Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19051010 Sozialismus und Bauernschaft

Wladimir I. Lenin: Sozialismus und Bauernschaft

[Proletarij", Nr. 20. 27. September/10. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 340-351]

Die Revolution, die Russland jetzt erlebt, ist eine allgemeine Volksrevolution. Die Interessen des ganzen Volkes sind in einen unversöhnlichen Widerspruch geraten mit den Interessen einer Handvoll Leute, die die absolutistische Regierung bilden und sie unterstützen. Die Existenz der auf der Grundlage der Warenwirtschaft errichteten modernen Gesellschaft an sich erfordert angesichts der enormen Unterschiede und Gegensätze der Interessen zwischen den verschiedenen Klassen und Bevölkerungsgruppen die Vernichtung des Absolutismus, die politische Freiheit und eine Organisation und Verwaltung des Staates, die die Interessen der herrschenden Klassen offen und unmittelbar zur Geltung bringt. Die demokratische, in ihrem sozial-ökonomischen Wesen bürgerliche Umwälzung kann nicht umhin, die Nöte der ganzen bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen.

Allein diese Gesellschaft selbst, die jetzt im Kampfe gegen den Absolutismus ganz und einheitlich zu sein scheint, ist durch den zwischen Kapital und Arbeit gähnenden Abgrund unwiderruflich gespalten. Das Volk, das sich gegen den Absolutismus erhoben hat, ist kein einheitliches Volk. Besitzende und Lohnarbeiter, eine unbedeutende Anzahl (die „oberen Zehntausend") von Reichen und Dutzende Millionen von Besitzlosen und Werktätigen – das sind wahrhaftig „zwei Nationen", wie ein weitblickender Engländer schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkt hat.1 Der Kampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie ist in ganz Europa an der Tagesordnung. Dieser Kampf hat schon längst auch nach Russland übergegriffen. Im modernen Russland machen nicht zwei kämpfende Kräfte, sondern zwei verschiedene und verschiedenartige soziale Kriege den Inhalt der Revolution aus: der eine spielt sich im Schoße der heutigen absolutistisch-fronherrlichen Ordnung, der andere im Schoße der künftigen, vor unseren Augen schon entstehenden bürgerlich-demokratischen Ordnung ab. Der eine ist der Kampf des gesamten Volkes für die Freiheit (für die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft), für die Demokratie, d.h. für die Volkssouveränität – der andere ist der Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie für die sozialistische Gesellschaftsordnung.

Somit fällt den Sozialisten die schwere, mühsame Aufgabe zu, gleichzeitig zwei Kriege zu führen, die sowohl nach ihrem Charakter und ihrem Ziel als auch nach der Zusammensetzung der zur entscheidenden Teilnahme an diesem oder jenem Kriege geeigneten sozialen Kräfte äußerst verschiedenartig sind. Diese schwierige Aufgabe hat die Sozialdemokratie klar gestellt und fest entschieden, und zwar dank dem Umstande, dass sie ihr ganzes Programm auf dem wissenschaftlichen Sozialismus, d.h. dem Marxismus, aufgebaut hat und als eine der Abteilungen in die Armee der internationalen Sozialdemokratie eingetreten ist, die die Grundsätze des Marxismus auf Grund der Erfahrung einer langen Reihe demokratischer und sozialistischer Bewegungen der verschiedenen europäischen Länder geprüft, bestätigt, klargestellt und bis in die Einzelheiten entwickelt hat.

Die revolutionäre Sozialdemokratie hat den bürgerlichen Charakter des russischen Demokratismus, beginnend mit seiner liberalen Formulierung durch die Narodniki und endend mit der Formulierung durch die Oswoboschdjenije-Leute, seit jeher immer und immer wieder aufgezeigt. Sie hat die unvermeidliche Halbheit, Beschränktheit und Engherzigkeit des bürgerlichen Demokratismus stets aufgezeigt. Sie hat dem sozialistischen Proletariat in der Epoche der demokratischen Revolution die Aufgabe gestellt, die Bauernmasse auf seine Seite zu ziehen und durch die Paralysierung der Unentschiedenheit der Bourgeoisie den Absolutismus zu zerbrechen und zu zerstören. Der entscheidende Sieg der demokratischen Revolution ist nur möglich in der Form der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Allein je schneller und je vollständiger dieser Sieg verwirklicht werden wird, desto schneller und tiefer werden sich neue Widersprüche und ein neuer Klassenkampf auf der Grundlage der vollständig demokratisierten bürgerlichen Ordnung entfalten. Je vollständiger wir die demokratische Umwälzung verwirklichen werden, um so näher werden wir von Angesicht zu Angesicht den Aufgaben der sozialistischen Umwälzung gegenüberstehen, um so heftiger und schärfer wird der Kampf des Proletariats gegen die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft selbst sein.

