Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19050623 „Revolutionäre" in weißen Handschuhen

Wladimir I. Lenin: „Revolutionäre" in weißen Handschuhen

[„Proletarij" Nr. 5, 13./26. Juni 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 485-490]

Freitag, den 10./23. Juni

Die ausländischen Zeitungen kommentieren bereits einigermaßen den Empfang der Semstwodelegation durch den Zaren. Die bürgerliche Presse liebedienert, wie gewöhnlich, gerührt von der Nachgiebigkeit des Zaren und der Einsicht der Semstwoleute, wenn auch einige Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Versprechungen, die in so unbestimmter Form gegeben wurden, durchschlüpfen. Die sozialistischen Zeitungen erklären rund heraus und ohne Umschweife, dass dieser Empfang eine Komödie sei.

Für den Absolutismus ist es vorteilhaft, Zeit zu gewinnen, um die liberale Bourgeoisie an der Nase herumzuführen. Einerseits diktatorische Vollmachten an Trepow, anderseits nichtssagende und nichts kostende Versprechungen an die Liberalen, um in ihren ohnehin schwankenden Reihen neue Schwankungen hervorzurufen. Die Taktik der absolutistischen Regierung ist nicht dumm. Die Liberalen spielen Loyalität, Mäßigung und Bescheidenheit. In der Tat, warum sollte die Regierung ihre Dummheit und Feigheit nicht ausnützen? Im Kriege gelten die Regeln des Krieges. Es gibt keinen Krieg ohne Kriegslist, und wenn der „Feind" (die liberale Bourgeoisie) halb Feind, halb einfältiger Freund ist – warum ihm keinen Bären aufbinden?

Herr Gaston Leroux, von dem wir schon im Leitartikel sprachen, berichtet über den Empfang der Deputation folgende Einzelheiten, die zwar nicht verbürgt, aber jedenfalls charakteristisch und bezeichnend sind.

Baron Fredericks, der Hofminister, äußerte sich den Delegierten gegenüber, dass er beim besten Willen den Empfang des Herrn Petrunkjewitsch durch den Kaiser nicht erwirken könne, da ihm revolutionäre Verbindungen nachgesagt werden. Dem Minister wurde erwidert, der österreichische Kaiser habe ja unter seinen Ministern Andrassy gehabt, obwohl dieser seinerzeit verurteilt worden war. Dieses Argument beseitigte die letzten Hindernisse und sämtliche Delegierten wurden empfangen."1

Ein gutes Argument. Die westeuropäische Bourgeoisie hat früher wirklich gekämpft, sie war irgendeinmal sogar republikanisch, ihre Führer wurden „verurteilt" – verurteilt wegen Hochverrats, d. h. nicht nur wegen revolutionärer Verbindungen, sondern wegen wirklicher revolutionärer Handlungen. Später, nach vielen Jahren, mitunter Jahrzehnten, fanden sich diese Bourgeois mit der jämmerlichsten und kümmerlichsten Verfassung, nicht nur ohne Republik, sondern auch ohne das allgemeine Wahlrecht, ohne wirkliche politische Freiheit, ab. Die liberalen Bourgeois machten endgültig Frieden mit dem „Throne" und mit der Polizei; sie stellten sich selber ans Ruder und unterdrückten und unterdrücken fortwährend bestialisch jedes Streben der Arbeiter nach Freiheit und sozialen Reformen.

Die russische liberale Bourgeoisie möchte das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Es ist „angenehm" als ein Mann mit „revolutionären Verbindungen" zu gelten, – es ist nützlich, ministerfähig unter dem Kaiser Nikolaus dem Blutigen zu sein. Die russischen liberalen Bourgeois wollen keineswegs eine „Verurteilung" wegen Hochverrats riskieren. Sie ziehen den direkten Sprung in jene Zeiten vor, wo ehemalige Revolutionäre, wie Andrassy, Minister der Ordnungspartei wurden! Graf Andrassy nahm im Jahre 1848 so energisch an der revolutionären Bewegung teil, dass er nach der Niederschlagung der Revolution zum Tode verurteilt und in effigie gehängt wurde. Er lebte dann als Emigrant in Frankreich und England und kehrte erst nach der Amnestie des Jahres 1857 nach Ungarn zurück. Dann begann seine „Minister"karriere. Die russischen Liberalen wollen keine Revolution, sie fürchten sie, sie wollen gleich, ohne Revolutionäre gewesen zu sein, in den Ruf gewesener Revolutionäre kommen! Sie wollen gleich aus dem Jahre 1847 in das Jahr 1857 hinüber springen! Sie wollen sich sofort mit dem Zaren auf eine Verfassung einigen, wie sie in Europa zur Zeit der wütendsten Reaktion nach der Niederlage der Revolution von 1848 zu verzeichnen war.

