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Wladimir I. Lenin 19030913 Brief an А. N. Potressow

Wladimir I. Lenin: Brief an А. N. Potressow

[Geschrieben am 13. September (31. August) 1903 Veröffentlicht in unvollständiger Form im Jahre 1904 in der Broschüre Lenins: „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", ungekürzt – im Jahre 1927 im „Leninskij Sbornik" Nr. 6 Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1930, Band 6, S. 47-50]

Ich habe versucht, mich dieser Tage, als die Atmosphäre der herannahenden Spaltung sich vollständig geklärt hatte, mit Julij Ossipowitsch zu unterhalten, und ich will auch versuchen, mich mit Ihnen zu unterhalten, in der Hoffnung, dass Sie, ebenso wie Julij Ossipowitsch, nicht abgeneigt sein werden, den Versuch einer Aussprache zu machen. Wenn diese Hoffnung unbegründet ist, so werden Sie mir das natürlich mitteilen, vorläufig aber will ich doch alles tun, was ich für notwendig halte.

Die Tatsache, dass Martow es ablehnt, Mitglied der Redaktion zu sein, dass er und andere Parteiliteraten es ablehnen, mitzuarbeiten, dass eine ganze Reihe von Genossen nicht im Zentralkomitee arbeiten wollen, dass für die Idee des Boykotts oder der passiven Resistenz Propaganda gemacht wird – all das wird unweigerlich, sogar gegen den Willen Martows und seiner Freunde, zu einer Spaltung der Partei führen. Selbst wenn Martow sich auf loyalem Boden halten wird (auf den er sich auf dem Parteitag so entschieden gestellt hat), werden die andern sich nicht so halten können, – und das Ende, auf das ich hingewiesen habe, wird nicht zu vermeiden sein (übrigens schreibt auch die Tante nicht umsonst von der „Gründung eines neuen Herdes").

Und nun frage ich mich: aus welchem Grunde sollen wir für das ganze Leben als Feinde auseinandergehen? Ich überdenke alle Ereignisse und Eindrücke des Parteitages, ich gebe zu, dass ich oft in fürchterlicher Gereiztheit, in Wut gehandelt habe und vorgegangen bin, ich bin gern bereit, jedem beliebigen Genossen gegenüber diese meine Schuld zu bekennen, – wenn man als Schuld bezeichnen kann, was durch die Atmosphäre, als Reaktion, hervorgerufen wurde. Aber wenn ich jetzt ohne jede Wut die erreichten Resultate, das in wütendem Kampf Durchgesetzte betrachte, so kann ich in den Ergebnissen nichts, absolut nichts Schädliches für die Partei und absolut nichts Kränkendes oder Beleidigendes für die Minderheit erblicken.

Natürlich musste schon das allein kränkend sein, dass man in der Minderheit bleiben musste, aber ich protestiere entschieden gegen den Gedanken, dass wir irgend jemand „verunglimpft" hätten, dass wir irgend jemanden beleidigen oder erniedrigen wollten. Keineswegs. Und es darf nicht zugelassen werden, dass die politischen Meinungsverschiedenheiten zu einer Auslegung der Ereignisse führen, die darauf hinausgeht, der anderen Seite Gewissenlosigkeit, Niedertracht, Intrigantentum und andere nette Dinge vorzuwerfen, von denen man in der Atmosphäre der herannahenden Spaltung immer häufiger zu hören bekommt. Das darf nicht zugelassen werden, denn das ist nec plus ultra1 unvernünftig.

