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Wladimir I. Lenin 19050621 Die ersten Schritte des bürgerlichen Verrats

Wladimir I. Lenin: Die ersten Schritte des bürgerlichen Verrats

[Proletarij" Nr. 5 13./26. Juni 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 477-484]

Genf, Mittwoch, den 8./21. Juni

Der Telegraph brachte gestern die Meldung, dass am Montag eine Semstwodelegation von Nikolaus II. empfangen worden sei, der in Erwiderung auf die Reden des Fürsten Sergej Trubezkoi und des Herrn Fedorow sein Versprechen, die Volksvertreter einzuberufen, ausdrücklich bestätigt habe.

Um die Bedeutung dieses „Ereignisses" richtig zu würdigen, muss man vor allem einige Tatsachen, die in der Auslandspresse mitgeteilt worden sind, festhalten.

Am 24. und 25. Mai alten Stils tagten in Moskau drei Versammlungen von Vertretern der Semstwos und der Städte, etwa 300 Personen. In dem uns zur Verfügung stehenden, aus Russland zugestellten lithographierten Text der von ihnen angenommenen Petition an den Zaren und der Resolution ist die Zahl der Delegierten nicht angegeben, es wird darin lediglich erwähnt, dass an der Konferenz außer Semstwovertretern und Stadtverordneten auch noch Bürgermeister und Adelsmarschälle teilgenommen hätten. Die Vertreter des adligen Grundbesitzes und des städtischen Kapitals besprachen die politischen Schicksale Russlands. Die Diskussion war, wie die ausländischen Korrespondenten melden, sehr hitzig. Großen Einflusses erfreute sich die Partei Schipows – gemäßigt und reich an Verbindungen mit dem Hofe. Am radikalsten hielten sich die Provinzler, am gemäßigtesten die Petersburger; das „Zentrum" bildeten die Moskauer. Man überlegte jedes Wort der Petition, für die schließlich auch Petersburg stimmte. Die zustande gekommene Petition ist patriotisch und treu-untertänig gehalten. „Getrieben einzig und allein von heißer Liebe zum Vaterland", lassen die ehrenwerten Bourgeois „jeden Zwist und alle sie trennenden Meinungsverschiedenheiten" beiseite und wenden sich an den Zaren. Sie weisen auf die „große Gefahr für Russland und den Thron selbst" hin, die weniger von außen als von dem „inneren Bürgerkrieg" drohe. (Russland steht allerdings vor dem „Thron", unsere Patrioten wandten sich vor allem an den Thron, und drohen nur – privat und flüsternd – sich an das Volk zu wenden.) Wie üblich, ist die Petition voll von offizieller Heuchelei, die die Schuld auf die Berater des Zaren schiebt, auf die Entstellung seiner Absichten und Vorschriften, die zur Verstärkung der Polizeigewalt führe und verhindere, dass die „Stimme der Wahrheit" zum Throne dringe, usw. Das Ergebnis ist eine Bitte „ehe es zu spät ist", „ohne Verzug Volksvertreter einzuberufen, die zu diesem Behufe von allen Untertanen gleich und ohne Unterschied zu wählen sind". Die Volksvertreter sollen „im Einvernehmen" mit dem Zaren über die Frage, ob Krieg oder Frieden, entscheiden, und eine „erneuerte Staatsordnung (ebenfalls im Einvernehmen mit dem Zaren) festsetzen". Die Petition enthält also weder die exakte Forderung des angeblich von der „konstitutionell-demokratischen" Partei angenommenen allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe (die direkte und geheime Stimmabgabe ist ganz weggelassen und natürlich nicht zufällig) noch die Forderung irgendwelcher Garantien der Wahlfreiheit. Die Verfasser der Petition sagen wehleidig: „Die Unterdrückung der Person und der Gesellschaft, die Unterdrückung des Wortes und Willkürlichkeiten aller Art häufen sich und wachsen", aber Maßnahmen dagegen werden keine angegeben. „Im Einvernehmen" mit dem Zaren wächst die Willkür – im Einvernehmen mit dem Zaren möge die Staatsordnung „erneuert" werden … Die Vertreter der Bourgeoisie halten fest an der Theorie des „Kompromisses", natürlich nicht des Volkes, sondern der Bourgeoisie mit den Unterdrückern des Volkes.

Die Konferenz wählte eine Delegation zur Überreichung der Petition an den Zaren, bestehend aus den Herren Heyden, Golowin, Petrunkjewitsch, G. und N. Lwow, Peter und Pawel Dolgorukow. Kowalewski, Nowossilzew, Roditschew, Schachowskoi and Sergej Trubezkoi. Von Petersburg schlossen sich später der Audienz bei Nikolaus II. die Herren Korff, Nikitin und Fedorow an.