Ja. ja, das Beispiel mit Andrassy ist trefflich gewählt. Wie die Sonne in einem kleinen Wassertropfen, so spiegelt sich in diesem Vergleich zwischen Andrassy und Petrunkjewitsch die Parallele zwischen der seinerzeit revolutionären und republikanischen bürgerlichen Demokratie Europas und der (selbst nach dem 9. Januar 1905) konstitutionell-monarchistischen bürgerlichen „Demokratie" Russlands. Die europäischen Bourgeois kämpften früher auf den Barrikaden für die Republik, dann lebten sie im Exil, schließlich wurden sie der Freiheit untreu, verrieten die Revolution und traten in den Dienst der konstitutionellen Monarchen. Die russischen Bourgeois wollen „von der Geschichte lernen" und „die Entwicklungsstadien abkürzen": sie wollen gleich die Revolution verraten, gleich zu Verrätern der Freiheit werden. In den intimen Unterhaltungen wiederholen sie einander die Worte Christi an Judas: Was du tust, das tue bald!

Als die Delegierten in den Saal des Palais geführt wurden, in dem der Zar erscheinen sollte“ – fährt Herr Gaston Leroux fort – „bemerkte man plötzlich, dass der Revolutionär Petrunkjewitsch keine weißen Handschuhe anhalte. Der Oberst der Leibgarde, Putjatin, streifte schnell die seinen ab und gab sie dem Revolutionär Petrunkjewitsch."

Der Empfang begann. Fürst Trubezkoi hielt seine Rede. Nach Herrn Gaston Leroux begann er seine Rede mit dem Dank dafür, dass der Zar „geruht habe, sie zu empfangen, und damit sein Vertrauen zu ihnen bewiesen habe". Fürst Trubezkoi versicherte (ob im Namen der ganzen „konstitutionell-demokratischen" oder „Oswoboschdjenije"-Partei?), dass „wir Männer der Ordnung und des Friedens" seien, dass „der Zar" von seinen Ratgebern „getäuscht" werde. Die „mutigste" Stelle seiner Rede war die, dass eine Vertreterversammlung nach Ständen, wie Bulygin sie plant, „unzulässig" sei und was glauben Sie, weshalb ? … weil „Eure Majestät nicht der Zar des Adels, des Kaufmannsstandes und der Bauern, sondern der Zar von ganz Russland sind". „Die Vertretung muss das ganze Volk ohne Ausnahme einbeziehen."

Über die Resolution der Semstwokonferenz, die wir im Leitartikel brachten, keinen Ton, wie zu erwarten war.

Herr Fedorow hielt sich in seiner Rede an die finanzielle Seite der … „Revolution in weißen Handschuhen". Der Staatshaushalt werde sich nach dem Krieg um 300 bis 400 Millionen vermehren, dies werde eine „enorme Anstrengung des Fortschritts und der Zivilisation" erfordern – und dazu bedürfe es der „Unabhängigkeit der Gesellschaft" und des „Appells an alle begabten Männer des Volkes" (gewählt unter der Kontrolle Trepows?).

Die Antwort des Zaren ist bekannt.

Nach der Beendigung seiner Rede“ – telegraphiert Herr Gaston Leroux – „unterhielt sich der Zar sehr freundlich mit jedem Delegierten. Er ging sogar so weit, dass er den berühmten Revolutionär (Petrunkjewitsch) fragte, ob er Adelsmarschall sei. Als jener verneinend antwortete, drückte der Zar die Hoffnung aus, dass der Tag kommen werde, an dem er Adelsmarschall werde, und ging dann auf einen anderen Delegierten zu. Als der Zar das Zimmer verließ, wurden die Delegierten in einen hinteren Raum des Palais geführt, wo ihnen ein Frühstück, nach ihrer Meinung im Werte von etwa 75 Kopeken, angeboten wurde. Wie dem auch sei, die Delegierten waren zufrieden…"

Wenn auch nicht gleich Minister, aber die Ernennung zum Adelsmarschall wurde immerhin versprochen! Hat doch Andrassy wahrscheinlich auch mit etwas ähnlichem wie einem Adelsmarschallamt angefangen!

