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Wladimir I. Lenin 19050430 Der Verfassungsjahrmarkt

Wladimir I. Lenin: Der Verfassungsjahrmarkt

[Wperjod" Nr. 16, 17./30. April 1905 Gezeichnet K-w. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 326-331]

Bulygin beschäftigt sich jetzt, wie man in den Petersburger aristokratischen Kreisen mit Recht sagt, damit, Zeit zu gewinnen. Er sucht die vom Zaren versprochenen Reformen soweit als möglich zu verschleppen und sie auf Nichtigkeiten zu reduzieren, durch die die Macht des absolutistischen Zaren und der absolutistischen Bürokratie nicht im Geringsten verringert werden würde. Statt einer Verfassung bereitet er, worauf wir bereits einmal im „Wperjod" hingewiesen haben, eine beratende Kammer vor, ohne irgendwelche Rechte. Nun liegt die Bestätigung des von uns Gesagten vor – nämlich der Text des Bulyginschen Entwurfs, den ein deutsches liberales Blatt, die „Vossische Zeitung", veröffentlicht hat. Als Verfasser dieses Entwurfes werden, den Meldungen dieses Blattes zufolge, Bulygin, Jermolow, Schtscherbatow, Meschtscherski, Graf Scheremetjew und Fürst Urussow genannt. Der Inhalt des Entwurfes ist folgender:

Zur Begutachtung (nicht mehr!) und Ausarbeitung aller Gesetzentwürfe werden zwei Einrichtungen geschaffen: 1. ein Staatsbeirat (Gossudarstwennoje Sowjeschtschanije) und 2. eine Staatsversammlung (Gossudarstwennoje Sobranije). Das Recht der gesetzgeberischen Initiative gehört jedem Mitglied des Staatsbeirats, ferner Mitgliedern der Versammlung, wenn sich ihrer nicht weniger als 20 zusammenfinden. Die Gesetzesvorschläge werden von der Versammlung begutachtet und angenommen, dann gehen sie an den Staatsbeirat und gelangen schließlich zur Genehmigung an den Zaren. Der Zar entscheidet, in welcher Form die Gesetzentwürfe zum Gesetz erhoben werden sollen, oder er lehnt sie ganz ab.

Die Bulyginsche „Verfassung" beschränkt also den Absolutismus nicht im Mindesten, sie führt lediglich beratende Kammern ein: ein Oberhaus und ein Unterhaus! Das Oberhaus oder der Staatsbeirat setzt sich zusammen aus 60 gewählten Mitgliedern, die durch die Adelsversammlungen von 60 Gouvernements (darunter auch die polnischen) gewählt werden, ferner aus Personen des Beamten- und Offiziersstandes, die der Zar ernennt. Die Zahl der Mitglieder des Beirats darf 120 nicht überschreiten. Das Mandat der gewählten Mitglieder läuft drei Jahre. Die Verhandlungen des Beirats werden öffentlich oder hinter verschlossenen Türen geführt, je nach dem Ermessen des Beirats selbst.

Das Unterhaus oder die Staatsversammlung setzt sich zusammen nur aus gewählten Mitgliedern (die Minister und Ressortchefs haben Sitz und Stimme in beiden Kammern), und zwar: je 10 Vertreter aus jedem der 34 Gouvernements mit Semstwoinstitution (zusammen 340); je 8 Vertreter aus den 3 Gouvernements mit Semstwoinstitution, aber ohne Adelsversammlung (zusammen 24); je 8 aus den 9 nordwestlichen Gouvernements (72); je 5 aus den 10 polnischen Gouvernements (50); je 5 aus den 3 Ostseeprovinzen (15); 30 von Sibirien; 30 vom Kaukasus; 15 von Mittelasien und Transkaspien; 32 von Finnland; 20 von den Großstädten (Petersburg 6, Moskau 5, Warschau 3, Odessa 2, Łódź, Kiew, Riga und Charkow je einer); 10 von der orthodoxen Geistlichkeit; je einer der Katholiken, Lutheraner, Armenier, Mohammedaner und Juden. Insgesamt also 643 Mitglieder. Diese Versammlung wählt ein Ausführendes Komitee aus einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten und 15 Mitgliedern. Das Mandat gilt für die Dauer von drei Jahren. Das Ausführende Komitee ist eine dauernde Einrichtung; die Versammlung tagt nur zweimal im Jahre, nämlich Februar–März und Oktober–November. Die Sitzungen sind öffentlich oder geheim, nach Belieben der Versammlung. Die Mitglieder der Versammlung sind während der Dauer ihres Mandats unantastbar. Gewählt können nur werden russische Untertanen, nicht unter 25 Jahren, die russisch sprechen und schreiben können. Sie erhalten ein Gehalt von 3000 Rubel im Jahre.