Gegen jede Abweichung von dieser Festsetzung der revolutionär-demokratischen und sozialistischen Aufgabe des Proletariats muss die Sozialdemokratie einen ausdauernden Kampf führen. Es wäre widersinnig, den demokratischen, d.h. in seiner Grundlage bürgerlichen Charakter der heutigen Revolution zu ignorieren, und deshalb ist es widersinnig, solche Losungen, wie die der Bildung revolutionärer Kommunen, aufzustellen. Es ist widersinnig und reaktionär, die Aufgaben der Teilnahme, und zwar einer führenden Teilnahme des Proletariats an der demokratischen Revolution, einzuschränken, auch wenn man sich dabei durch die Losung der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft deckt. Es ist widersinnig, die Aufgaben und die Bedingungen der demokratischen und die der sozialistischen Revolution, die, wir wiederholen es, sowohl in ihrem Charakter als auch in der Zusammensetzung der an ihnen teilnehmenden sozialen Kräfte verschiedenartig sind, durcheinander zu bringen.

Gerade bei diesem letzten Fehler wollen wir etwas ausführlicher verweilen. Die mangelhafte Entwicklung der Klassengegensätze im Volke überhaupt und in der Bauernschaft im Besonderen ist in der Epoche der demokratischen Revolution, die zum ersten Mal die Grundlage einer wirklich breiten kapitalistischen Entwicklung schafft, eine unvermeidliche Erscheinung. Diese mangelhafte ökonomische Entwicklung bewirkt das Weiterleben, ja in der einen oder anderen Form sogar ein Wiederaufleben rückständiger Arten des Sozialismus, der dann als kleinbürgerlicher Sozialismus in Erscheinung tritt, weil er die Umgestaltungen, die über den Rahmen der kleinbürgerlichen Verhältnisse nicht hinausgehen, idealisiert. Die Bauernmasse ist sich dessen nicht bewusst und sie kann sich dessen nicht bewusst werden, dass auch die vollste „Freiheit" und die „gerechteste" Aufteilung sogar des gesamten Grund und Bodens den Kapitalismus nicht nur nicht vernichten, sondern im Gegenteil die Bedingungen zu seiner besonders breiten und mächtigen Entwicklung erzeugen werden. Und während die Sozialdemokratie nur den revolutionär-demokratischen Inhalt dieser Bestrebungen der Bauern hervorhebt und unterstützt, macht der kleinbürgerliche Sozialismus aus der mangelnden Erkenntnis der Bauern eine Theorie und verwechselt und vermengt die Bedingungen und Aufgaben der wirklichen demokratischen und einer erdichteten sozialistischen Umwälzung.

Der anschaulichste Ausdruck dieser unklaren kleinbürgerlichen Ideologie ist das Programm, richtiger der Programmentwurf der „Sozialrevolutionäre", die es um so eiliger hatten, sich als Partei auszurufen, je weniger bei ihnen die Formen und Voraussetzungen für die Existenz als Partei entwickelt waren. Bei der Prüfung ihres Programmentwurfs (siehe „Wperjod", Nr. 3) hatten wir schon Gelegenheit zu zeigen, dass die Wurzel der Anschauungen der Sozialrevolutionäre im alten russischen Narodnikitum liegt. Da aber die ganze ökonomische Entwicklung Russlands, der ganze Gang der russischen Revolution dem reinen Narodnikitum rücksichtslos und unbarmherzig täglich und stündlich den Boden unter den Füßen wegzieht, müssen die Anschauungen der Sozialrevolutionäre unvermeidlich eklektisch werden. Sie bemühen sich, die Risse im Narodnikitum mit den Flicken einer in Mode stehenden opportunistischen „Kritik" des Marxismus auszubessern, allein das fadenscheinige Zeug wird dadurch nicht fester. Im großen Ganzen ist ihr Programm etwas absolut Lebloses, innerlich Widerspruchsvolles, das in der Geschichte des russischen Sozialismus nur eine der Etappen des Weges vom fronherrlichen zum bürgerlichen Russland, „vom Narodnikitum zum Marxismus" darstellt. Unter diese Definition, die für eine ganze Reihe mehr oder weniger kleiner Wässerlein im Strom des modernen revolutionären Gedankens zutrifft, fällt auch der neueste Entwurf des Agrarprogramms der Polnischen Sozialistischen Partei PPS, der in Nr. 6/8 des „Przedświt" abgedruckt ist.2