Die gleiche Konferenz nahm dann folgende Resolution, von der die ausländische Presse nichts meldet, die aber in dem russischen Flugblatt wiedergegeben ist, an:

Die Konferenz der vereinigten Gruppen der in den Semstwos und den Stadtverwaltungen Tätigen – durchdrungen, trotz der Meinungsverschiedenheiten über einzelne politische Fragen, von der gemeinsamen Überzeugung, dass die Grundursache der gegenwärtigen schweren inneren und äußeren Lage Russlands das bis heute unveränderte bürokratische Regime ist, welches die individuelle und gesellschaftliche Freiheit negiert, das Selbstbewusstsein und die Selbsttätigkeit des Volkes unterdrückt, die Bevölkerung von der Teilnahme am Staatsleben fernhält und eine durch nichts beschränkte und sich immer mehr verstärkende Willkür der verantwortungslosen Administration erzeugt; dass dieses Regime, das im Laufe von vielen Jahren Vergewaltigung, Lügen und Zersetzung in unser inneres Leben brachte, heute in verhängnisvoller Weise zur drohenden äußeren Gefahr geführt hat, indem es den Staat in einen verhängnisvollen Krieg hineinriss, im Verlauf desselben innere Wirren auslöste und förderte und das Land zu einer Reihe von Niederlagen führte, die mit der in der russischen Geschichte beispiellos dastehenden Vernichtung unserer Seestreitkräfte endeten; in der Erwägung, dass dieses Regime auf die Dauer nicht nur den inneren Frieden, die Ordnung und die Wohlfahrt des Volkes, sondern auch die Festigkeit des Thrones, die Integrität und äußere Sicherheit Russlands bedroht – erachtet zur Rettung des Landes als unbedingt notwendig:

1. unverzügliche Einberufung einer freigewählten Volksvertretung, die gemeinsam mit dem Monarchen über die Frage des Krieges und Friedens entscheiden und eine staatliche Rechtsordnung festsetzen soll;

2. sofortige Abschaffung der Gesetze, Institutionen, Bestimmungen und Verordnungen, die den Grundsätzen der Freiheit der Person, des Wortes, der Presse, der Vereins- und Versammlungsfreiheit zuwiderlaufen, und Verkündung einer politischen Amnestie;

3. sofortige Erneuerung des Bestandes der Administration durch Berufung von Personen zur Leitung der Zentralverwaltung, die der Sache der staatlichen Umgestaltung aufrichtig ergeben sind und der Gesellschaft Vertrauen einflößen."

In welchem Verhältnis diese Resolution zur Petition und zu den Aufträgen der Delegation steht, d. h. ob letztere sich verpflichtet hat, den Inhalt der Resolution mitzuteilen oder sie zusammen mit der Petition zu überreichen, ist unbekannt. Vielleicht ist die Petition das offizielle Dokument für den „Thron" und die Resolution das inoffizielle für das „Volk"?

Über den Charakter der Diskussion auf der Konferenz meldet der Korrespondent der französischen Zeitung „Le Matin1, Herr Gaston Leroux, dass die „fortschrittlichsten" Delegierten, die Semstwoleute aus der Provinz, für zweistufige Wahlen eingetreten seien, weil sie befürchteten, dass bei direkten Wahlen die „Städte" sie erdrücken würden (offenbar fürchteten sie, dass bei direkten Wahlen die Privilegien der Grundherren der Bauernschaft gegenüber nicht ganz gesichert sein würden). Der Korrespondent der „Frankfurter Zeitung" schrieb2:

Das russische Semstwo zerfällt als politische Partei in drei Fraktionen: die liberale Semstwomajorität, die vom Grafen Heyden geführt wird, die gemäßigt-liberale, nationalistisch-slawophile Semstwominorität mit Herrn Schipow an der Spitze und die Gruppe der radikalen konstitutionalistischen Semstwomänner. Bei der Wahl der Delegierten nach Petersburg war es charakteristisch, dass gerade ,feudale' Vertreter gewählt wurden. Wollten die Gemäßigten sich vor dem Zaren durch die Träger hochangesehener alter Namen würdig vertreten lassen, so wünschten die Radikalen, die sich über das Ergebnis der Petition keinen Illusionen hingeben, die Vertreter der alten Geschlechter möchten sich mit eigenen Sinnen davon überzeugen, dass die Regierung gutwillig keinen Fuß breit weichen werde."