Die Wahlen sollen in folgender Weise vor sich gehen. In den 34 Gouvernements mit Semstwoinstitution werden gewählt je 2 Vertreter von der Adelsversammlung, je 3 von der Gouvernements-Semstwoversammlung, einer von den Städten durch besondere Wahlmänner, 3 von den Bauern durch besondere Wahlmänner und einer von der Kaufmannschaft, ebenfalls durch Wahlmänner. Auf analogen Grundsätzen werden die Abgeordneten auch in den Gouvernements ohne Semstwoinstitution gewählt – wir verzichten auf die Wiedergabe all dieser albernen bürokratisch-polizeilichen Einrichtungen. Zur Illustration, wie die Organisation der indirekten Wahlen geplant ist, wollen wir nur die Wahlordnung für die bäuerlichen Abgeordneten in den Semstwogouvernements anführen.

Jede Wolost wählt je 3 Wahlmänner. Diese versammeln sich in der Kreisstadt, wo sie unter dem Vorsitz des Adelsmarschalls (!) ihrerseits drei Wahlmänner wählen. Diese Wahlmänner wiederum versammeln sich in der Gouvernementshauptstadt unter dem Vorsitz des Gouvernementsadelsmarschalls und wählen drei bäuerliche Abgeordnete, die nur Bauern sein dürfen. Die Wahlen sind somit dreistufig!

Herr Bulygin arbeitet nicht übel. Nicht umsonst bezieht er Gehalt vom Zaren. Seine Verfassung ist, wie der Leser sieht, ein reiner Hohn auf die Volksvertretung. Die absolutistische Macht wird, wie wir schon erwähnten, in nichts beschränkt. Beide Kammern tragen ausschließlich beratenden Charakter, zu entscheiden hat einzig und allein der Zar. Das bedeutet – ködern, aber nichts geben. Der Charakter der „Vertretung" ist erstens ein speziell adliger, gutsherrlicher. Die Adligen haben auf Grund der Wahlen die Hälfte der Stimmen im Oberhaus und ungefähr die Hälfte im Unterhaus (in den Gouvernements mit Semstwoinstitution werden von den 10 Abgeordneten aus jedem Gouvernement 2 direkt von den Adligen gestellt und 3 von den im Grunde ebenfalls adligen Semstwoversammlungen). Die Bauern sind bei den Wahlen bis zur Lächerlichkeit zurückgedrängt. Durch das dreistufige Wahlsystem wird das gemeine Volk vor seiner Zulassung zur Versammlung doppelt und dreifach gesiebt.

Am meisten beachtenswert ist zweitens die völlige Ausschaltung der Arbeiter. Die ganze Vertretung dieses Hammelparlaments ist auf dem ständischen Prinzip aufgebaut. Einen „Stand" der Arbeiter gibt es nicht und kann es nicht geben. Bei den Wahlen der städtischen Bevölkerung und der Kaufmannschaft wird durch die verschiedenen Kategorien der Wahlmänner die Industrie- und Handelsbourgeoisie heraus filtriert, dabei ist es äußerst lehrreich, dass diese Bourgeoisie im Vergleich zum Adel sogar doppelt benachteiligt wird. Die Zarendiener haben, wie man sieht, keine große Angst vor dem gutsherrlichen Liberalismus: sie sind scharf blickend genug, um hinter diesem oberflächlichen Liberalismus die tief konservative soziale Natur „eines brutalen Gutsherrn" zu erkennen.