Der Entwurf teilt das Agrarprogramm in zwei Teile. Teil I setzt „jene Reformen" auseinander, „zu deren Durchführung die gesellschaftlichen Verhältnisse schon reif geworden sind"; Teil II „formuliert die Krönung und Zusammenfassung der Agrarreformen, die in Teil I auseinandergesetzt werden". Teil I ist seinerseits in drei Teile gegliedert: A. Arbeiterschutzforderungen im Interesse des landwirtschaftlichen Proletariats; B. Agrarreformen (im engen Sinne oder sozusagen Bauernforderungen) und C. Schutz der landwirtschaftlichen Bevölkerung (Selbstverwaltung usw.).

Ein Schritt zum Marxismus ist in diesem Programm der Versuch, so etwas wie ein Minimalprogramm vom Maximalprogramm abzutrennen; sodann die ganz selbständige Aufstellung von Forderungen rein proletarischen Charakters; ferner in der Begründung zum Programm die Feststellung, dass es für einen Sozialisten absolut unzulässig ist, „den Eigentumsinstinkten der Bauernmassen zu schmeicheln". Wenn man die in der letzten These enthaltene Wahrheit ganz durchdenken und logisch zu Ende entwickeln wollte, so würde dabei eigentlich unvermeidlich ein streng marxistisches Programm herauskommen. Aber das Unglück besteht eben darin, dass die PPS keine konsequent proletarische Partei ist, dass sie ihre Ideen ebenso gern aus dem Brunnen der opportunistischen Kritik am Marxismus schöpft.

Da die Tendenz zur Konzentration des Landeigentums," so lesen wir in der Motivierung des Programms, „nicht bewiesen ist, ist es unmöglich, für diese Wirtschaftsform mit voller Aufrichtigkeit und Überzeugung einzutreten und den Bauer von der Unvermeidlichkeit des Verschwindens der Kleinwirtschaften zu überzeugen."

Das ist nichts anderes als ein Echo der bürgerlichen politischen Ökonomie. Die bürgerlichen Ökonomisten geben sich die allergrößte Mühe, dem Kleinbauer die Idee der Vereinbarkeit des Kapitalismus mit dem Wohlstand des kleinen Bodenbesitzers beizubringen. Darum verschleiern sie die allgemeine Frage der Warenwirtschaft, des kapitalistischen Joches, des Rückgangs und des Niedergangs der kleinen Bauernwirtschaft durch die besondere Frage der Konzentration des Grund- und Bodenbesitzes. Sie schließen die Augen vor der Tatsache, dass sich die Großproduktion in speziellen Handelszweigen der Landwirtschaft sowohl auf dem kleinen als auch auf dem mittleren Bodenbesitz entwickelt, und dass sich dieses Eigentum sowohl infolge des Steigens der Pachtpreise als auch unter dem Druck der Hypotheken und des Wuchers zersetzt. Sie lassen die unleugbare Tatsache der technischen Überlegenheit des Großbetriebes in der Landwirtschaft und die Herabsetzung der Lebensbedingungen des Bauern im Kampfe gegen den Kapitalismus im Dunkeln. Die Worte der PPS sind nur eine Wiederholung der bürgerlichen Vorurteile, die durch die modernen Davids wieder auferstehen.

