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Wladimir I. Lenin 19050502 Referat und Resolutionsentwurf über die Unterstützung der Bauernbewegung

Wladimir I. Lenin: Referat und Resolutionsentwurf über die Unterstützung

der Bauernbewegung

auf dem III. Parteitag der SDAPR, 12./25. April–27. April/10. Mai 1905

[Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 376-382]

I

Referat

19. April/2. Mai 1905

Mit Rücksicht auf die Erklärung von 17 Genossen, die auf die Notwendigkeit einer äußersten Beschleunigung der Parteitagsverhandlungen hingewiesen haben, will ich mich bemühen, mich so kurz als möglich zu fassen. Eigentlich gibt es in der zur Behandlung stehenden Frage keine prinzipiellen Streitpunkte; selbst in der Zeit der an „prinzipiellen" Meinungsverschiedenheiten reichen Parteikrise sind solche nicht hervorgetreten. Außerdem ist der Resolutionsentwurf schon vor längerer Zeit in der Zeitung „Wperjod" veröffentlicht worden, ich werde mich daher auf eine einfache Verteidigung dieser Resolution beschränken.

Die Frage der Unterstützung der Bauernbewegung zerfällt eigentlich in zwei Fragen: 1. die theoretischen Grundlagen und 2. die praktische Erfahrung der Partei. Die letzte Frage wird der zweite Referent, Genosse Barssow, der mit der am weitesten vorgeschrittenen Bauernbewegung, nämlich in Gurien, sehr gut vertraut ist, beantworten. Was die theoretischen Grundlagen der Frage anbelangt, so handelt es sich jetzt um die Anwendung der feststehenden sozialdemokratischen Losungen auf die gegebene Bauernbewegung. Diese Bewegung wächst und breitet sich aus vor unseren Augen. Die Regierung kommt wieder mit den alten Versuchen, die Bauern durch Scheinzugeständnisse zu prellen. Dieser Politik der Korruption müssen die Losungen unserer Partei entgegengestellt werden.

Diese Losungen sind meines Erachtens im folgenden Resolutionsentwurf formuliert:

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, als Partei des klassenbewussten Proletariats, erstrebt die völlige Befreiung aller Werktätigen von jeglicher Ausbeutung und unterstützt jede revolutionäre Bewegung gegen die heutige gesellschaftliche und politische Ordnung. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands unterstützt daher auf das tatkräftigste auch die gegenwärtige Bauernbewegung, indem sie für alle revolutionären Maßnahmen eintritt, die geeignet sind, die Lage der Bauernschaft zu verbessern, und zu diesem Zweck wird sie auch vor der Expropriation der gutsherrlichen Ländereien nicht haltmachen. Hierbei strebt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, die eine Klassenpartei des Proletariats ist, unbeirrbar nach einer selbständigen Klassenorganisation des ländlichen Proletariats und vergisst keinen Augenblick die Aufgabe, es über den feindlichen Gegensatz zwischen seinen Interessen und denen der Bauernbourgeoisie aufzuklären, ihm klarzumachen, dass nur der gemeinsame Kampf des ländlichen und städtischen Proletariats gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft zur sozialistischen Revolution führen kann, die allein imstande ist, die ganze Masse der Dorfarmut von Elend und Ausbeutung wirklich zu erlösen.

Als praktische Losung für die Agitation unter der Bauernschaft und als Mittel, die höchste Zielbewusstheit in diese Bewegung hinein zu tragen, proklamiert die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands die sofortige Bildung revolutionärer Bauernkomitees zur umfassenden Unterstützung aller demokratischen Umgestaltungen und zu ihrer Durchführung im Einzelnen. Auch in diesen Komitees wird die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands nach einer selbständigen Organisation der ländlichen Proletarier trachten, einerseits zur Unterstützung der gesamten Bauernschaft bei allen ihren revolutionär-demokratischen Aktionen und anderseits zum Schutze der wahren Interessen des ländlichen Proletariats in seinem Kampfe gegen die Bauernbourgeoisie." („Wperjod", Nr. 11.)

In der Agrarkommission, die von den Delegierten noch vor Beginn des Parteitages zur Vorbereitung seiner Arbeiten gebildet wurde, wurde dieser Entwurf bereits behandelt. Trotz des Durcheinanders der Meinungen zeigten sich doch einige Hauptschattierungen, und auf diese will ich eingehen. Der Charakter der möglichen und notwendigen revolutionären Maßregeln in der Agrarfrage reduziert sich nach dem Resolutionsentwurf auf die „Verbesserung der Lage der Bauernschaft". Die Resolution bringt also damit klar die allgemeine Überzeugung aller Sozialdemokraten zum Ausdruck, dass die Umgestaltung der Grundlagen der gegenwärtigen sozial-ökonomischen Ordnung selbst durch diese Maßregeln keineswegs erreicht werden kann. Darin unterscheiden wir uns von den Sozialrevolutionären. Die revolutionäre Bewegung der Bauernschaft kann zu einer bedeutenden Verbesserung ihrer Lage führen, nicht aber den Kapitalismus durch eine andere Produktionsweise ersetzen.

