Vorwort

Vorwort

Wenn ein langwieriger, hartnäckiger, heißer Kampf vor sich geht, so pflegen sich gewöhnlich nach Ablauf einer gewissen Zeit die im Mittelpunkt stehenden, grundlegenden Streitfragen herauszukristallisieren, von deren Lösung der endgültige Ausgang des Feldzuges abhängt und im Vergleich mit denen die verschiedenen kleinen und geringfügigen Kampfepisoden immer mehr und mehr in den Hintergrund treten.

So verhält es sich auch mit unserm innerparteilichen Kampf, der bereits seit einem halben Jahr die Aufmerksamkeit aller Parteimitglieder fesselt. Und gerade weil ich in dem vorliegenden Abriss des gesamten Kampfes viele Kleinigkeiten, die von geringfügigem Interesse sind, viele Streitigkeiten, die im Grunde genommen gar kein Interesse bieten, berühren musste, eben deswegen möchte ich von Anfang an die Aufmerksamkeit des Lesers auf zwei wirklich zentrale, grundlegende Fragen lenken, die von größtem Interesse sind, die zweifellos geschichtliche Bedeutung haben und die dringendsten politischen Fragen in der Tagesordnung unserer Partei darstellen.

Die erste dieser Fragen ist die Frage der politischen Bedeutung jener Teilung unserer Partei in eine „Mehrheit" und eine „Minderheit", die auf dem 2. Parteitag entstanden ist und alle früheren Teilungen der russischen Sozialdemokraten weit in den Hintergrund gerückt hat.

Die zweite Frage ist die Frage der prinzipiellen Bedeutung der Stellung der neuen „Iskra" zu den organisatorischen Fragen, soweit diese Stellung eine wirklich grundsätzliche ist.

Die erste Frage ist die Frage nach dem Ausgangspunkt unseres Parteikampfes, nach seiner Quelle, seinen Ursachen, seinem entscheidenden politischen Charakter. Die zweite Frage ist die Frage der Endergebnisse dieses Kampfes, seines Ausganges, jenes prinzipiellen Fazits, das sich ergibt, wenn man alles zusammenfasst, was in das Gebiet der Prinzipien gehört, und alles beiseite lässt, was in das Bereich des Gezänks fällt. Die erste Frage wird gelöst durch eine Analyse des Kampfes auf dem Parteitag, die zweite durch eine Analyse des neuen prinzipiellen Inhaltes der neuen „Iskra". Sowohl die eine wie die andere Analyse, die den Inhalt von neun Zehnteln meiner Broschüre ausmachen, führen zu der Schlussfolgerung, dass die „Mehrheit" der revolutionäre, die „Minderheit" der opportunistische Flügel unserer Partei ist. Die Meinungsverschiedenheiten, die diese beiden Flügel augenblicklich voneinander trennen, laufen hauptsächlich nicht auf programmatische und nicht auf taktische, sondern nur auf organisatorische Fragen hinaus. Das neue System von Anschauungen, das in der neuen „Iskra" um so deutlicher zum Ausdruck kommt, je mehr sie ihre Stellung zu vertiefen sucht und je mehr diese Stellung frei wird von dem Gezänk aus Anlass der Kooptation, ist der Opportunismus in organisatorischen Fragen.

Den Hauptmangel der vorhandenen Literatur über unsere Parteikrise bildet auf dem Gebiete der Untersuchung und Beleuchtung der Tatsachen das fast völlige Fehlen einer Analyse der Parteitagsprotokolle; auf dem Gebiete der Klärung der entscheidenden Prinzipien in der organisatorischen Frage aber das Fehlen einer Analyse jenes Zusammenhangs, der zweifellos besteht zwischen dem Grundfehler der Genossen Martow und Axelrod in der Formulierung des ersten Paragraphen des Parteistatuts und in der Verteidigung dieser Formulierung einerseits und anderseits in dem ganzen „System" (soweit hier von einem System überhaupt die Rede sein kann) der jetzigen grundsätzlichen Auffassungen der „Iskra" in der Organisationsfrage. Die jetzige Redaktion der „Iskra" bemerkt offenbar nicht einmal diesen Zusammenhang, obwohl die Bedeutung des Streites um den ersten Paragraphen in der Literatur der „Mehrheit" bereits wiederholt vermerkt wurde. Im Grunde genommen vertiefen, entwickeln und erweitern jetzt nur die Genossen Axelrod und Martow ihren ursprünglichen Fehler in Bezug auf den § 1. Im Grunde genommen begann die ganze Stellung der Opportunisten in der organisatorischen Frage bereits in den Diskussionen über den § 1 in Erscheinung zu treten: ihr Eintreten für eine verschwommene, nicht fest zusammengefügte Parteiorganisation, ihre Abneigung gegen den Gedanken (den „bürokratischen" Gedanken) des Aufbaues der Partei von oben nach unten, ausgehend vom Parteitag und der von ihm geschaffenen Körperschaften, ihr Bestreben, von unten nach oben zu gehen und jedem Professor, jedem Gymnasiasten und „jedem an einem Streik Beteiligten" das Recht zu geben, sich als Parteimitglied zu bezeichnen, ihre Feindseligkeit gegen den „Formalismus", der vom Parteimitglied die Zugehörigkeit zu einer von der Partei anerkannten Organisation verlangt, ihre Vorliebe für die Psychologie des bürgerlichen Intellektuellen, der bereit ist, nur „platonisch die organisatorischen Beziehungen anzuerkennen", ihre Nachgiebigkeit gegenüber opportunistischer Spitzfindigkeit und anarchistischen Phrasen, ihre Tendenz zum Autonomismus gegen den Zentralismus, – mit einem Wort all das, was jetzt in der neuen „Iskra" so üppige Blüten treibt und immer mehr und mehr die völlige und anschauliche Klärung des ursprünglich gemachten Fehlers fördert.