Die Unbeständigkeit der theoretischen Anschauung zeigt sich auch im praktischen Programm. Man nehme den Teil I: die Agrarreformen im engeren Sinne. Einerseits liest man da Punkt 5: „Abschaffung aller Einschränkungen beim Ankauf von Landparzellen" und 6. „Abschaffung der Scharwerkerei und Spanndienste (Naturalleistungen)". Das sind rein marxistische Minimalforderungen. Bei ihrer Aufstellung (besonders im Punkt 5) macht die PPS im Vergleich zu unseren Sozialrevolutionären, die gleich den „Moskowskije Wjedomosti" eine Schwäche für die „Unveräußerlichkeit der zugeteilten Landanteile"3 haben, einen Schritt vorwärts. Bei der Aufstellung dieser Forderungen nähert sich die PPS ganz der marxistischen Idee des Kampfes gegen die Reste der Leibeigenschaft als Grundlage und Inhalt der heutigen Bauernbewegung. Indem sie sich aber dieser Idee nähert, ist die PPS weit davon entfernt, sie ganz und bewusst in sich aufzunehmen.

Die Hauptpunkte des hier von uns untersuchten Minimalprogramms lauten:

1. Nationalisierung der staatlichen, kirchlichen und Apanageländereien durch Konfiskation;

2. Nationalisierung des Großgrundbesitzes bei Nichtvorhandensein direkter Erben;

3. Nationalisierung der Wälder, Flüsse und Seen."

Diese Forderungen leiden an allen Mängeln eines Programms, das für die heutige Zeit die Forderung der Nationalisierung des Grund und Bodens in den Vordergrund rückt. Solange die volle politische Freiheit und die Souveränität des Volkes nicht zur Tatsache geworden, solange noch keine demokratische Republik da ist, ist die Forderung der Nationalisierung verfrüht und unklug, denn die Nationalisierung ist der Übergang in die Hände des Staates, der heutige Staat aber ist ein Polizei- und Klassenstaat, und der Staat von morgen wird auf jeden Fall ein Klassenstaat sein. Als Losung aber, die vorwärts zur Demokratisierung führt, ist diese Forderung besonders untauglich, denn sie legt das Schwergewicht nicht auf das Verhältnis der Bauern zu den Großgrundbesitzern (die Bauern nehmen das Land der Großgrundbesitzer), sondern auf das Verhältnis der Großgrundbesitzer zum Staat. Eine solche Stellung der Frage ist in dem Augenblick, wo die Bauern auf revolutionärem Wege sowohl gegen die Großgrundbesitzer als auch gegen den Staat der Großgrundbesitzer um den Grund und Boden kämpfen, von Grund auf falsch. Revolutionäre Bauernkomitees zum Zwecke der Konfiskation, als Werkzeug der Konfiskation – das ist die einzige Losung, die einem solchen Augenblick entspricht und in unzertrennlicher Verbindung mit der revolutionären Zerstörung des Großgrundbesitzer-Staates den Klassenkampf gegen die Großgrundbesitzer vorwärtstreibt.

Die übrigen Punkte des agrarischen Minimalprogramms im Entwurf der PPS sind folgende:

4. Einschränkung des Eigentumsrechts, insofern es zum Hindernis der mannigfachen landwirtschaftlichen Verbesserungen (Melioration) wird, wenn diese von der Mehrheit der Interessenten als unbedingt notwendig anerkannt werden …