Wir haben politische (und organisatorische) Meinungsverschiedenheiten mit Martow, – wie wir sie schon Dutzende von Malen gehabt haben. Besiegt in der Frage des § 1 des Statuts, konnte ich nicht umhin, mit aller Energie nach einer Revanche in allen übrigen Fragen, die mir (und dem Parteitag) geblieben waren, zu streben. Ich konnte nicht umhin, erstens ein streng iskristisches Zentralkomitee anzustreben, anderseits – ein Redaktions-Dreierkollegium, das auch die Grundlage unserer alten, ausweglosen Streitigkeiten beseitigt, das Leute vereinigt, von denen jeder seine politische Linie hat, von denen jeder, „ohne auf die Person zu schauen", nur nach innerster Überzeugung seine Beschlüsse fasst und stets fassen wird. Ich habe (in meinem Gespräch mit Ihnen und mit Julij Ossipowitsch über das Dreierkollegium vor dem Parteitag) gesagt, meiner Meinung nach sei der Umstand für die Sache am schädlichsten, dass im Sechserkollegium ein ewig abwesendes Mitglied vorhanden sei2, ich war schon damals empört, tief empört über das übermäßig persönliche Verhalten der Sassulitsch (wenn Julij Ossipowitsch das auch vergessen hat), ich habe ganz klar gesagt (als Sie das Dreierkollegium nannten, das bei der Wahl die größten Aussichten hatte), dass auch ich diese Zusammensetzung für die wahrscheinlichste halte und dass ich nichts Schlimmes darin sehen würde, wenn das Dreierkollegium allein bliebe, – ohne sich über eine Kooptation einigen zu können (obgleich wir damals eine der möglichen Kooptationen im Auge hatten). Julij Ossipowitsch hat auch diese meine letzte Erklärung vergessen, die ich sehr gut im Gedächtnis habe. Aber hierüber zu streiten wäre natürlich nutzlos. Nicht das ist wichtig, wichtig ist, dass bei einem solchen Dreierkollegium ein so qualvoller, langwieriger, auswegloser Streit, wie wir ihn zu Beginn unserer „Iskra"-Arbeit im Jahre 1900 und später noch wiederholt gehabt haben, und der uns monatelang arbeitsunfähig machte, – dass ein solcher Streit ganz unmöglich wäre. Und darum betrachte ich dieses Dreierkollegium als das einzig geeignete, eine offizielle Körperschaft darzustellen – und nicht ein Kollegium, das auf Familienwirtschaft und Nachlässigkeit beruht –, als die einzige wirkliche Zentralinstanz, in der, ich wiederhole es, jeder stets seinen Parteistandpunkt vorbringen und vertreten könnte, um kein Haar mehr und irrespektive3 von allem Persönlichen, von allen Erwägungen über Kränkung oder Rücktritt.

Nach den Ereignissen auf dem Parteitag legalisierte dieses Dreierkollegium zweifellos eine politische und organisatorische Linie, die sich in einer Beziehung gegen Martow richtete. Zweifellos. Darum brechen? Darum die Partei zerschlagen?? Waren denn in der Frage der Demonstrationen Martow und Plechanow nicht gegen mich? Waren denn in der Frage des Programms nicht Martow und ich gegen Plechanow? Ist denn nicht jedes Dreierkollegium stets mit einer Seite gegen jeden Beteiligten gerichtet? Wenn die Mehrheit der Iskristen sowohl in der „Iskra"-Organisation als auch auf dem Parteitag eben diese besondere Schattierung der Martowschen Linie in organisatorischer und politischer Beziehung für falsch gehalten hat, sind dann nicht tatsächlich die Versuche, dies durch irgendeine „Schiebung" oder eine „Hetze" usw. zu erklären, der reine Wahnsinn? Wäre es nicht wahnsinnig, sich über diese Tatsache dadurch hinwegsetzen zu wollen, dass man die Mehrheit „Pack" schimpft?

Ich wiederhole: ich wie auch die Mehrheit der Iskristen auf dem Parteitag haben die tiefe Überzeugung gewonnen, dass Martow einen falschen Standpunkt bezogen hat, und dass dieser korrigiert werden musste. Aus dieser Korrektur eine Kränkung zu konstruieren, hieraus eine Beleidigung abzuleiten, ist unvernünftig. Wir haben niemanden irgendwie „verunglimpft", tun das auch jetzt nicht und entfernen niemand von der Arbeit. Wegen der Entfernung aus einer zentralen Körperschaft aber eine Spaltung hervorrufen zu wollen, das wäre ein für mich unerklärlicher Wahnsinn.

1 im höchsten Grade. Die Red.

2 Das „ewig abwesende Mitglied des Sechserkollegiums" war Р. B. Axelrod.

3 unabhängig. Die Red.

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