Was die Parteitagsprotokolle betrifft, so kann deren wahrhaft unverdiente Vernachlässigung nur erklärt werden durch die Überladung unserer Diskussionen mit Zänkereien, oder vielleicht auch durch die allzu große Menge allzu bitterer Wahrheiten in diesen Protokollen. Die Parteitagsprotokolle ergeben ein in seiner Art einziges und in der Genauigkeit, Vollständigkeit, Allseitigkeit, Reichhaltigkeit und Authentizität unersetzliches Bild der wirklichen Lage der Dinge in unserer Partei, ein Bild der Anschauungen, Stimmungen und Pläne, entworfen von den Teilnehmern der Bewegung selbst, ein Bild der bestehenden politischen Schattierungen innerhalb der Partei, ein Bild, das ihr Kräfteverhältnis, ihre Wechselbeziehungen und ihren Kampf zeigt. Gerade die Parteitagsprotokolle und nur diese Protokolle zeigen uns, inwieweit es uns gelungen ist, in Wirklichkeit alle Reste der alten, rein zirkelmäßigen Beziehungen abzustreifen und sie durch eine einheitliche, starke Parteibindung zu ersetzen. Jedes Parteimitglied ist verpflichtet, wenn es bewusst an den Arbeiten seiner Partei teilnehmen will, unsern Parteitag aufs Sorgfältigste zu studieren, – wirklich zu studieren, weil das bloße Lesen des Haufens von Rohmaterial, aus dem das Protokoll besteht, noch kein Bild von dem Parteitag gibt. Nur durch sorgfältiges und selbständiges Studium kann (und muss) man erreichen, dass die kurzen Zusammenfassungen der Reden, die trockenen Auszüge aus den Diskussionen, die kleinen Zusammenstöße, verursacht durch nebensächliche (scheinbar nebensächliche) Fragen, zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen werden, damit vor den Parteimitgliedern die Figur jedes wichtigen Redners wie lebendig erstehe, das ganze politische Antlitz jeder Gruppe der Parteitagsdelegierten klar werde. Der Schreiber dieser Zeilen wird seine Arbeit als nicht verloren betrachten, wenn es ihm gelungen ist, zu einem umfassenden und selbständigen Studium der Parteitagsprotokolle wenigstens den Anstoß gegeben zu haben.

Noch ein Wort über die Gegner der Sozialdemokratie. Sie frohlocken und sind schadenfroh über unsere Streitigkeiten; sie werden sich natürlich bemühen, einzelne Stellen aus meiner Broschüre, die den Mängeln und Fehlern unserer Partei gewidmet sind, für ihre Zwecke aus dem Zusammenhang zu reißen. Die russischen Sozialdemokraten haben bereits in genügend Schlachten gestanden, um sich durch diese Nadelstiche nicht beirren zu lassen und ihnen zum Trotz ihre Arbeit der Selbstkritik und der rücksichtslosen Enthüllung der eigenen Mängel fortzusetzen, die durch das Wachstum der Arbeiterbewegung unbedingt und unvermeidlich ihre Überwindung finden werden. Die Herren Gegner aber mögen versuchen, uns ein Bild der wahren Sachlage in ihren „Parteien" zu zeigen, das auch nur im entferntesten an das Bild heranreicht, das die Protokolle unseres 2. Parteitages wiedergeben!

Mai 1904

N. Lenin

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