben und euch auf den Standpunkt dieser Schicht stellen!! Nein, das folgt keineswegs daraus, so urteilen nur „Chwostisten", die die Ausarbeitung eines Programms, das den Interessen der Klasse im weiten Sinne des Wortes entspricht, mit der Liebedienerei dieser Klasse gegenüber verwechseln. Obgleich wir die Vertreter des Proletariats sind, so werden wir doch das Vorurteil der unaufgeklärten Proletarier offen verurteilen, nach dem man nur für Forderungen kämpfen müsste, „die greifbare Resultate verheißen". Wir unterstützen die fortschrittlichen Interessen und Forderungen der Bauernschaft, lehnen aber ihre reaktionären Forderungen entschieden ab. Die „Schwarze Umteilung", diese lebendigste Losung der alten Volkstümler, enthält eben eine Verflechtung von revolutionären und reaktionären Gesichtspunkten. Und die Sozialdemokraten haben oft gesagt, dass sie nicht mit der Gradlinigkeit eines gewissen unklugen Vogels das ganze Volkstümlertum über Bord werfen, sondern dass sie seine revolutionären, allgemein-demokratischen Grundgedanken herausgreifen und als die ihren anerkennen. In der Forderung der Schwarzen Umteilung ist die Utopie der Verallgemeinerung und der Verewigung des bäuerlichen Kleinbetriebs reaktionär, sie hat aber auch (neben der Utopie, dass die „Bauernschaft" die Trägerin eines sozialistischen Umsturzes sein kann) eine revolutionäre Seite, und zwar den Wunsch, durch den Bauernaufstand alle Überreste der Leibeigenschaft wegzufegen. Die Forderung der Rückgabe der abgetrennten Landstücke greift, unseres Erachtens, aus allen zweideutigen und41 widerspruchsvollen Forderungen der Bauernschaft gerade das heraus, was in der Richtung der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung nur revolutionär wirken kann und darum die Unterstützung des Proletariats verdient. Die Aufforderung Martynows, „weiterzugehen", führt in Wirklichkeit nur zu dem Unsinn, dass wir die „wirkliche" Klassenlosung der Bauernschaft vom Standpunkte der heutigen Vorurteile der Bauernschaft und nicht vom Standpunkte der richtig verstandenen Interessen des Proletariats bestimmen.

Eine andere Sache ist die Nationalisierung des Grund und Bodens. Diese Forderung (wenn man sie im bürgerlichen und nicht im sozialistischen Sinne auffasst) geht tatsächlich über die Forderung der Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke hinaus, und grundsätzlich teilen wir diese Forderung vollkommen. In einem bestimmten revolutionären Augenblick werden wir natürlich nicht ablehnen, sie aufzustellen. Aber unser jetziges Programm stellen wir nicht nur und sogar nicht so sehr für die Zeit des revolutionären Aufstands auf, als für die Zeit der politischen Sklaverei, für die Zeit, die der politischen Freiheit vorangeht. In einer solchen Zeit aber bringt die Forderung der Nationalisierung des Grund und Bodens die unmittelbaren Aufgaben der demokratischen Bewegung im Sinne des Kampfes gegen die Versklavung viel schwächer zum Ausdruck. Die Forderung der Errichtung von Bauernkomitees und der Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke entfacht auf dem Lande den Klassenkampf, und darum kann sie zu keinem Versuch im Geiste des Staatssozialismus Anlass geben. Im Gegenteil, die Forderung der Nationalisierung des Grund und Bodens lenkt bis zu einem gewissen Grade die Aufmerksamkeit von den schärfsten Äußerungen und den stärksten Überbleibseln der Leibeigenschaft ab. Darum kann und muss unser Agrarprogramm jetzt sofort aufgestellt werden, und zwar als ein Mittel zur Förderung der demokratischen Bewegung in der Bauernschaft. Die Forderung der Nationalisierung dagegen aufzustellen, wäre – nicht nur unter absolutistischem Regime, sondern auch in einer halb konstitutionellen Monarchie – einfach falsch, denn, wenn keine vollkommen gefestigten und tief verwurzelten demokratischen politischen Einrichtungen vorhanden sind, so muss diese Forderung viel eher die Gedanken auf sinnlose staatssozialistische Versuche ablenken, als einen Anstoß zur „freien Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande" geben.L

Darum meinen wir, dass die Höchstforderung unseres Agrarprogramms auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung nicht über die demokratische Revision der Bauernreform hinausgehen darf. Die Forderung der Nationalisierung des Grund und Bodens, die grundsätzlich vollkommen richtig und für bestimmte Augenblicke vollkommen geeignet ist, ist in diesem Augenblick politisch unzweckmäßig.

Es verdient festgestellt zu werden, dass Nadjeschdin in seinem Bestreben, eben zu einer solchen Höchstforderung, wie die Nationalisierung des Grund und Bodens, zu gelangen, vom Weg abgeirrt ist (zum Teil unter dem Einfluss seines Entschlusses, sich im Programm auf Forderungen zu beschränken, „die für den Bauer verständlich und notwendig sind"). Nadjeschdin formuliert die Forderung der Nationalisierung folgendermaßen:

Umwandlung der Staats-, Apanagen-, Kirchen-, Gutsbesitzer-Landereien in Volkseigentum, in einen nationalen Fonds zur Verteilung des Grund und Bodens in langfristige Pacht und zu den günstigsten Bedingungen an die werktätige Bauernschaft."

Dem Bauer wird diese Forderung zweifellos verständlich sein, – aber dem Sozialdemokraten sicherlich nicht. Die Forderung der Nationalisierung des Grund und Bodens ist nur als bürgerliche und nicht als sozialistische Maßnahme eine grundsätzlich vollkommen richtige Forderung des sozialdemokratischen Programms, denn im sozialistischen Sinne fordern wir die Nationalisierung aller Produktionsmittel. Bleiben wir aber auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft, so können wir nur die Übergabe der Bodenrente an den Staat fordern, – eine Übergabe, die an sich die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft nicht nur nicht aufhalten, im Gegenteil, sogar beschleunigen würde. Darum dürfte ein Sozialdemokrat, der die bürgerliche Nationalisierung des Grund und Bodens unterstützt, erstens die Bauernländereien keineswegs ausschließen, wie es Nadjeschdin getan hat. Wenn wir die Privatwirtschaft auf dem Grund und Boden aufrechterhalten und nur das Privateigentum an Grund und Boden abschaffen, so wäre es geradezu reaktionär, wollte man in dieser Beziehung für den kleinen Eigentümer eine Ausnahme machen. Zweitens würde der Sozialdemokrat bei einer solchen Nationalisierung entschieden dagegen sein, dass man bei der Verpachtung des nationalen Bodens die „werktätige Bauernschaft" den kapitalistischen Unternehmern in der Landwirtschaft vorzieht. Diese Bevorzugung wäre wiederum unter der Bedingung der Herrschaft oder der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise reaktionär. Wenn sich ein demokratisches Land fände, das die bürgerliche Nationalisierung des Grund und Bodens durchführt, so dürfte das Proletariat dieses Landes weder dem Klein- noch dem Großpächter den Vorzug geben, sondern es müsste unbedingt fordern, dass jeder Pächter die gesetzlich festgelegten Bestimmungen über den Arbeitsschutz (über den maximalen Arbeitstag, über die Einhaltung der sanitären Verordnungen usw. usw.) wie auch über die sachgemäße Behandlung des Bodens und des Viehs einhalte. Tatsächlich würde ein solches Verhalten des Proletariats zur bürgerlichen Nationalisierung selbstverständlich die Beschleunigung des Sieges des Großbetriebes über den Kleinbetrieb bedeuten (wie dieser Sieg in der Industrie durch die Fabrikgesetzgebung beschleunigt wird).