„…Sie begannen bereits überallhin Telegramme zu verschicken" (dass nunmehr das Vertrauen zwischen dem Zaren und dem „Volke" wieder hergestellt sei?), „als ihnen der offizielle Text der Antwort des Zaren mitgeteilt wurde. Groß war ihr Erstaunen, als sie darin die einzige wichtige Phrase, die etwas zu versprechen schien, nicht fanden. Die Phrase: ,mein kaiserlicher Wille, die Volksvertreter einzuberufen, ist unerschütterlich', war folgendermaßen wiedergegeben: ,mein kaiserlicher Wille ist unerschütterlich'. Die Delegierten sandten diesen offiziellen Text, den sie nicht annehmen konnten, sofort zurück. Heute erwarteten sie mit einiger Ungeduld jenen Text, der die Worte, die sie alle gehört hatten, enthalten sollte. Einer der Delegierten sagte mir heute Abend (das Telegramm des Herrn G. Leroux ist vom 7./20. Juni datiert) über diese sonderbare Wortverwechslung: das ist keine Autokratie mehr, das ist eine Gaukelei."

Nicht Übel gesagt oder nicht Übel erfunden, wenn Herr Leroux das alles erfunden hat. Eine Gaukelei ist es auf jeden Fall, selbst wenn das Versprechen, Volksvertreter einzuberufen, in den offiziellen Text der Rede aufgenommen werden sollte. Weiße Handschuhe, und zwar die weißen Handschuhe des Lakaien – das ist das wahre Emblem des politischen Aktes der Herren Petrunkjewitsch and Roditschew. Sie begannen ja selber mit einer Gaukelei, nicht nur dadurch, dass sie über die Bedingungen der Audienz verhandelten, sondern auch dadurch, dass sie ihre Resolution und ihre eigentlichen Wünsche in der Tasche versteckt hielten, unanständige Dinge über die Täuschung des Zaren sprachen usw. usf. Sie haben jetzt kein Recht, sich darüber zu beklagen, dass man ihnen auf ihre Gaukelei mit einer Gaukelei geantwortet hat. Denn das Versprechen, Volksvertreter überhaupt einzuberufen, bedeutet rein gar nichts und gibt gar nichts, da es vollkommen freien Spielraum lässt für eine „Verfassung" à la Bulygin und à la Trepow und für alle möglichen Verschleppungen. Alles bleibt beim alten – die Liberalen, zum Narren gehalten wie Buben und bis auf die Knochen blamiert durch das Versprechen eines Adelsmarschalltitels, haben nur dem Absolutismus einen Dienst erwiesen durch Versendung von Depeschen über „Vertrauen" und durch solche Berichte über die Audienz, wie ihn zum Beispiel Herr Nikitin in der Petersburger Duma erstattet hat.2

Wir möchten nicht die Rolle der Kassandra übernehmen. Wir möchten nicht ein lächerliches und schmähliches Ende der russischen Revolution prophezeien. Aber wir haben die Pflicht, den Arbeitern und dem ganzen Volke offen und unverblümt zu sagen: es treibt einem solchen Ende zu. Die konstitutionelle, angeblich demokratische Partei und alle diese Herren „Oswoboschdjenije"-Leute treiben es eben zu einem solchen und keinem anderen Ende. Lasst euch nicht durch das Geklingel und das Getöne der radikalen Reden der „Oswoboschdjenije"-Leute und durch die Semstworesolutionen täuschen. Das sind gemalte Kulissen für das „Volk", hinter den Kulissen aber geht ein lebhafter Handel. Die liberale Bourgeoisie versteht die Rollen zu verteilen: den radikalen Schwätzer schickt man zu den Banketten und Versammlungen, den raffinierten Geschäftsmann – zur „Vorbereitung des Bodens" unter der Hofbande. Da aber die ganze Macht nach wie vor und ungeschmälert in den Händen des Absolutismus bleibt, so ist der unvermeidliche Ausgang eines solchen Laufs der Dinge eine „Verfassung", die hundertmal mehr der Bulyginschen als der des „Oswoboschdjenije" ähnlich ist.

Das Schicksal der russischen Revolution hängt jetzt vom Proletariat ab. Nur das Proletariat vermag diesem Kuhhandel ein Ende zu machen. Nur das Proletariat kann durch eine erneute heldenhafte Anstrengung die Massen aufpeitschen, die schwankende Armee spalten, die Bauernschaft auf seine Seite bringen und mit bewaffneter Hand die Freiheit für das ganze Volk erringen, indem es erbarmungslos die Feinde der Freiheit zertritt und die selbstsüchtigen und schwankenden bürgerlichen Maulhelden der Freiheit beiseite schiebt.

1 „Le Matin" Nr. 7787 vom 21. Juni 1905.

2 Der Bericht Nikitins in der Petersburger Stadtverordnetenversammlung über die Audienz beim Zaren erschien in der „Nascha Schisn" Nr. 116 vom 9./22. Juni 1905.

Kommentare