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Wladimir I. Lenin 19030930 Brief an A. M. Kalmykowa

Wladimir I. Lenin: Brief an A. M. Kalmykowa

[Geschrieben am 30. (17.) September 1903 Zum ersten Mal veröffentlicht 1927 im „Leninskij Sbornik" Nr. 6. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1930, Band 6, S. 79-81]

Sie schreiben: „Ich lebe zu lange auf der Welt, um nicht zu wissen, dass in solchen Fällen die Wahrheit nicht nur auf der einen Seite, sondern auf beiden Seiten ist." Möglich. Das Schlimme ist nur, dass jene „Seite" sich die neue Lage, den neuen Boden nicht vergegenwärtigt und verlangt, was vorher mit Leichtigkeit (wenn auch nach monatelangem Zank) erreicht wurde, was aber jetzt undurchführbar ist. Die Grundlage ist eine andere geworden, das ist ein fait accompli1; sie aber lassen sich immer noch vor allem davon leiten, wie beleidigend dies und jenes auf dem Parteitag gewesen sei, wie toll Lenin sich benommen habe usw. Das ist wahr, ich bestreite es nicht, und ich habe in einem Brief an Starowjer meine „tolle Wut" offen zugegeben. Aber wesentlich ist, dass die durch „wütenden" Kampf erzielten Ergebnisse keineswegs toll sind. Jene Seite aber kämpfte wegen der „tollen Wut" gegen die Ergebnisse selber, gegen die unumgänglichen und notwendigen Ergebnisse. Sie aber wussten schon seit langem, worauf das hinauslaufen sollte. Sie wissen noch, wie Sie der festen Überzeugung Ausdruck gaben, dass einige „Alte" stören werden, und Sie werden natürlich nicht daran zweifeln, dass das unglückselige „Dreierkollegium" keine böse Absicht war, kein Jakobiner-Umsturz, sondern der unmittelbare, natürliche und beste, wirklich bei Gott der beste Ausweg aus einer drei Jahre währenden „Zerfleischung". Das Dreierkollegium ruht auf drei Winkeln und nimmt der Zerfleischung jeden Boden. Sie wissen, wohin Martow+Starowjer+Sassulitsch die Empfindsamkeit führte und die „persönliche (anstatt der politischen) Einstellung, als sie z. B. einen Genossen wegen einer Angelegenheit rein persönlicher Art politisch fast ganz „erledigten"2. Ohne Zögern stellten Sie sich damals auf die Seite der „Gewaltmenschen und Unmenschen". Das war doch aber ein ganz, ganz typischer Fall. Auch jetzt ist doch die Wurzel dieselbe, dieselbe Vermengung des persönlichen mit dem politischen, derselbe Verdacht, wir wollten persönlich anschwärzen, obgleich wir nur politisch Verschiebungen (und Umstellungen) vornehmen wollten. Und wenn Sie mir sagen: auch Sie müssen Schuld haben, – so antworte ich: ich denke nicht daran, meine persönliche Schuld zu leugnen, aber es ist nicht angängig, darum eine politische Korrektur zu verlangen. Darin liegt eben die Ausweglosigkeit, die vollkommene Ausweglosigkeit der Lage, dass sie wegen der persönlichen Kränkung, der persönlichen Unzufriedenheit mit der Zusammensetzung der zentralen Körperschaften eine politische Korrektur verlangen. Tout ce que vous voulez, mais pas ca!3 Wenn man aber die politische Meinungsverschiedenheit als Ursache ansieht (wie manche möchten), ist es dann nicht lächerlich, um des „Friedens" willen die Kooptation einer größeren Zahl oder auch nur einer gleichen Zahl politischer Gegner zu verlangen? Lächerlich – nec plus ultra!4

Der von mir erwähnte kleine Fall aus einer langen Reihe von Zerwürfnissen ist nicht nur in seinem Wesen, sondern auch in der Form seines Ausgangs typisch. Wissen Sie, wie wir damals die Oberhand gewannen? Wir waren in der Minderheit, gesiegt aber haben wir durch unsere Hartnäckigkeit, durch die Androhung, die Sache „vor allen" auszutragen. Und nun denken sie: jetzt machen wir es ebenso. Schlimm ist nur, dass jetzt nicht damals ist. Jetzt ist die formale Grundlage nicht zu beseitigen! Wäre diese formale Grundlage nicht vorhanden, – warum dann jetzt nicht auch sechs Mitglieder, wenn die Leute sich schon in einen solchen Siedezustand hineingeredet haben! Drei Jahre lang haben wir uns gequält – quälen wir uns noch drei Jahre; wir haben nicht mit Stimmenmehrheit, sondern durch Hartnäckigkeit Dinge durchgesetzt, – tun wir das auch fernerhin. Das aber ist jetzt nicht möglich – darin liegt eben das Wesentliche. Diese Veränderung aber will man hartnäckig nicht sehen und begreifen. Das eben macht die Lage ausweglos. Jetzt steht das Dilemma unerbittlich: entweder wir gehen in der Personenfrage auseinander, dann ist es lächerlich, aus diesem Grunde einen politischen Skandal hervorzurufen und die Arbeit niederzulegen. Oder die Meinungsverschiedenheit ist eine politische, – dann ist es noch lächerlicher, sie „korrigieren" zu wollen, indem man bestimmte Leute einer andern, sagen wir, Schattierung aufzwingt.

Jetzt sind sie (angeblich) der Meinung, der zweite Fall sei eingetreten. Dann müsste aber Martow dem Dreierkollegium angehören und der Partei die Fehler der andern beiden Mitglieder des Kollegiums nachweisen: anders als durch die Mitarbeit im Kollegium kann man keine Unterlagen für die Aufdeckung der Fehler und für die Warnung der Partei vor diesen Fehlern erlangen. Sonst sind diese Anschuldigungen – leerer Parteiklatsch5, für die Zukunft berechnet.

Ist man der Meinung, der erste Fall liege vor, dann sollte man sein Gekränktsein auch nicht bis zur Einstellung der Arbeit treiben, in der Arbeit aber wird die „tolle Wut" rasch vergessen werden. Es gibt keine ausweglosere Sackgasse als die Sackgasse der Entfernung von der Arbeit.

1 eine vollendete Tatsache. Die Red.

2 Es handelt sich hier anscheinend um eine Angelegenheit aus dem Privatleben N. Baumanns während seines Aufenthalts in der Verbannung.

3 alles was ihr wollt, aber nicht das! Die Red.

4 im höchsten Grade. Die Red.

5 „Parteiklatsch" bei Lenin deutsch. Die Red.

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