Das Bestreben, um jeden Preis „dem Bauer verständlich" zu sein, hat hier Nadjeschdin auf den dunklen Weg der reaktionären kleinbürgerlichen Utopie getrieben42.

Die Analyse der Einwände gegen die Forderung der Rückgabe der abgetrennten Landstücke zeigt uns also die Unzulänglichkeit dieser Einwände. Wir müssen für die Forderung der demokratischen Revision der Bauernreform, und zwar für die Änderung der Agrarverhältnisse eintreten. Um aber den Charakter, die Grenzen und die Art der Durchführung dieser Revision genau zu bestimmen, müssen wir die Gründung von Bauernkomitees fordern, denen das Recht der Enteignung, der Ablösung, des Austausches usw. der „abgetrennten Bodenstücke", mit deren Hilfe sich die Überbleibsel der Fronwirtschaft aufrechterhalten können, eingeräumt werden muss.

VIII

Im engen Zusammenhang mit dem 4. Punkt unseres Entwurfs zum Agrarprogramm steht der 5. Punkt, in dem gefordert wird, dass den Gerichten das Recht eingeräumt werde, „den übermäßig hohen Pachtzins herabzusetzen und Verträge für ungültig zu erklären, die versklavend wirken". Wie der 4. Punkt, so richtet sich auch dieser gegen die Knechtung. Im Gegensatz zum 4. Punkt verlangt er nicht die einmalige Revision und Reform der Agrarverhältnisse, sondern die ständige Revision der bürgerlichen Rechtsverhältnisse. Diese Revision wird den „Gerichten" überlassen, wobei man selbstverständlich nicht die klägliche Parodie auf das Gericht im Auge hat, die die Einrichtung der Bezirkshauptleute darstellt (oder sogar der Friedensrichter, die von den besitzenden Klassen aus den Reihen der Besitzenden gewählt werden), sondern jene Gerichte, von denen in § 16 des vorhergehenden Teiles unseres Programmentwurfs die Rede ist. Dieser § 16 fordert „die Errichtung von Gewerbegerichten in allen Zweigen der Volkswirtschaft…" (also auch in der Landwirtschaft) „… paritätisch zusammengesetzt aus Vertretern der Arbeiter und der Unternehmer". Eine solche Zusammensetzung des Gerichtes würde seinen demokratischen Charakter sichern und die verschiedenen Klasseninteressen der verschiedenen Schichten der Landbevölkerung frei zum Ausdruck bringen. Der Klassengegensatz wäre nicht verdeckt durch das Feigenblatt eines faulen Bürokratismus – dieses übertünchten Sarges für die Überreste der Volksfreiheit –, sondern er würde offen und klar vor aller Augen auftreten und dadurch die Landbewohner aus ihrem patriarchalischen Schlaf aufrütteln. Die genaue Kenntnis der Agrarverhältnisse im Allgemeinen und ihrer örtlichen Eigenarten im Besonderen wäre vollkommen gesichert durch die Wählbarkeit der Richter aus ortsansässigen Leuten. Für die Bauernmassen, die man weder in die Kategorie der Nur-„Arbeiter" noch in die Kategorie der Nur-„Unternehmer" eintragen kann, müssten natürlich besondere Bestimmungen getroffen werden, um die gleichmäßige Vertretung aller Schichten der Landbevölkerung zu sichern. Wir Sozialdemokraten würden dabei unter allen Umständen unbedingt, erstens, auf der besonderen Vertretung der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, wie gering ihre Zahl auch sein mag, und zweitens auf möglichst besonderen Vertretungen der minderbemittelten und der wohlhabenden Bauernschaft bestehen (denn die Vereinigung dieser Kategorie ergibt nicht nur in der Statistik ein falsches Bild, sondern führt auch auf allen Gebieten des Lebens zur Unterdrückung und Benachteiligung der minderbemittelten Bauern durch die wohlhabenden).

Die Zuständigkeit dieser Gerichte soll eine zweifache sein: erstens sollen sie das Recht haben, den Pachtzins herabzusetzen, wenn er „übermäßig hoch" ist. Schon diese Worte des Programms bringen mittelbar zum Ausdruck, dass diese Erscheinung als weit verbreitet anerkannt wird. Die öffentliche, in der Form eines Kampfes sich abspielende Untersuchung der Frage der Höhe des Pachtzinses vor Gericht wäre sogar unabhängig von den Entscheidungen des Gerichts von gewaltigem Nutzen. Die Herabsetzung des Pachtzinses (auch wenn das nur selten vorkommen sollte) wäre für die Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft wichtig: bekanntlich trägt bei uns auf dem Lande die Pacht öfter einen versklavenden als einen bürgerlichen Charakter, und der Pachtzins ist viel häufiger eine „Geldrente" (d. h. eine verwandelte feudale Rente) als eine kapitalistische Rente (d. h. der Überschuss über den Unternehmerprofit). Die Herabsetzung des Pachtzinses würde folglich die Ablösung der leibeigenschaftlichen Formen der Wirtschaft durch die kapitalistischen Formen unmittelbar fördern.

Zweitens würden die Gerichte das Recht haben, „Verträge für ungültig zu erklären, die versklavend wirken". Der Begriff der „Versklavung" wird hier nicht erklärt, denn es wäre gar nicht erwünscht, die gewählten Richter in der Anwendung eines solchen Punktes zu beschränken. Was Versklavung ist, weiß der russische Bauer nur zu gut! Vom wissenschaftlichen Standpunkt umfasst aber dieser Begriff alle die Verträge, in denen Züge des Wuchers (Anmietung im Winter usw.) oder der Leibeigenschaft (Abarbeit für Flurschaden usw.) enthalten sind.

Einen etwas anderen Charakter trägt der 3. Punkt über die Rückgabe der Ablösungsgelder an das Volk. Hier entstehen nicht jene Zweifel über das kleine Eigentum, die der 4. Punkt hervorruft, dafür aber weisen die Kritiker sowohl auf die praktische Undurchführbarkeit dieser Forderung wie auf das Fehlen eines logischen Zusammenhanges zwischen ihr und dem allgemeinen Teil unseres Agrarprogramms hin (– „Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft und freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande"). Niemand wird aber leugnen, dass gerade die Überreste der Leibeigenschaft in ihrer Gesamtheit jene ständige Hungersnot von Millionen Bauern hervorrufen, die Russland von allen zivilisierten Nationen sofort unterscheidet. Sogar der Absolutismus ist darum gezwungen, immer häufiger43 einen besonderen (selbstverständlich ganz armseligen und mehr von den Staatskassenplünderern und Bürokraten ausgeraubten als den Hungernden dienenden) „Fonds für die kulturellen und44 wohltätigen Zwecke der Dorfgemeinden" zu schaffen. Auch wir können nicht umhin, neben anderen demokratischen Reformen die Schaffung eines solchen Fonds zu verlangen. Das kann wohl kaum bestritten werden.