Die Resolution spricht von Maßnahmen, die vor der Expropriation der gutsherrlichen Ländereien nicht haltmachen. Man sagt, diese Formulierung ändere unser Agrarprogramm. Ich halte diese Meinung für unrichtig. Gewiss, die Redaktion kann verbessert werden: nicht unsere Partei, sondern die Bauernschaft wird vor der Expropriation nicht haltmachen; unsere Partei unterstützt die Bauernschaft – sie unterstützt sie auch dann, wenn sie vor diesen Maßnahmen nicht zurückschreckt. Statt Expropriation sollte man den engeren Begriff „Konfiskation" gebrauchen, denn wir sind entschieden gegen jede Ablösung. Wir werden nie vor Maßnahmen, wie Konfiskation des Bodens, zurückschrecken. Sieht man von diesen einzelnen Korrekturen ab, so wird sich zeigen, dass unsere Resolution keine Änderung des Agrarprogramms bedeutet. Alle sozialdemokratischen Schriftsteller haben sich stets in dem Sinne ausgesprochen, dass der Punkt über die abgetrennten Bodenstücke der Bauernbewegung keinesfalls eine Grenze setzt, sie keinesfalls beschneidet und begrenzt. Plechanow wie auch ich haben in der Presse darauf hingewiesen, dass die Sozialdemokratische Partei niemals die Bauern von revolutionären Maßnahmen der Agrarumgestaltung einschließlich der „Schwarzen Umteilung" zurückhalten wird. Wir ändern also unser Agrarprogramm nicht. Wir müssen uns jetzt über die praktische Frage der vollsten Unterstützung der Bauern entschieden äußern, um jede Möglichkeit von Missverständnissen und Missdeutungen zu beseitigen. Jetzt steht die Bauernbewegung auf der Tagesordnung und die Partei des Proletariats muss offiziell erklären, dass sie diese Bewegung mit allen Mitteln unterstützt und sie keineswegs beschränken will.

Weiter wird in der Resolution von der Notwendigkeit einer Hervorhebung der Interessen und einer besonderen Organisation des Landproletariats gesprochen. In einer Versammlung von Sozialdemokraten erübrigt es sich, diese elementare Wahrheit zu begründen. In der Agrarkommission wurde gesagt, es sei wünschenswert, einen Hinweis auf die Unterstützung von Streiks der Landarbeiter und Bauern, besonders während der Getreide- und Heuernte usw., hinzuzufügen. Prinzipiell ist dagegen selbstverständlich nichts einzuwenden. Die Praktiker sollen sich über die eventuelle Bedeutung eines solchen Hinweises für die nächste Zukunft äußern.

Die Resolution spricht dann von der Bildung revolutionärer Bauernkomitees.