Die Bequemlichkeiten der von Herrn Struve gepriesenen verschwommenen Organisation der „konstitutionell-demokratischen" (lies: monarchistischen) Partei zeigten sich in der Praxis sehr schnell. Für das Schachern und Techtelmechteln, für das Antichambrieren und Ränkeschmieden ist eine feste und starke Parteiorganisation unbequem. Mögen sowohl der Bund der Befreiung (das dürfte wohl die „Gruppe der Radikalen" sein, von der der Korrespondent der „Frankfurter Zeitung" schrieb) als auch die „Semstwofraktion" (d. h. die Anhänger Heydens ebenso wie die Schipows, von dem sich Herr Struve jetzt offiziell loszusagen versucht?) der „Partei" angehören. Der Semstwofraktion wiederum gehören an die Anhänger Heydens und Schipows und die „Radikalen". Finde sich zurecht, wer kann! Sie alle einigten sich, getrieben von heißer Liebe zum Vaterland und zu den Privilegien der Bourgeoisie auf die Theorie des Kompromisses, die wir bereits mehr als einmal im „Proletarij" auseinandergesetzt haben und die in der „Petition" wie in der „Resolution" klar hervortritt.

Die Resolution sollte anscheinend die „idealen" Bedürfnisse der Radikalen befriedigen, während die Petition in der Auslegung der „gemäßigten" Delegierten dem materiellen Kompromiss mit dem Zarismus dienen soll. Vor dem uneingeweihten Pöbel wurden sowohl die Gruppierung der Konferenzfraktionen wie die Vollmachten der Delegation, die Bedingungen des Kompromisses und die weiteren Absichten der Semstwoleute aufs Sorgfältigste verheimlicht. Das „Volk", in dessen Namen die Herren Bourgeois mit dem Zaren kuhhandeln, braucht die hohe Politik der „konstitutionell-demоkratisсhen Partei" nicht zu kennen! Die Herren Bourgeois werden sich mit dem Zaren über die Unterdrückung des Wortes, über die Erstickung der Stimme der Wahrheit, über Volksvertreter, über ein Russland, das „um eine einzige nationale Fahne geschart ist", usw. unterhalten – das Volk jedoch braucht die ganze Wahrheit über die Politik der liberalen und „Oswoboschdjenije"-Krämer gar nicht zu wissen Ja, ja, nicht umsonst beschuldigte kürzlich Herr Struve im „Oswoboschdjenije" die „extremen Parteien" (d. h. besonders die Sozialdemokraten) der übermäßigen Vorliebe für die enge, verschwörerische, jakobinische „Konspiration"3. Wir Sozialdemokraten konspirieren vor dem Zaren und den zaristischen Spürhunden, indem wir gleichzeitig dafür sorgen, dass das Volk alles über unsere Partei erfährt, über die Schattierungen innerhalb derselben, über die Entwicklung ihres Programms und ihrer Taktik, und sogar was dieser oder jener Parteitagsdelegierte auf dem Parteitag gesprochen hat. Die Herren gebildeten Bourgeois, die „Oswoboschdjenije"-Leute, konspirieren vor dem Volk, das über die famose „konstitutionell-demokratische" Partei nichts Genaues weiß, dafür aber sind sie offenherzig mit dem Zaren und seinen Spürhunden. Nun, sind das etwa keine Demokraten?

Worüber die Semstwodelegierten mit der Hofbande, die sie zum Zaren nicht lassen wollte, offenherzig gesprochen haben, wissen wir nicht. Jedenfalls wurde lange verhandelt. Die ausländische Presse griff gierig nach den Meldungen über jeden Schritt der „hohen Politik" der Herren Delegierten. – Petersburg, 27. Mai/9. Juni. Die Semstwodelegation wird vor allem eine Unterredung mit dem Herrn Minister des Innern Bulygin haben, um sich über Trepow zu beschweren. – 28. Mai/10. Juni. Bulygin erklärte der Delegation, dass sie der Zar nicht empfangen werde, und riet ihr, aus Petersburg abzureisen. – 30. Mai/12. Juni. Es gilt als wahrscheinlich, dass der Zar die Delegation empfangen werde. – 2./15. Juni. Spezialtelegramm des Herrn Gaston Leroux an den „Matin": „Die Semstwodelegierten nahmen die Bedingungen der Audienz beim Kaiser, die ihnen das Hofministerium stellte, an. Darauf begab sich heute Abend Baron Fredericks nach Zarskoje Selo, um sich beim Zaren zu erkundigen, ob er die Deputation empfangen wolle."