Es fragt sich nun, welcher Quelle sollen die Mittel zur Bildung dieses Fonds entnommen werden? Soweit wir urteilen können, könnte man uns hier auf die progressive Einkommenssteuer verweisen: es müssten die Sätze für das Einkommen der reichen Leute besonders erhöht werden, um dann diese Gelder dem obenerwähnten Fonds zuzuwenden. Es wäre vollkommen gerecht, wenn die reichsten Staatsbürger zu dem Unterhalt der Hungernden und den Ausgaben für die mögliche Überwindung des durch die Hungersnot verursachten Elends am meisten beitrügen. Wir würden auch gegen eine solche Maßnahme nichts einzuwenden haben, von der im Programm nicht besonders gesprochen zu werden braucht, da sie ganz zu der Forderung der progressiven Einkommensteuer gehört, die im Programm besonders erwähnt wird. Warum sich aber auf diese Quelle beschränken? Warum soll man nicht versuchen, außerdem dem Volke, wenn auch nur einen Teil jenes Tributs zurückzugeben, den die gestrigen Sklavenhalter mit Hilfe des Polizeistaates von den Bauern erhoben haben und heute noch erheben? Steht dieser Tribut nicht in engster Verbindung mit den gegenwärtigen Hungersnöten? Und wird die Forderung der Rückgabe dieses Tributs uns nicht den größten Dienst leisten für die Ausbreitung und Vertiefung45 der revolutionären Empörung der Bauern gegen alle Fronherren und die Knechtung jeder Art?

Diese Tribute können aber nicht ganz zurückerstattet werden, erwidert man uns. Sehr richtig (wie man auch die abgetrennten Bodenstücke nicht ganz zurückerstatten kann)46. Wenn man aber schon nicht die ganze Schuld zurückfordern kann, warum soll man dann nicht einen Teil davon zurücknehmen? Was kann man gegen eine besondere Steuer auf den Grundbesitz jener adligen Großgrundbesitzer einwenden, die Ablösungskredite in Anspruch genommen haben? Die Anzahl solcher Besitzer von Latifundien (die manchmal sogar in Fideikommisse verwandelt worden sind) ist in Russland sehr groß und es wäre richtig, sie zu einer besonderen Verantwortung für die Hungersnöte der Bauern heranzuziehen. Noch gerechter wäre die vollständige Beschlagnahme der Klostergüter und der Apanageländereien, da das ein Eigentum ist, das am stärksten von den Überlieferungen der Leibeigenschaft durchdrungen ist, das zur Bereicherung der reaktionärsten und für die Gesellschaft schädlichsten Nichtstuer dient und gleichzeitig einen bedeutenden Teil des Grund und Bodens dem Zivil- und Handelsverkehr entzieht. Die Beschlagnahme solcher Güter wäre also der gesellschaftlichen Entwicklung durchaus förderlichM, sie wäre eben eine solche teilweise bürgerliche Nationalisierung des Grund und Bodens, die auf keinen Fall zum Gaukelspiel des „Staatssozialismus" führen würde47. Sie hätte eine unmittelbare und gewaltige politische Bedeutung für die Festigung der demokratischen Einrichtungen im neuen Russland; gleichzeitig aber würde sie auch zusätzliche Mittel für die Unterstützung der Hungernden geben.

IX

Was schließlich die beiden ersten Punkte unseres Agrarprogramms anbelangt, so ist es überflüssig, lange bei ihnen zu verweilen. „Die Aufhebung der Ablösungs- und Obrokzahlungen wie auch aller übrigen Schuldverpflichtungen, die heute auf die Bauernschaft als steuerpflichtigen Stand fallen" (Punkt 1) – ist etwas für jeden Sozialdemokraten Selbstverständliches. Soweit wir beurteilen können, entstehen hier auch keine Zweifel über die praktische Durchführung dieser Maßnahme. Der 2. Punkt fordert die „Aufhebung der Solidarhaft und aller Gesetze, die den Bauer…" (man beachte: den „Bauer" und nicht „die Bauern") „,.. in der Verfügung über sein Land beschränken". Hier müssen einige Worte über die rühmlich bekannte und denkwürdige „Dorfgemeinde" gesagt werden. Tatsächlich wird natürlich die Aufhebung der Solidarhaft (diese Reform wird Herr Witte vielleicht noch vor der Revolution durchführen können) die Aufhebung der ständischen Gliederung, die Freizügigkeit und das Recht der freien Verfügung über den Grund und Boden für jeden einzelnen Bauer zur unvermeidlichen und raschen Aufhebung jener fiskalischen und knechtenden Bürde führen, die die heutige Dorfgemeinde zu drei Vierteln ist. Dieses Ergebnis wird aber nur die Richtigkeit unserer Ansichten über die Gemeinde beweisen, es wird beweisen, wie unvereinbar sie mit der gesamten sozialökonomischen Entwicklung des Kapitalismus ist. Dieses Ergebnis wird aber keineswegs durch irgendeine, von uns empfohlene Maßnahme „gegen die Gemeinde" erzielt werden, da wir nie eine Maßnahme verteidigt haben oder verteidigen werden, die sich unmittelbar gegen dieses oder jenes System der bäuerlichen Regelung der Grund- und Bodenverhältnisse richtet. Mehr als das. Wir werden die Gemeinde als demokratische Organisation der Selbstverwaltung, als genossenschaftliche oder nachbarschaftliche Vereinigung gegen alle Angriffe der Bürokraten unbedingt verteidigen, – gegen jene Angriffe, die bei den Feinden der Gemeinde aus dem Lager der „Moskowskije Wjedomosti" so beliebt sind. Wir werden niemand und niemals helfen, „die Gemeinde zu zerstören", doch werden wir bedingungslos die Aufhebung aller Einrichtungen, die dem Demokratismus widersprechen, anstreben, welchen Einfluss diese Aufhebung auf die allgemeine und die teilweise Umteilung des Grund und Bodens usw. auch haben mag. Darin besteht der Hauptunterschied zwischen uns und den offenen oder geheimen, konsequenten oder inkonsequenten, schüchternen oder kühnen Volkstümlern, die einerseits „natürlich" Demokraten sind, andererseits aber Angst haben, ihre Stellung zu so selbstverständlichen demokratischen Forderungen, wie der vollständigen Freizügigkeit, der vollständigen Aufhebung des ständischen Charakters der Bauerngemeinde, folglich also auch der vollständigen Aufhebung der Solidarhaft, der Aufhebung aller Gesetze, die den Bauer in der Verfügung über seinen Grund und Boden beschränken, entschieden und unzweideutig festzulegen.N

Man wird uns erwidern: gerade die letztgenannte Maßnahme, die jedem einzelnen Bauer seinen Sonderwillen lässt, zerstört die Gemeinde nicht nur als System der Umteilungen usw., sondern auch als genossenschaftliche Nachbarvereinigung. Jeder einzelne Bauer wird berechtigt sein, gegen den Willen der Mehrheit zu verlangen, dass ihm sein Stück Land als besonderes Grundstück abgetrennt werde. Widerspricht das nicht dem allgemeinen Bestreben aller Sozialisten, die Erweiterung und nicht die Einengung der Rechte der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen zu fördern?