In Nr. 15 des „Wperjod" ist jener Gedanke näher entwickelt, dass die Forderung der sofortigen Bildung von revolutionären Bauernkomitees zum Zentralpunkt der Agitation werden müsse. Über die „Verbesserung der Lebenshaltung" sprechen jetzt sogar die Reaktionäre, sie treten aber für die bürokratische Methode der angeblichen Verbesserung ein, während die Sozialdemokratie natürlich für den revolutionären Weg eintreten muss. Die Hauptaufgabe ist, in die Bauernbewegung politisches Bewusstsein hineinzutragen Die Bauern erkennen dunkel, was ihnen Not tut, sie verstehen aber nicht, ihre Wünsche und Forderungen mit der allgemeinen politischen Ordnung in Zusammenhang zu bringen. Deswegen können sie so leicht von politischen Hochstaplern geprellt werden, indem sie die Frage der politischen Umgestaltungen auf die der ökonomischen „Verbesserungen" verlegen, die in Wirklichkeit ohne die politischen Umgestaltungen undurchführbar sind. Deshalb ist die Parole der revolutionären Bauernkomitees die einzig richtige. Ohne das von diesen Komitees zu realisierende revolutionäre Recht werden die Bauern nie das behaupten können, was sie jetzt erkämpfen werden. Man wendet ein, dass wir auch hier das Agrarprogramm ändern, in dem von revolutionären Bauernkomitees nicht gesprochen wird und auch nicht von ihren Aufgaben auf dem Gebiete der demokratischen Umgestaltungen. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Wir ändern unser Programm nicht, sondern wenden es auf den gegebenen konkreten Fall an. Wenn kein Zweifel besteht, dass die Bauernkomitees unter den gegebenen Verhältnissen nur revolutionär sein können, so wenden wir, wenn wir darauf hinweisen, das Programm auf die revolutionäre Situation an, ändern es aber nicht. Zum Beispiel heißt es in unserem Programm, dass wir die Selbstbestimmung der Nationen anerkennen: wenn die konkreten Bedingungen uns veranlassen sollten, uns für die Selbstbestimmung einer bestimmten Nation, für ihre volle Unabhängigkeit auszusprechen, so wird das keine Änderung, sondern eine Anwendung des Programms sein. Die Bauernkomitees sind eine elastische Einrichtung, die ebenso gut brauchbar ist unter den heutigen Bedingungen, wie, sagen wir, unter der provisorischen revolutionären Regierung, wo diese Komitees zu Organen der Regierung werden würden. Man sagt, diese Komitees können reaktionär werden, statt revolutionär. Wir Sozialdemokraten haben aber nie die Doppelnatur des Bauern und die Möglichkeit einer reaktionären Bauernbewegung gegen das Proletariat verkannt. Nicht das ist jetzt die Frage, es handelt sich vielmehr darum, dass gegenwärtig die Bauernkomitees, die zur Sanktionierung der Umgestaltung der Agrarverhältnisse gebildet werden, nur revolutionär sein können. Heute ist die Bauernbewegung zweifellos revolutionär. Man sagt: wenn die Bauern vom Grund und Boden Besitz ergriffen haben, werden sie sich beruhigen. Möglich. Aber die absolutistische Regierung kann sich nicht dabei beruhigen, dass die Bauern vom Grund und Boden Besitz ergreifen, und das ist der springende Punkt. Diese Besitzergreifung kann nur von einer revolutionären Regierung oder von den revolutionären Bauernkomitees sanktioniert werden.

Endlich umschreibt der Schlussteil der Resolution noch einmal die Stellung der Sozialdemokratie in den Bauernkomitees, nämlich die Notwendigkeit, mit dem Landproletariat zusammenzugehen und es getrennt und selbständig zu organisieren. Auch auf dem flachen Lande ist nur das Proletariat die Klasse, die bis zu Ende revolutionär sein kann.

II

Resolutionsentwurf über die Unterstützung der Bauernbewegung1

In Erwägung:

1. dass die sich jetzt ausbreitende Bauernbewegung, obgleich sie spontan und politisch unbewusst ist, nichtsdestoweniger sich unvermeidlich gegen die bestehende politische Ordnung und gegen die privilegierten Klassen richtet;

2. dass es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehört, jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung zu unterstützen;

3. dass die Sozialdemokraten auf Grund des oben Dargelegten danach streben müssen, die revolutionär-demokratischen Züge (Besonderheiten) der Bauernbewegung hervortreten zu lassen, sie zu entwickeln und zu Ende zu führen;

4. dass die Sozialdemokratie als Partei des Proletariats in allen Fällen und unter allen Umständen unentwegt nach einer selbständigen Organisation des Landproletariats streben muss und ihm den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen seinen Interessen und denen der Dorfbourgeoisie klarzumachen hat, –

beauftragt der III. Parteitag der SDAPR alle Parteiorganisationen:

a) unter den breitesten Schichten des Proletariats zu propagieren, dass die SDAPR sich die tatkräftigste Unterstützung der jetzigen Bauernbewegung zur Aufgabe setzt, dass sie deren revolutionären Äußerungen, bis zur Konfiskation der gutsherrlichen Ländereien, in keiner Weise entgegenwirken wird:

b) als praktische Losung für die Agitation unter der Bauernschaft und als Mittel, größtmögliche Zielbewusstheit in die Bauernbewegung hinein zutragen, den Plan der sofortigen Bildung von revolutionären Bauernkomitees in den Vordergrund zu schieben zur Durchführung aller revolutionär-demokratischen Umgestaltungen im Interesse der Bauernschaft und ihrer Befreiung vom polizeilich-bürokratischen und gutsherrlichen Joch;

c) den Bauern zu empfehlen, die Erfüllung der Militärpflicht abzulehnen, die Steuerzahlung gänzlich zu verweigern und die Behörden nicht anzuerkennen, um den Absolutismus zu desorganisieren und den revolutionären Ansturm gegen diesen zu unterstützen;

d) in den Bauernkomitees die selbständige Organisation des Landproletariats und seine möglichst enge Verbindung mit dem städtischen Proletariat in einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei der Arbeiterklasse anzustreben.

1 Dieser Entwurf ist mit kleinen Änderungen vom Parteitag angenommen worden.

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