Hört ihr das, russische Arbeiter und Bauern? So handeln die „Demokraten", die „Oswoboschdjenije"-Leute, die Feinde des Verschwörertums, die Hasser der Konspiration! Sie verschwören sich mit dem Ministerium des Hofes seiner polizeilichen Majestät, sie konspirieren mit den Spionen gegen das Volk. Sie wollen Vertreter des „Volkes" sein und akzeptieren die ihnen von den Spionen gestellten Bedingungen, wie sie mit dem Zaren über die Nöte des „Volkes" sprechen sollen!

So verfahren die reichen, unabhängigen, aufgeklärten, liberalen Leute, „getrieben von heißer Liebe zum Vaterlande". Ganz anders als der lümmelhafte, ungebildete, von jedem Kommis abhängige Arbeiterpöbel, der mit irgendeinem frechen Popen frei und offen zum Zaren rennt, sogar ohne sich mit den einflussreichen Spionen über die Bedingungen der Unterredung mit dem Zaren verständigt zu haben. Kann man denn bei einer politisch so ungebildeten Volksmasse eine Republik oder auch nur direkte Wahlen und das Einkammersystem zulassen? Die politisch gebildeten Leute kennen sich aus und sie verstehen, dass man zuerst durch den Hinterhof bei den Spionen vorsprechen, vielleicht sogar mit ihnen sich über Inhalt und Stil der Petition an den Zaren beraten muss – dann eben wird die „Stimme der Wahrheit" wirklich „zum Throne dringen".

Worauf sich die „Vertreter" des, mit Verlaub zu sagen, „Volkes" mit den zaristischen Spionen geeinigt haben, wissen wir nicht. Wir wissen aus den Telegrammen, dass beim Empfang der Delegation Fürst S. Trubezkoi eine „längere Ansprache", die eine halbe Stunde dauerte, gehalten hat, in der er die schwere Lage Russlands und die Verhältnisse, die die Semstwovertreter gezwungen haben, sich direkt (nicht durch die Spione?) an den Zaren zu wenden, schilderte. Die Rede habe auf den Zaren einen tiefen Eindruck gemacht. Herr Fedorow sprach dann als Vertreter Petersburgs. Der Zar erwiderte in längerer Rede. Er gab seinem Bedauern Ausdruck über die ungeheuren Opfer, die der Krieg forderte, er beweinte die letzte Niederlage zur See und schloss mit den Worten: „Ich danke Ihnen, meine Herren, für die Gefühle, die Sie zum Ausdruck brachten" (offenbar waren die Gefühle des „Demokraten" Trubezkoi, über deren Ausdruck er sich mit den Spionen beriet, gut!). „Ich glaube an Ihren Wunsch" (der Zar glaubt der liberalen Bourgeoisie; die liberale Bourgeoisie glaubt dem Zaren; eine Hand wäscht die andere), „bei der Durchführung der Grundsätze der neuen Ordnung mitzuhelfen. Mein Wille, eine Nationalversammlung einzuberufen" (Wann? gewählte Vertreter? wie und von wem gewählt? – das weiß man nicht. Herr Trubezkoi hat offenkundig vor dem vergötterten Monarchen die „Resolution" der Konferenz verheimlicht. Vermutlich haben die Spione geraten, mit dem Zaren über dieses Thema nicht zu sprechen!), „ist unerschütterlich. Ich wache täglich darüber. Mein Wille wird ausgeführt werden, das können Sie schon heute den Bewohnern des Landes und der Städte verkünden. Sie werden mich bei diesem neuen Werke unterstützen. Die Nationalversammlung wird die Einheit Russlands mit seinem Kaiser" (Trubezkois und Fedorows mit dem Kaiser?) „herstellen und sie wird das Fundament einer Ordnung bilden, die auf nationalen russischen Grundlagen beruhen wird." Die Delegierten haben von dem Empfang, wie das offizielle Telegramm lautet, einen guten Eindruck gewonnen; auch der Kaiser war befriedigt …

Das hört sich allerdings wahr an! Der Zar ist zufrieden, zufrieden sind die liberalen Bourgeois. Sie sind bereit, einen festen Frieden miteinander abzuschließen. Zufrieden ist die Autokratie und die Polizei (echt russische nationale Grundlagen). Zufrieden ist der Geldsack (von nun an wird man sich mit ihm ständig und regelmäßig beraten).

Ob aber die Arbeiter und die Bauern, deren Interessen die bürgerlichen Verräter verschachern, zufrieden sein werden?

1 Der Bericht von Gaston Leroux, auf den sich Lenin bezieht, erschien in Nr. 7781 vom 15. Juni 1905.

2 „Frankfurter Zeitung" Nr. 165 vom 16. Juni 1905, zweites Morgenblatt.

3 Bezieht sich auf einen Artikel Struves in Nr. 71 des „Oswoboschdjenije" vom 18./31. Mai 1905.

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