Wir antworten darauf: aus unserer Fassung ergibt sich noch gar nicht, dass jeder Bauer das Recht haben soll, zu verlangen, dass ihm sein Stück Land als besonderes Grundstück abgetrennt werde. Aus ihr ergibt sich nur die Freiheit des Bodenverkaufs, wobei das Vorzugsrecht der Genossenschaftsmitglieder auf Ankauf des zum Verkauf angebotenen Bodens auch dieser Freiheit nicht widerspricht.48

Die Aufhebung der Solidarhaft muss alle Mitglieder der Bauerngemeinde in freie Mitbesitzer eines bestimmten Grundstückes verwandeln, – wie sie dann über dieses Grundstück verfügen werden, das wird schon ihre Sache sein, das wird von den allgemeinen Zivilgesetzen und von ihren besonderen inneren Verträgen abhängen. Was aber die Erweiterung der Rechte der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen betrifft, so verteidigen die Sozialisten sie nur dann, wenn diese Erweiterung den technischen und sozialen Fortschritt fördert.O In dieser Form würden selbstverständlich auch wir jedes entsprechende Gesetz verteidigen, wenn es sich nur nicht ausschließlich auf die kleinen Eigentümer, ausschließlich auf die Bauern, sondern auf alle Grundbesitzer überhaupt bezieht.

X

Zum Schluss wollen wir die Hauptsätze zusammenfassen, die unserem Agrarprogramm zugrunde gelegt worden sind. Jeder, der Gelegenheit gehabt hat, an der Ausarbeitung eines Programms mitzuarbeiten oder die Einzelheiten seiner Ausarbeitung in anderen Ländern kennen zu lernen, weiß, dass man ein und denselben Gedanken auf die verschiedenste Art und Weise ausdrücken kann. Für uns ist es wichtig, dass alle Genossen, deren Urteil wir jetzt unsern Entwurf unterbreiten, sich vor allem und hauptsächlich über die Hauptgrundsätze einigen. Dann werden diese oder jene Besonderheiten der Fassung nicht mehr von entscheidender Bedeutung sein.

Als Grundtatsache auch auf dem Gebiete der russischen Agrarverhältnisse betrachten wir den Klassenkampf. Wir bauen unsere ganze Agrarpolitik (folglich auch das Agrarprogramm) auf der unbeirrbaren Anerkennung dieser Tatsache und allen sich aus ihr ergebenden Folgen auf. Es ist unser nächstes, wichtigstes Ziel, den Weg zu bahnen für die freie Entwicklung des Klassenkampfes auf dem Lande, des Klassenkampfes des Proletariats, der auf die Verwirklichung des Endziels der internationalen Sozialdemokratie, auf die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Schaffung der Grundlagen für die sozialistische Gesellschaft gerichtet ist. Indem wir den Klassenkampf zu unserem Leitfaden in allen „Agrarfragen" machen, trennen wir uns entschieden und unwiderruflich von den in Russland so zahlreichen Anhängern der halben und verschwommenen Theorien: der „volkstümlerischen", der „ethisch-soziologischen", der „kritischen", der sozialreformerischen und wie sie alle heißen mögen!

Um den Weg für die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande49 zu bahnen, ist es notwendig, alle Überreste der Leibeigenschaft zu beseitigen, die jetzt die Keime der kapitalistischen Antagonismen innerhalb der Landbevölkerung verdecken und ihre Entwicklung verhindern. Und wir unternehmen den letzten Versuch, der Bauernschaft zu helfen, durch einen entscheidenden Schlag alle diese Überreste zu vernichten – den „letzten", weil auch der sich entwickelnde russische Kapitalismus von selbst dieselbe Arbeit macht, demselben Ziele entgegengeht50, aber auf dem ihm eigenen Wege der Gewalt und der Unterdrückung, des Ruins und des Hungertodes. Der Übergang von der Ausbeutung durch die Fronherren zur kapitalistischen Ausbeutung ist unvermeidlich, und es wäre eine schädliche, reaktionäre Illusion, ihn aufhalten oder „umgehen" zu wollen. Dieser Übergang ist aber auch in der Form des gewaltsamen Sturzes jener Nachfolger der Fronherren denkbar, die sich nicht auf die „Macht des Geldes", sondern auf die Überlieferung der früheren Macht der Sklavenhalter stützen und der patriarchalischen Bauernschaft jetzt den letzten Tropfen Blut aussaugen. Diese patriarchalische Bauernschaft, die unter dem System der Naturalwirtschaft von der Arbeit ihrer Hände lebt, ist zum Untergang verurteilt, aber sie ist nicht „unbedingt" und nicht durch ein „immanentes" Gesetz der sozial-ökonomischen Entwicklung zu der Folter der „Steuereintreibung" und der Prügelstrafen, zu den Qualen eines sich hinziehenden, erschreckend langwierigen51 Hungertodes verurteilt.

Wir machen uns keine Illusionen über die Möglichkeit eines Wohlstandes oder auch nur eines erträglichen Daseins der Kleinproduzenten in der kapitalistischen Gesellschaft (zu der sich Russland immer mehr entwickelt). Wir fordern die vollständige und bedingungslose, nicht reformerische, sondern revolutionäre Aufhebung und Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft. Wir betrachten das Land als Bauernland, das die Regierung der Adligen den Bauern weggenommen hat und mit dessen Hilfe die Bauern auch heute noch tatsächlich in Sklaverei gehalten werden. Wir werden auf diese Weise – ausnahmsweise und kraft besonderer geschichtlicher Umstände – zu Verteidigern des kleinen Eigentums, aber wir verteidigen es nur in seinem Kampfe gegen das, was vom „alten Regime" erhalten geblieben ist, und nur unter der Bedingung der Aufhebung jener Einrichtungen, die die Umwandlung des patriarchalischen, in seiner Unbeweglichkeit, Niedergedrücktheit und Vernachlässigung erstarrten Oblomow-Dorfes aufhalten: unter der Bedingung der Herstellung der vollständigen Freizügigkeit, des ungehinderten Bodenan- und -verkaufs, der vollständigen Aufhebung der ständischen Gliederung. Die demokratische Revision der Staats- und Zivilgesetze Russlands wollen wir ergänzen durch die demokratische, revolutionäre Revision der berüchtigten „Bauernreform".

