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Wladimir I. Lenin 19051128 Heer und Revolution

Wladimir I. Lenin: Heer und Revolution

[Nowaja Schisn", Nr. 14, 16./29. November 1905. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 533-536]

Der Aufstand in Sewastopol greift stetig um sich. Die Entscheidung naht. Die für die Freiheit kämpfenden Matrosen und Soldaten schieben ihre Vorgesetzten beiseite. Die Ordnung wird voll aufrechterhalten. Der Regierung gelingt es nicht, den niederträchtigen Streich von Kronstadt zu wiederholen, es gelingt ihr nicht, Ausschreitungen hervorzurufen. Das Geschwader hat sich geweigert, in See zu stechen, und bedroht die Stadt, falls versucht würde, die Aufständischen niederzuwerfen. Das Kommando über den „Otschakow" hat der Leutnant a. D. Schmidt übernommen, der wegen einer „frechen" Rede über die bewaffnete Verteidigung der im Manifest vom 17./30. Oktober versprochenen Freiheiten abgesetzt worden war. Heute, am 15./28. Oktober [sic!], ist nach einer Mitteilung der Zeitung „Rusj"1 die den Matrosen zur Kapitulation gegebene Frist abgelaufen.

Folglich stehen wir hart vor einem entscheidenden Augenblick. Die nächsten Tage – vielleicht Stunden – werden zeigen, ob die Aufständischen den vollen Sieg davontragen, ob sie niedergeschlagen werden oder ob es zu irgendeinem Vergleich kommen wird. Jedenfalls bezeichnen die Sewastopoler Ereignisse den vollständigen Zusammenbruch des alten Sklavensystems im Heere, das die Soldaten in bewaffnete Maschinen verwandelte und zu Werkzeugen der Unterdrückung auch der geringsten Freiheitsbestrebungen machte.

Unwiederbringlich vorüber sind die Zeiten, wo die russische Armee – wie es 1849 der Fall war2 – zur Niederwerfung der Revolution außerhalb Russlands auszog. Jetzt ist die Armee vom Absolutismus unwiderruflich abgefallen. Sie ist noch nicht in ihrer Gesamtheit revolutionär geworden. Das politische Bewusstsein der Soldaten und Matrosen ist noch sehr gering. Wichtig aber ist, dass dieses Bewusstsein schon erwacht ist, dass unter den Soldaten eine eigene Bewegung begonnen hat, dass der Geist der Freiheit allüberall in die Kasernen eingedrungen ist. Die Kaserne war in Russland durchweg schlimmer als jedes Gefängnis; nirgends wurde die Persönlichkeit so getreten und unterjocht wie in der Kaserne, nirgends gedieh in solchem Maße das Misshandeln, Prügeln und Beschimpfen des Menschen. Und diese Kaserne wird jetzt zu einem Herd der Revolution.

Die Sewastopoler Ereignisse stehen nicht vereinzelt und nicht zufällig da. Wir wollen nicht über die früheren Versuche eines direkten Aufstandes in Flotte und Heer sprechen. Stellen wir dem Sewastopoler Brand die Petersburger Funken gegenüber. Erinnern wir uns jener Soldatenforderungen, die jetzt in verschiedenen Truppenteilen Petersburgs aufgestellt wurden (sie sind in der gestrigen Nummer unserer Zeitung abgedruckt). Welch bedeutsames Dokument ist dieses Verzeichnis von Forderungen! Wie deutlich zeigt es, dass die Armee von Knechten sich in eine revolutionäre Armee verwandelt. Und welche Macht wird jetzt die Verbreitung ähnlicher Forderungen in der gesamten Flotte und der gesamten Armee aufhalten?

Die Petersburger Soldaten wollen erreichen: Verbesserung des Essens, der Kleidung, der Wohnräume, Erhöhung der Löhnung, Herabsetzung der Dienstzeit und der täglichen Dienstdauer. Aber noch mehr Raum nehmen unter ihren Forderungen andere ein, die nur der sich als Staatsbürger fühlende Soldat aufstellen konnte. Das Recht, in Uniform alle Versammlungen „gleich allen Staatsbürgern" zu besuchen; das Recht, alle Zeitungen in der Kaserne zu lesen und zu halten; Gewissensfreiheit; Gleichberechtigung aller Nationalitäten; völlige Abschaffung aller Ehrenbezeigungen außerhalb der Kaserne; Abschaffung des Burschenwesens; Abschaffung der Kriegsgerichte und Unterstellung aller militärischen Gerichtssachen unter die zivile Gerichtsbarkeit; das Recht auf Kollektivbeschwerden; das Recht sich zu wehren bei dem geringsten Versuch eines Vorgesetzten, tätlich zu werden. Das sind die hauptsächlichsten Forderungen der Petersburger Soldaten.