Ein weitgehendes Bekanntmachen der Arbeiter und Bauern mit der Bulyginschen Verfassung wird außerordentlich nützlich sein. Man kann die wahren Bestrebungen und die Klassengrundlage der angeblich über den Klassen stehenden Zarenmacht kaum anschaulicher zeigen. Man kann sich schwerlich ein besseres Material für den Anschauungsunterricht über das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe vorstellen.

Interessant ist auch, die letzten Meldungen über die russischen politischen Parteien mit dieser gutsherrlich-bürokratischen kümmerlichen „Verfassung" zu vergleichen. Abgesehen von den extremen Parteien, den Terroristen und den Reaktionären, zählt ein englischer Korrespondent (der offenbar in der „Gesellschaft" verkehrt und deshalb das gemeine Volk, wie etwa die Arbeiter, nicht sieht) drei Parteien: 1. die Konservative oder panslawistische (das „slawophile" System ist: dem Zaren die Kraft der Macht, den Untertanen die Kraft der Meinung, d. h. eine Vertretungsversammlung mit nur beratender Stimme); 2. die liberale oder „opportunistische" Partei (ihr Führer ist Schipow, ihr Programm, wie das aller Opportunisten, „zwischen zwei Stühlen") und 3. die radikale oder (dieses „oder" ist charakteristisch!) konstitutionelle Partei, die die Mehrzahl der Semstwoleute, der Professoren „und Studenten" (?) umfasst. Ihr Programm ist allgemeines Wahlrecht und geheime Abstimmung bei den Wahlen.

Die Konservativen hätten sich jetzt zu einer Tagung in Petersburg versammelt, die Liberalen Anfang Mai in Moskau, die Radikalen zur selben Zeit in Petersburg. Die Regierungskreise betrachteten das allgemeine Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe als gleichbedeutend mit der „Proklamierung der Republik". Die „Radikalen" seien von allen Parteien die zahlreichste.

Der Bulyginsche Entwurf ist allem Anschein nach eben der Entwurf der konservativen Partei. Der Oswoboschdjenije-Entwurf ist sehr ähnlich dem Programm der „radikalen oder konstitutionellen" Partei (die in Wirklichkeit gar nicht radikal und mangelhaft konstitutionell ist). Die „liberale", Schipowsche Partei endlich will wahrscheinlich etwas mehr haben, als Bulygin bietet, und etwas weniger, als die Konstitutionalisten fordern.

Der Jahrmarkt geht glänzend. Man kommt gut ins Geschäft. Die honetten Herren der Gesellschaft fordern etwas mehr, die mit allen Wassern gewaschenen Herren Hofleute bieten etwas weniger. Alles geht darauf aus, dass die einen wie die andern im Preise nachgeben, und dann … das Geschäft perfekt machen, solange die Arbeiter und Bauern nicht eingegriffen haben.

Die Regierung treibt ein geschicktes Spiel: die Konservativen schreckt sie mit den Liberalen, die Liberalen schreckt sie mit den „radikalen" Oswoboschdjenije-Leuten, die Oswoboschdjenije-Leute mit der Republik. In die Sprache der Klasseninteressen und namentlich des Hauptinteresses – Ausbeutung der Arbeiter durch die Bourgeoisie – übersetzt, bedeutet dieses Spiel: ihr Herren Grundbesitzer und Kaufleute, wir wollen doch lieber handelseinig werden, wir wollen auf gütlichem Wege, schiedlich-friedlich, die Macht teilen, ehe es zu spät ist, ehe die wahre Volksrevolution losgebrochen ist, ehe das ganze Proletariat und die ganze Bauernschaft sich erhoben haben, die sich mit kümmerlichen Verfassungen, indirekten Wahlen und sonstigem bürokratischen Plunder nicht abspeisen lassen werden.

Das klassenbewusste Proletariat darf sich keine Illusionen machen. Nur in ihm, nur im Proletariat, das von der Bauernschaft unterstützt wird, nur in ihrem bewaffneten Aufstand, nur in ihrem verzweifelten Kampf unter der Losung „Freiheit oder Tod" liegt die Gewähr einer wirklichen Befreiung Russlands von der ganzen feudal-absolutistischen Ordnung.

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