Geleitet von diesen Grundsätzen der Agrarpolitik wird der russische Sozialdemokrat, wenn er aufs Land kommt, imstande sein, sich in dem verwickelten Netz der dortigen Verhältnisse zurechtzufinden, seine streng-konsequente revolutionäre Propaganda und Agitation diesen Verhältnissen „anzupassen". Eine möglicherweise entstehende Bewegung der Bauernschaft (die, wie es scheint, hier und da bereits52 begonnen hat) wird ihn dann nicht überraschen. Er wird sich nicht auf jene Forderungen zu Gunsten der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter beschränken, die in dem Teil unseres Programms ausführlich dargestellt sind, der den nächsten „Arbeiterforderungen" gewidmet ist, die er selbstverständlich überall und stets aufstellen wird. Er wird53 imstande sein, auch in der Bauernschaft jene allgemein-demokratische Bewegung vorwärtszutreiben54, die (sollte es ihr bei uns auf dem Lande beschieden sein, über die Grenzen des Keimzustandes hinauszugehen) mit dem Kampf gegen die Fronherren auf dem Lande beginnen und mit dem Aufstand gegen den machtvollen und niederträchtigen Überrest der Leibeigenschaft, der sich zaristischer Absolutismus nennt, enden wird.

P. S. Dieser Aufsatz ist vor dem Beginn der Bauernaufstände im Süden Russlands im Frühling dieses Jahres geschrieben worden. Die grundsätzlichen Thesen des Aufsatzes sind durch diese Ereignisse vollauf bestätigt worden. Von den taktischen Aufgaben aber, die jetzt von besonderer Bedeutung für unsere Partei und ihre Arbeit auf dem Lande sind, hoffen wir, das nächste Mal sprechen zu können.55

1 Der Artikel „Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie" ist ein Kommentar zu dem in der Hauptsache von Lenin geschriebenen Agrarteil des von der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja" ausgearbeiteten Programms. Der Artikel wurde in der Redaktionskonferenz in Zürich am 15. April 1902 verlesen und diskutiert (Plechanow, Sassulitsch, Axelrod, Martow; außerdem war L. Deutsch anwesend). In seinem Brief an Lenin vom 16. April schrieb Axelrod folgendes über das Ergebnis der Erörterung des Artikels: „Gestern haben wir Ihren Artikel über das Agrarprogramm gelesen. Es ist ein sehr guter, stellenweise geradezu ausgezeichneter Artikel. Aber hier und da muss er korrigiert werden. Obwohl die Initiative zu den Verbesserungsvorschlägen bald von dem einen, bald von dem andern ausging, so wurden sie doch ohne Diskussion rasch von allen angenommen und am häufigsten von Alexej (Martow. Die Red.) formuliert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit uns nicht vollkommen und unbedingt einverstanden sein sollten, trotz {„trotz" im Original deutsch. Die Red.} ,Ihrer Hartnäckigkeit'. Mit Ausnahme eines Punktes sind alle erforderlichen Korrekturen teils literarischen, teils politisch-diplomatischen Charakters, mit einem Wort – Kleinigkeiten." („Lenin-Sammelbuch" Nr. 2, S. 136, russisch.)

Über denselben Artikel schrieb – am 17. April – Martow an Lenin: „Wir haben den Artikel über die abgetrennten Bodenstücke zusammen gelesen und werden ihn Dir in diesen Tagen mit unseren kollektiven Bemerkungen über die notwendigen Änderungen zusenden. Ich denke, dass Du die geforderten Änderungen nicht für zu ,streng' halten wirst; ein Artikel, der ein Redaktionsartikel sein soll, darf in keinem einzigen Mitglied der Redaktion Bedenken {Bedenken" im Original deutsch. Die Red.} hervorrufen, wie z. В., dass wir den Verdacht auf uns lenken werden, vor allem den Gedanken von uns weisen zu wollen, als interessierte uns das Elend der Bauernschaft einfach als Elend usw. – das Hauptargument von Wel. Dm. (Sassulitsch. Die Red.) und Paw. Bor. (Axelrod. Die Red.), und zum Teil auch von G. V. (Plechanow. Die Red.). Dass die Stelle über die Nationalisierung des Grund und Bodens, wie auch der .Überfluss an Martynow' fortgelassen wird, erscheint auch mir als nicht weniger notwendig" („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3, S. 402, russisch). Als Lenin den Artikel und die Notizen der Redaktionsmitglieder erhielt, verbesserte er ihn, „alle Hinweise und Forderungen des hohen Kollegiums in Betracht ziehend" (aus dem Brief Lenins an Axelrod vom 3. Mai 1902. „Lenin-Sammelbuch" Nr. 3, S. 417). Nachdem die Korrekturen vorgenommen worden waren, ging der Artikel zur Durchsicht an Plechanow, der ihn mit einer Menge neuer Bemerkungen und Korrekturen, die die Redaktionskonferenz in Zürich nicht vorgeschlagen hatte, zurück sandte. Diese Anmerkungen und Korrekturen trugen einen so scharfen und herausfordernden, einen so „persönlichen" Charakter, in ihnen zeigte sich so offensichtlich die Unzufriedenheit Plechanows mit seiner Stellung in der „Iskra", die ihm nicht mehr gestattete, in den Streitfragen der sozialdemokratischen Bewegung die Rolle der obersten, diktatorischen, durch keine Berufung anfechtbaren Instanz zu spielen (das zeigte sich besonders bei der Ausarbeitung des Parteiprogramms, als Lenin dem Entwurf Plechanows seinen eigenen Entwurf entgegenstellte und den Plechanowschen Entwurf scharf kritisierte), dass Lenin sofort, nachdem er Plechanows Notizen erhalten hatte, mit einem Brief (vom 14. Mai) antwortete, der den Abbruch der Beziehungen ankündigte. So entstand innerhalb der Redaktion ein außerordentlich heftiger Konflikt, der beinahe zum Auseinanderfall der „Iskra" geführt hätte. Dank der Einmischung der übrigen Redaktionsmitglieder wurde der Konflikt nach einem Monat – durch den Brief Plechanows an Lenin vom 20. Juni – aus der Welt geschafft. Um des Friedens willen ging Lenin darauf ein, auf Vorschlag von Plechanow eine Stelle über die abgetrennten Bodenstücke und die ganze, für die Entwicklung der Ansichten Lenins über das Agrarprogramm so außerordentlich wichtige Stelle über die Nationalisierung des Grund und Bodens wegzulassen. Nach vier Monaten der Diskussion und des Briefwechsels erblickte der Artikel endlich das Licht der Welt.

Ausführlicheres über die Begleitumstände der Diskussion über den Artikel Lenins siehe „Lenin-Sammelbuch" Nr. 3, wo alle Verbesserungen und Bemerkungen der Redaktionsmitglieder, insbesondere Plechanows, und die Antworten Lenins angeführt sind.

A Siehe die Beilage zu der Broschüre P. B. Axelrods „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten". Genf 1898.

2 Hier und weiter meint Lenin den Artikel A. Martynows „Die Enthüllungsliteratur und der proletarische Kampf" („Rabotscheje Djelo" Nr. 10, September 1901).

3 Im gedruckten Text ist weiter hinzugefügt: die auf der Bauernschaft schwer lasten. Die Red.

4 Im gedruckten Test: 17. Die Red.

5 Im gedruckten Text ist hinzugefügt: von der modernen Gesellschaft. Die Red.

6 Im gedruckten Text fehlt das Wort „nur". Die Red.

7 Im gedruckten Text: Forderungen. Die Red.

8 Im gedruckten Text heißt es: Dass unsere Forderungen für die Bauern einen ganz anderen Charakter tragen, dass wir in dem die Arbeiter betreffenden Abschnitt auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehen, in dem Abschnitt aber, der von den Bauern handelt, die Einführung der Lebensbedingungen auf dem Lande fordern, die der bürgerlichen Gesellschaft eigen sind. Die Red.