7. Nationalisierung der Versicherung des Getreides gegen Feuer und Hagel und des Viehs gegen Seuchen;

8. Förderung der Gründung landwirtschaftlicher Arteis und Genossenschaften durch den Staat auf gesetzgebendem Wege;

9. Landwirtschaftliche Schulen."

Diese Punkte sind ganz im Geiste der Sozialrevolutionäre oder (was dasselbe ist) ganz im Geiste der bürgerlichen Reformerei. Sie enthalten nichts Revolutionäres. Freilich sind sie fortschrittlich, darüber ist nicht zu streiten, aber fortschrittlich im Interesse der Besitzenden. Wenn sie von Sozialisten aufgestellt werden, so heißt das eben, den Eigentumsinstinkten schmeicheln. Sie aufzustellen ist dasselbe, wie wenn man vom Staat die Förderung der Truste, Kartelle, Syndikate, Industriellen-Vereinigungen fordern wollte, die nicht weniger „fortschrittlich" sind als die Genossenschaften, Versicherungsvereine usw. in der Landwirtschaft. Das alles ist kapitalistischer Fortschritt. Dafür zu sorgen ist nicht unsere Sache, sondern Sache der Besitzenden, der Unternehmer. Der proletarische Sozialismus zum Unterschied vom kleinbürgerlichen überlässt den Grafen de Roquignie, den großgrundbesitzenden Semstwo-Männern u.a.m. die Sorge für die Kooperation der großen und kleinen Unternehmer; er selbst sorgt ohne Ausnahme und ausschließlich für die Kooperation der Lohnarbeiter für den Kampf gegen die Unternehmer.

Schauen wir uns jetzt den zweiten Teil des Programms an.

Er besteht aus dem einen Punkt:

Nationalisierung des Großgrundbesitzes auf dem Wege der Konfiskation. Ackerland und Wiesen, die auf diese Art vom Volke erworben werden, müssen in Parzellen geteilt und den landlosen oder landarmen Bauern in langjährige, gesicherte Pacht verteilt werden."

Eine gute „Krönung", das muss man sagen! Eine Partei, die sich sozialistisch nennt, schlägt als „Krönung und Zusammenfassung der Agrarreformen" keineswegs eine sozialistische Gesellschaftsordnung vor, sondern eine sinnlose kleinbürgerliche Utopie. Wir haben hier das anschaulichste Beispiel des vollständigen Durcheinanderwerfens der demokratischen und der sozialistischen Umwälzung und des gänzlichen Nichtverstehens ihrer verschiedenartigen Ziele vor uns. Der Übergang des Grund und Bodens von den Großgrundbesitzern an die Bauern kann – und war auch überall in Europa – ein Bestandteil der demokratischen Umwälzung, eine der Etappen der bürgerlichen Revolution sein; ihn aber als ihre „Krönung" oder „Vollendung" zu bezeichnen, sind nur bürgerliche Radikale imstande. Die Neuaufteilung des Grund und Bodens unter diese oder jene Kategorien von Eigentümern, unter diese oder jene Klassen von Wirtschaftsbesitzern, kann vorteilhaft und notwendig sein im Interesse des Sieges der Demokratie, im Interesse der vollständigen Beseitigung der Reste der Leibeigenschaft, der Hebung der Lebenshaltung der Masse, der Beschleunigung der kapitalistischen Entwicklung usw., und die entschiedenste Unterstützung einer solchen Maßnahme kann für das sozialistische Proletariat in der Epoche der demokratischen Revolution Pflicht sein; aber die „Krönung und Vollendung" kann nur die sozialistische und nicht die kleinbürgerliche Produktionsweise sein. Die „Sicherstellung" der kleinbäuerlichen Pacht unter Beibehaltung der Warenwirtschaft und des Kapitalismus ist eine reaktionäre, kleinbürgerliche Utopie und sonst nichts.

Wir sehen jetzt, dass der Grundirrtum der PPS nicht nur ihr allein eigen, nicht einzigartig und nicht zufällig ist. Er verkörpert in einer klareren und deutlicheren Form (als die berüchtigte „Sozialisierung" der Sozialrevolutionäre, die von diesen selbst nicht verstanden wird) den grundlegenden Irrtum des ganzen russischen Narodnikitums, des gesamten russischen bürgerlichen Liberalismus und Radikalismus in der Agrarfrage, bis zu jener Frage, die in den Debatten auf dem letzten Kongress der Semstwo-Männer (im September) in Moskau zum Ausdruck kam.

Diesen Grundirrtum kann man folgendermaßen formulieren:

In der Festsetzung der nächstliegenden Ziele ist das Programm der PPS nicht revolutionär. In seinem Endziel ist es nicht sozialistisch.

Oder anders: das Nichtbegreifen des Unterschiedes zwischen der demokratischen und der sozialistischen Umwälzung führt dahin, dass bei den demokratischen Aufgaben deren wirklich revolutionäre Seite nicht zur Geltung kommt, während in die sozialistischen Aufgaben die ganze Unklarheit der bürgerlich-demokratischen Weltanschauung hineingebracht wird. So ergibt sich eine Losung, die für einen Demokraten ungenügend revolutionär, für einen Sozialisten aber unverzeihlich verworren ist.