Diese Forderungen zeigen, dass die Armee schon zu einem gewaltigen Teil mit den Sewastopolern, die sich für die Freiheit erhoben haben, solidarisch ist.

Diese Forderungen zeigen, dass die heuchlerischen Redensarten der Liebediener des Absolutismus über die Neutralität der Armee, über die Notwendigkeit, die Armee von der Politik fernzuhalten usw., nicht mit der geringsten Sympathie der Soldaten rechnen können.

Die Armee kann und darf nicht neutral sein. Die Armee in die Politik nicht einzubeziehen – das ist die Losung der heuchlerischen Lakaien der Bourgeoisie und des Zarismus, die in Wirklichkeit die Armee immer in die reaktionäre Politik einbezogen und die russischen Soldaten in Diener der Schwarzen Hunderte, in Helfershelfer der Polizei verwandelt haben. Im allgemeinen Freiheitskampfe des Volkes kann man nicht beiseite stehen. Wer sich zu diesem Kampfe gleichgültig verhält, der unterstützt die Scheußlichkeiten der Polizeibüttel-Regierung, die Freiheit versprochen hat, um die Freiheit zu verhöhnen.

Die Forderungen der sich als Staatsbürger betrachtenden Soldaten sind die Forderungen der Sozialdemokratie, sind die Forderungen aller revolutionären Parteien, die Forderungen der klassenbewussten Arbeiter. Das Eintreten der Soldaten in die Reihen der Anhänger der Freiheit, ihr Übergang auf die Seite des Volkes wird den Sieg der Freiheit und die Verwirklichung der Forderungen der Soldaten sicherstellen.

Um aber diese Forderungen tatsächlich voll und auf die Dauer zu verwirklichen, ist noch ein kleiner Schritt vorwärts zu machen. Man muss die einzelnen Wünsche der durch die verfluchte Zuchthauskaserne gequälten Soldaten in ein Ganzes zusammenfassen. Und zusammengefasst werden diese Forderungen bedeuten: die Abschaffung des stehenden Heeres, seine Ersetzung durch die allgemeine Volksbewaffnung.

Immer und überall dient das stehende Heer nicht so sehr gegen den äußeren, sondern noch mehr gegen den inneren Feind. Das stehende Heer ist überall zum Werkzeug der Reaktion, zum Diener des Kapitals im Kampfe gegen die Arbeit, zum Henker der Volksfreiheit geworden. Bleiben wir also in unserer großen, befreienden Revolution nicht bei bloßen Einzelforderungen stehen. Rotten wir das Übel mit der Wurzel aus. Schaffen wir das stehende Heer ganz ab. Möge sich die Armee mit dem bewaffneten Volke verschmelzen, mögen die Soldaten ihre militärischen Kenntnisse ins Volk tragen. Möge die Kaserne verschwinden und durch die freien Militärschulen ersetzt werden. Keine Macht der Welt wird einen Anschlag auf das freie Russland wagen, wenn der Schutzwall dieser Freiheit das bewaffnete Volk sein wird, das die Militärkaste abgeschafft, alle Soldaten zu Staatsbürgern und alle waffenfähigen Staatsbürger zu Soldaten gemacht haben wird.

Die Erfahrung Westeuropas hat den ganzen reaktionären Charakter des stehenden Heeres gezeigt. Die Kriegswissenschaft hat die volle Möglichkeit der Verwirklichung der Volksmiliz bewiesen, die sowohl im Verteidigungs- als auch im Angriffskriege auf der Höhe der militärischen Aufgaben stehen kann. Mag die scheinheilige oder sentimentale Bourgeoisie von der Abrüstung träumen. So lange es auf der Welt Unterdrückte und Ausgebeutete gibt, müssen wir nicht die Abrüstung, sondern die allgemeine Volksbewaffnung anstreben. Sie allein wird die Freiheit in vollem Umfange sichern. Nur sie wird die Reaktion gänzlich über den Haufen werfen. Nur unter der Bedingung dieser Umgestaltung wird die Freiheit in der Tat Millionen Werktätiger und nicht nur einem Häuflein Ausbeuter zugute kommen.

1 Das entsprechende Telegramm war in der Zeitung „Rusj", Nr. 21 vom 16./29. November 1905, abgedruckt und der Redaktion der „Nowaja Schisn" jedenfalls schon vor dem Erscheinen dieser Nummer mitgeteilt worden.

2 Die Niederwerfung der ungarischen Revolution gegen die Habsburger durch russische Truppen unter Feldmarschall Paskjewitsch. D. Red. [Fußnote der „Ausgewählten Werke, Band 3]

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