9 Im gedruckten Text sind die in Klammern stehenden Worte weggelassen. Die Red.

10 Im gedruckten Text sind die Worte „sehr engen" weggelassen. Die Red.

B Es ist bekannt, dass der Klassenunterschied in der Sklaven- und in der feudalen Gesellschaft auch in der ständischen Gliederung der Bevölkerung zum Ausdruck kam, dass für jede Klasse ihre besondere rechtliche Stelle im Staate festgelegt war. Darum waren die Klassen der Sklaven- und der feudalen (auch der auf Leibeigenschaft aufgebauten) Gesellschaft auch besondere Stände. In der kapitalistischen, bürgerlichen Gesellschaft sind dagegen alle Bürger gleichberechtigt, die ständische Gliederung ist aufgehoben (wenigstens grundsätzlich), und darum haben die Klassen aufgehört, Stände zu sein. Die Einteilung der Gesellschaft in Klassen finden wir sowohl in der Sklaven- und in der feudalen als auch in der bürgerlichen Gesellschaft. In den beiden ersten gab es aber ständische Klassen, in der bürgerlichen Gesellschaft dagegen sind die Klassen keine Stände.

11 Im gedruckten Text: im russischen Leben. Die Red.

12 Im gedruckten Text lautet der Satz: „durch die wirtschaftliche Entwicklung selber erleichtert und im höchsten Maße vereinfacht worden ist". Die Red.

C Der Einwand, dass die Forderung der Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke bei weitem noch nicht die weitestgehende von unseren nächsten Forderungen für die Bauernschaft (oder unserer Agrarforderungen überhaupt) und dass sie infolgedessen nicht folgerichtig sei, werden wir weiter unten untersuchen, wenn wir von den konkreten Punkten des von uns verteidigten Programms sprechen. Wir behaupten, und werden uns bemühen nachzuweisen, dass die Forderung der „Rückgabe der abgetrennten Bodenstücke" das Äußerste ist, was wir schon jetzt in unserm Agrarprogramm fordern können. (Im gedruckten Text ist der Schluss der Fußnote, beginnend mit den Worten: „wenn wir von den konkreten Punkten …" weggelassen. Die Red.)

D Ich persönlich bin geneigt, diese Frage im bejahenden Sinne zu beantworten, aber hier wäre es natürlich nicht am Platze und nicht an der Zeit, diese Antwort zu begründen oder auch nur auf sie hinzuweisen, denn hier handelt es sich um die Verteidigung des kollektiven, von der gesamten Redaktion aufgestellten Entwurfes zum Agrarprogramm.

13 Im gedruckten Text: „will man sich aber vor dem endgültigen Ausgang des Kampfes, während seines Verlaufes, durch die Erwägung aufhalten lassen, dass …" Die Red.

E Wie wenig Martynow sich die Frage, über die er schreibt, überlegt hat, geht besonders anschaulich hervor (Im gedruckten Text: „Dass Martynow die von ihm untersuchte Frage nicht genügend überlegt hat, geht auch hervor…" Die Red.) aus der folgenden Stelle seines Artikels: „Da der Agrarteil unseres Programms noch sehr lange von verhältnismäßig geringer praktischer Bedeutung sein wird, so eröffnet er einen weiten Spielraum für die revolutionäre Phraseologie". Die unterstrichenen Worte enthalten eben den Wirrwarr, auf den im Text hingewiesen wird. Martynow hat gehört, dass man im Westen erst dann, wenn die Arbeiterbewegung einen hohen Grad der Entwicklung erreicht hat, mit einem Agrarprogramm auftritt. Bei uns aber ist diese Bewegung erst in den Anfängen. Folglich beeilt sich unser Schriftsteller, daraus zu schließen: „noch sehr lange"! Er hat eine Kleinigkeit nicht bemerkt: im Westen schreibt man Agrarprogramme, um die Halbbauern-Halbarbeiter zur sozial demokratischen Bewegung gegen die Bourgeoisie heranzuziehen, bei uns – um die Bauernmassen für die demokratische Bewegung gegen die Überreste der Leibeigenschaft zu gewinnen. Die Bedeutung des Agrarprogramms wird darum im Westen eine um so größere sein, je mehr die Entwicklung des landwirtschaftlichen Kapitalismus fortschreitet. Unser Agrarprogramm (Im gedruckten Text ist hinzugefügt „aber". Die Red.) wird im überwiegenden Teil seiner Forderungen (Im gedruckten Text ist weiter hinzugefügt „im Gegenteil". Die Red.) von um so geringerer praktischer Bedeutung sein, je weiter die Entwicklung des landwirtschaftlichen Kapitalismus fortschreitet, – denn die Überreste der Leibeigenschaft, gegen die dieses Programm sich richtet, sterben sowohl von selber als auch unter dem Einfluss der Politik der Regierung ab. Unser Agrarprogramm ist darum praktisch hauptsächlich auf die unmittelbar nächste Zukunft, auf die Zeit vor dem Sturz der Selbstherrschaft berechnet. Der politische Umsturz in Russland wird auf jeden Fall und unvermeidlich so gründliche Änderungen der veraltetsten (Im gedruckten Text: „veralteten". Die Red.) Agrareinrichtungen herbeiführen, dass wir dann unbedingt gezwungen sein werden, unser Programm zu ändern. Martynow aber weiß nur eins genau: dass das Buch Kautskys gut ist (das ist richtig), und dass es genügt, nachzusprechen und abzuschreiben, was Kautsky sagt, ohne an die wichtigste Besonderheit Russlands in Hinsicht auf das Agrarprogramm zu denken (das ist ganz unsinnig). (Im gedruckten Text ist das Ende der Fußnote, beginnend mit den Worten: „Martynow aber" weggelassen. Die Red.)

14 Im gedruckten Text ist das Wort „nur" weggelassen. Die Red.

15 Im gedruckten Text ist das Wort „russischen" weggelassen. Die Red. **

F Wir sagen: „schaffen", denn die alten russischen Revolutionäre haben der Frage der Republik nie ernste Aufmerksamkeit gewidmet, haben sie nie als eine „praktische" Frage betrachtet, – die Volkstümler, die Rebellen usw., weil sie der Politik mit anarchistischer Missachtung gegenüberstanden, die Leute der „Narodnaja Wolja", weil sie von der Selbstherrschaft schnurstracks zur sozialen Revolution hinüber springen wollten. Es blieb (wenn man nicht von den längst vergessenen republikanischen Auffassungen der Dekabristen sprechen will), uns Sozialdemokraten vorbehalten, die Forderung der Republik in den Massen zu propagieren und die republikanische Überlieferung in den Kreisen der russischen Revolutionäre zu schaffen.