Dagegen wird das Programm der Sozialdemokratie allen Forderungen sowohl der Unterstützung eines wahrhaft revolutionären Demokratismus als auch der Aufstellung eines klaren sozialistischen Zieles gerecht. In der heutigen Bauernbewegung sehen wir den Kampf gegen die Leibeigenschaft, den Kampf gegen die Grundherren und ihren Staat. Diesen Kampf unterstützen wir bis zum Ende. Für diese Unterstützung ist die einzige richtige Losung: Beschlagnahme durch die revolutionären Bauernkomitees. Was mit den konfiszierten Ländereien geschehen soll, ist eine Frage zweiter Ordnung. Diese Frage werden nicht wir, sondern die Bauern lösen. Bei ihrer Lösung wird eben der Kampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie unter der Bauernschaft beginnen. Deshalb lassen wir diese Frage entweder offen (was den kleinbürgerlichen Projektemachern so sehr missfällt), oder wir zeigen von uns aus nur den Anfang des Weges, in der Form der Wegnahme der abgetrennten Bodenstücke (darin sehen die oberflächlich Denkenden ein Hindernis für die Bewegung, trotz der zahlreichen Erläuterungen durch die Sozialdemokratie).

Damit sich die Agrarreform, die im modernen Russland unvermeidlich ist, revolutionär-demokratisch auswirke, gibt es nur ein Mittel: sie durch die revolutionäre Initiative der Bauern selbst, gegen die Grundherren und Bürokraten, gegen den Staat verwirklichen zu lassen, also die Verwirklichung auf revolutionärem Wege. Die schlechteste Verteilung des Grund und Bodens wird nach einer solchen Umgestaltung in jeder Hinsicht besser sein als die heutige. Und diesen Weg zeigen wir, indem wir an die Spitze unserer Forderungen die revolutionären Bauernkomitees stellen.

Zugleich aber sagen wir dem Landproletariat:

Der radikalste Sieg der Bauern, zu dem du mit allen Kräften beitragen musst, wird dich von der Bettelarmut nicht befreien. Zu diesem Ziele fährt nur ein Mittel: der Sieg des gesamten Proletariats, sowohl des industriellen als auch des landwirtschaftlichen, über die gesamte Bourgeoisie, die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft."

Zusammen mit den bäuerlichen Besitzern gegen die Grundherren und ihren Staat, zusammen mit dem städtischen Proletariat gegen die gesamte Bourgeoisie und gegen alle bäuerlichen Eigentümer – das ist die Losung des klassenbewussten ländlichen Proletariats. Und wenn die Kleinbesitzer diese Losung auch nicht sofort oder vielleicht überhaupt nicht annehmen, so wird sie dafür zur Losung der Arbeiter, so wird sie unbedingt durch die ganze Revolution bestätigt werden und uns von den kleinbürgerlichen Illusionen befreien. Sie wird uns klar und bestimmt unser sozialistisches Ziel zeigen.

1 „Zwei Nationen", aus dem Titel des Romans „Sibylla oder die zwei Nationen" von dem englischen Dichter und Staatsmann Disraeli, Graf von Beaconsfield (1804-1881).

2 „Przedświt" (Morgendämmerung), die im Jahre 1881 in Genf gegründete Monatsschrift der PPS (Polnische Sozialistische Partei). Im Jahre 1905 erschien sie in Krakau unter der Redaktion von Thadäusz Bobrowski. Der „Entwurf eines Agrarprogramms" („Projekt programmu rolnego") erschien in Nr. 6–8 vom Juni-August.

3 Der Frage der „Unveräußerlichkeit der zugeteilten Landanteile" war in den „Moskowskije Wjedomosti" eine Reihe von Artikeln gewidmet, von denen hier zwei in Betracht kommen: der ungezeichnete Artikel in Nr. 246 vom 8./21. September 1905 „Die Sicherstellung des Bodens für die Bauern" und der ebenfalls nicht gezeichnete Artikel „Politische Hochstapelei" in Nr. 257 vom 19. September/2. Oktober 1905.

Kommentare