G Es wird vielleicht nicht überflüssig sein, zur Frage der „Durchführbarkeit" der Forderungen des sozialdemokratischen Programms an die Polemik Karl Kautskys gegen Rosa Luxemburg im Jahre 1896 zu erinnern. Rosa Luxemburg schrieb, dass die Forderung der Wiederherstellung Polens in das praktische Programm der polnischen Sozialdemokraten nicht hineinpasse, da diese Forderung in der heutigen Gesellschaft nicht zu verwirklichen sei. Kautsky erwiderte ihr, dass diese Behauptung „auf einer seltsamen Verkennung des Wesens eines sozialistischen Programms beruht. Unsere praktischen Forderungen, mögen sie nun ausdrücklich in einem Programm formulierte oder stillschweigend akzeptierte ,Postulate' sein, werden nicht danach bemessen, ob sie unter den bestehenden Machtverhältnissen erreichbar sind, sondern danach, ob sie mit der bestehenden Gesellschaftsordnung vereinbar sind und ob ihre Durchführung geeignet ist, den Klassenkampf des Proletariats zu erleichtern und zu fördern und diesem den Weg zur politischen Herrschaft zu ebnen. Auf die augenblicklichen Machtverhältnisse nehmen wir dabei keine Rücksicht. Ein sozialdemokratisches Programm wird nicht für den Augenblick gemacht, es soll möglichst für alle Eventualitäten in der heutigen Gesellschaft ausreichen. Und es soll nicht bloß der Aktion sondern auch der Propaganda dienen, es soll in der Form konkreter Forderungen anschaulicher, als es abstrakte Ausführungen vermögen, die Richtung angeben, in der wir zu marschieren gedenken. Je weiter wir uns dabei unsere praktischen Ziele stecken können, ohne uns in utopistische Spekulationen zu verlieren, um so besser. Um so klarer wird für die Massen – auch für jene, die nicht imstande sind, unsere theoretischen Grundlegungen zu erfassen – die Richtung, die wir verfolgen. Das Programm soll zeigen, was wir von der heutigen Gesellschaft oder vom heutigen Staat verlangen, nicht das was wir von ihnen erwarten. Nehmen wir z. B. das Programm der deutschen Sozialdemokratie. Es fordert die Wahl der Behörden durch das Volk. Diese Forderung ist, wenn man den Maßstab des Frl. Luxemburg anlegen will, ebenso utopistisch wie die der Herstellung eines polnischen Nationalstaates. Niemand wird sich der Täuschung hingeben, dass die Wahl der Staatsbeamten durchs Volk im Deutschen Reiche unter den politischen bestehenden Verhältnissen erreichbar sei. Mit demselben Rechte, mit dem man annehmen könnte, der polnische Nationalstaat sei erst durchführbar wenn das Proletariat die politische Macht erobert hat, könnte man dieses von der genannten Forderung behaupten. Wäre dies ein Grund, sie nicht in unser praktisches Programm aufzunehmen? „Neue Zeit", XIV, 2. Bd. S 513 u 514. Alle Sperrungen von Kautsky.

16 Im gedruckten Text ist das Wort „gerade" weggelassen. Die Red.

H Alle Irrtümer der „Kritiker" des Marxismus in der Agrarfrage laufen eigentlich auf das Nichtverstehen dieses Punktes hinaus und der kühnste, entschiedenste (und insofern auch der ehrlichste) von ihnen, Herr Bulgakow, erklärt in seiner „Untersuchung" offen, dass die „Lehre" vom Klassenkampf auf die landwirtschaftlichen Verhältnisse .durchaus nicht anwendbar sei. (Im gedruckten Text: „dass hier, auf dem flachen Lande, wohl die individuelle Ausbeutung besteht, aber kein Platz für den Klassenkampf als gesellschaftliche Erscheinung vorhanden ist". Die Red.) („Kapitalismus und Landwirtschaft", Bd. II, S. 289.)

17 Im gedruckten Text: „alle Anstrengungen darauf zu richten". Die Red.

I Selbstverständlich verteidigt auch das Proletariat nicht alle Maßnahmen, die den bürgerlichen Fortschritt beschleunigen, sondern nur diejenigen, die die Erhöhung der Fähigkeit der Arbeiterklasse zum Kampfe für ihre Befreiung unmittelbar beeinflussen. Die „Abarbeit" und die Knechtschaft lasten auf dem besitzlosen und dem Proletariat nahestehenden Teil der Bauernschaft in weit höherem Maße als auf ihrem wohlhabenden Teil.

18 Im gedruckten Text: „sagen". Die Red.

J Wir stellen die Halbheit Nadjeschdins fest (oder hat er nicht alles zu Ende ausgesprochen?), der in seinem Entwurf zum Agrarprogramm anscheinend den Gedanken der „Iskra" über die Bauernkomitees übernimmt, aber diesen Gedanken sehr schlecht ausdrückt, wenn er sagt: „Die Gründung eines besonderen Gerichtes aus Volksvertretern, das den Zweck haben soll, die Beschwerden der Bauern und ihre Mitteilungen über alle Eingriffe, die die ,Befreiung' begleiteten, zu untersuchen" („Kamm Rewoluzii" – „Der Vorabend der Revolution", S. 65, gesperrt von mir). Nur gegen die Verletzung des Gesetzes kann man Beschwerde führen. Die „Befreiung" vom 19. Februar mit allen ihren „Eingriffen" ist selbst ein Gesetz. Die Gründung besonderer Gerichte zur Untersuchung der Beschwerden über die Ungerechtigkeit (im gedruckten Text: „Unrichtigkeit". Die Red.) eines bestimmten Gesetzes hat keinen Sinn, solange dieses Gesetz nicht aufgehoben ist, solange keine neuen Gesetzesnormen dieses Gesetz (oder einzelne seiner Teile) ersetzen. Man muss dem „Gericht" nicht nur das Recht geben, die Beschwerden über die Abtrennung des Weidelandes entgegenzunehmen, sondern auch das Recht, dieses Weideland zurückzugeben (oder abzulösen usw.). Dann aber wird, erstens, dieses „Gericht", das die Vollmacht hat, Gesetze zu schaffen, kein Gericht mehr sein; zweitens muss genau festgestellt werden, welche Rechte der Enteignung, der Ablösung usw. ein solches „Gericht" hat. Aber wie unglücklich die Fassung Nadjeschdins auch ist, die Notwendigkeit einer demokratischen Revision der Bauernreform hat er viel besser erkannt als Martynow.

19 Im gedruckten Text ist der Satz, beginnend mit den Worten „Darum müsste" bis „wie er sie sich vorstellt" weggelassen. Die Red.

20 Im gedruckten Text: „wobei das Recht (3) der Enteignung und Ablösung sich gerade auf den Boden erstreckt, der …" Die Red.

21 Im gedruckten Text ist der ganze Absatz weggelassen. Die Red.

22 Im gedruckten Text ist der ganze Absatz weggelassen. Die Red.

K Martynow z. B. wirft der „Iskra", die auch ihm sowohl die Grundlagen für seine Agrarpolitik („das Hineintragen des Klassenkampfes in das Dorf") als auch die praktische Lösung der Frage der konkreten Programmforderungen gegeben hat, Phrasendrescherei vor. Ohne diese allgemeine Grundlagen durch irgendwelche andere ersetzt zu haben, ohne über diese Grundlagen auch nur nachgedacht zu haben, ohne den Versuch gemacht zu haben, an der Ausarbeitung eines bestimmten Programms zu arbeiten, beschränkt sich Martynow auf folgenden herrlichen Satz: „Wir müssen ihren (der Bauern, als Kleineigentümer) Schutz … gegen die verschiedenen rückständigen Formen der wirtschaftlichen Knechtung fordern…" wird das nicht etwas zu billig sein? Wollen Sie nicht versuchen, uns unmittelbar, wenn auch nur eine Form des Schutzes gegen, wenn auch nur eine rückständige Form der Knechtung (und nicht gegen die „verschiedenen"!) zu zeigen? (Anscheinend gibt es auch nicht rückständige „Formen der Knechtung"!!) Auch die kleinen Kredite, die Molkereien, die Darlehns- und Spargenossenschaften, die Verbände der kleinen Landwirte, die Bauernbanken und die Semstwo-Agronomen, – das alles ist doch auch ein „Schutz gegen die verschiedenen Formen der rückständigen wirtschaftlichen Knechtung". Sie sind also der Meinung, dass wir das alles „fordern müssen"?? Erst muss man überlegen, mein Lieber, und dann erst vom Programm reden! (Die Worte: „Ohne über diese Grundlagen auch nur nachgedacht zu haben", „herrlichen" und der letzte Satz von den Worten: „Erst muss man" usw. sind im gedruckten Text weggelassen. Die Red.)

23 Eine im Jahre 1872 eingesetzte Kommission, unter dem Vorsitz des Ministers Walujew, zum Studium der Lage der Landwirtschaft in Russland. Die Red.

24 Im gedruckten Text: „gut unterrichtete Leute in den 70er Jahren". Die Red.

25 Im gedruckten Text ist „leicht" weggelassen. Die Red. f

26 Im gedruckten Text: „unmittelbar". Die Red.

27 Im gedruckten Text: „die nicht typischen Fälle können durch kein allgemeines Gesetz erfasst werden, und die Entscheidung muss in diesen Fällen dem Gutdünken der örtlichen Komitees überlassen werden (die die Ablösung, den Austausch von Bodenstücken usw. anwenden können)". Die Red.

28 Im gedruckten Text ist „sozial" weggelassen. Die Red.

29 Im gedruckten Text: anstatt „bereits" – „sogar". Die Red.

30 Im gedruckten Text: „die Bauernschaft". Die Red.

31 Im gedruckten Text: „sozialdemokratische". Die Red

32 Im gedruckten Text: „Auch diese Erwägung verrät sofort die erstaunliche Kurzsichtigkeit des ,Ökonomisten' ". Die Red.

33 Im gedruckten Text ist „damit und" weggelassen. Die Red.

34 Im gedruckten Text: „müsst uns das". Die Red.

35 Im gedruckten Text sind die Worte „der Überreste" weggelassen. Die Red.

36 = reinen Blutes. Die Red.

37 Im gedruckten Text sind die Worte „die Herren Tschernow und" weggelassen. Die Red.

38 Im gedruckten Text: „Da sie nicht imstande sind". Die Red.

39 Im gedruckten Text: „Und die bäuerliche .Schwarze Umteilung' fordern". Die Red.

40 Im gedruckten Text: „Diese Betrachtung beruht auf der Verwechslung der Konsequenz mit einer zu einseitigen Gradlinigkeit". Die Red.

41 Im gedruckten Teil sind die Worte „zweideutigen und" weggelassen. Die Red.

L Sehr richtig hat Kautsky in einem seiner Aufsätze gegen Vollmar bemerkt: „Die vorgeschrittenen Arbeiter Englands dürfen die Verstaatlichung des Grund und Bodens verlangen. Wohin würde es dagegen führen, wenn der ganze Grund und Boden des Militär- und Polizeistaats Deutschland zu einer Domäne würde? Die Verwirklichung dieser Art Staatssozialismus finden wir, wenigstens zum großen Teil – in Mecklenburg" („Vollmar und der Staatssozialismus", „Neue Zeit", 1891/92, X., 2. Band, S. 710).

42 Die vier letzten Absätze, beginnend mit den Worten „Eine andere Sache ist die Nationalisierung des Grund und Bodens" bis zu den Worten „hat hier Nadjeschdin auf den dunklen Weg der reaktionären kleinbürgerlichen Utopie getrieben" sind im gedruckten Text weggelassen. Die Red.

43 Im gedruckten Text sind die Worte „immer häufiger" weggelassen. Die Red.

44 Im gedruckten Text sind die Worte „kulturellen und" weggelassen. Die Red.

45 Im gedruckten Text: „Annäherung". Die Red.

46 Im gedruckten Text sind die Worte in der Klammer weggelassen. Die Red.

M Hinsichtlich der Verpachtung dieser beschlagnahmten Güter müsste die Sozialdemokratie schon jetzt keine besondere Bauernpolitik, sondern eben die Politik machen, die wir oben, in den Ausführungen gegen Nadjeschdin, angedeutet haben. (Im gedruckten Text ist diese Fußnote weggelassen. Die Red.)

47 Der Satz von „Sie wäre eben eine solche" bis „des ,Staatssozialismus' führen würde" ist im gedruckten Text weggelassen. Die Red.

N An diesem Prüfstein müssen die in Russland zahlreichen Radikalen (und sogar die Revolutionäre aus dem „Wjestnik Russkoi Rewoluzii") erprobt werden, die dazu neigen, in dieser Frage zwischen zwei Stühlen zu sitzen.

48 Der Absatz von den Worten „Wir antworten darauf" bis zu den Worten „dieser Freiheit nicht widerspricht" heißt im gedruckten Text folgendermaßen:

Ein solcher Einwand wäre unbegründet. Unsere Forderungen zerstören die genossenschaftliche Vereinigung nicht, sondern sie schaffen, im Gegenteil, an Stelle der veralteten (de facto halb leibeigenschaftlichen) Macht der Gemeinde über den Bauer – die Macht des modernen Genossenschaftsverbandes über die ihm freiwillig beitretenden Mitglieder." Die Red.

O Kautsky z. B. betrachtet es als richtig, folgendes zu verlangen: „Die Einschränkung der Rechte des Privateigentums am Boden zur Förderung 1. der Separation, der Aufhebung der Gemengelage; 2. der Landeskultur; 3. der Seuchenverhütung" („Die Agrarfrage", S. 437). Solche vollkommen berechtigte Forderungen stehen mit der Bauerngemeinde in keiner Verbindung und sollen in keine Verbindung mit ihr gebracht werden.

49 Im gedruckten Text: „in Russland überhaupt und im russischen Dorfe im besonderen". Die Red.

50 Im gedruckten Text: „zu demselben Ziele führt". Die Red.

51 Im gedruckten Text sind die Worte „sich hinziehenden, erschreckend langwierigen" weggelassen. Die Red.

52 Im gedruckten Text ist „bereits" weggelassen. Die Red.

53 Im gedruckten Text ist weiter das Wort „stets" hinzugefügt. Die Red.

54 Im gedruckten Text: „anzutreiben". Die Red.

55 Die Nachschrift ist dem gedruckten Text hinzugefügt worden, im Manuskript ist sie nicht vorhanden. Die Red.

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