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Wladimir I. Lenin 19050609 Zusammenbruch

Wladimir I. Lenin: Zusammenbruch

[Proletarij" Nr. 3, 27. Mai/9. Juni 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, Wien-Berlin 1929, S. 452-456]

Die Seeschlacht in der Straße von Korea fesselt die Aufmerksamkeit der politischen Presse der ganzen Welt. Zunächst versuchte die zaristische Regierung die bittere Wahrheit vor ihren getreuen Untertanen zu verheimlichen, sie überzeugte sich aber bald von der Aussichtslosigkeit dieses Beginnens. Die völlige Vernichtung der gesamten russischen Flotte zu verheimlichen, wäre sowieso unmöglich gewesen.

Bei der Würdigung der politischen Bedeutung der letzten Seeschlacht müssen wir das wiederholen, was wir in Nr. 2 des „Wperjod" anlässlich des Falls von Port Arthur gesagt haben. Der vollständige militärische Zusammenbruch des zaristischen Russlands war schon damals offensichtlich, allein das baltische Geschwader ließ den russischen Patrioten einen Hoffnungsschimmer. Alle begriffen, dass der endgültige Ausgang des Krieges von dem Sieg der einen oder der anderen Seite zur See abhängt. Der Absolutismus erkannte, dass ein unglücklicher Kriegsausgang gleichbedeutend ist mit dem Siege des „inneren Feindes", d. h. mit dem Siege der Revolution. Deshalb wurde alles auf eine Karte gesetzt. Hunderte von Millionen Rubel wurden verausgabt, um das baltische Geschwader eiligst nach dem Kriegsschauplatz zu entsenden. Eine zusammengewürfelte Bemannung wurde zusammengestellt, in aller Eile die letzten Vorkehrungen der Kriegsschiffe zur Ausfahrt getroffen, die Zahl dieser Schiffe vergrößert, indem den mächtigen Panzerschiffen die „alten Kästen" hinzugefügt wurden. Eine große Armada – ebenso groß, ebenso schwerfällig, sinnlos, ohnmächtig ungeheuerlich, wie das ganze Russische Reich – stach in See wahnsinnig viel Geld für Kohlen, für den Unterhalt verausgabend, das allgemeine Gelächter Europas, besonders nach dem glorreichen Sieg über die Fischerboote, hervorrufend, alle Gebräuche und Forderungen der Neutralität aufs Gröbste verletzend. Nach den bescheidensten Berechnungen kostete diese Armada ungefähr 300 Millionen Rubel, außerdem kam der Transport auf 100 Millionen Rubel zu stehen – insgesamt wurden also 400 Millionen Rubel für diesen letzten militärischen Einsatz des zaristischen Absolutismus zum Fenster hinausgeworfen.

Nun ist auch der letzte Einsatz verloren. Alle haben das erwartet, aber niemand dachte, dass die Niederlage der russischen Flotte zu einer so grausamen Vernichtung werden würde. Wie eine Horde Wilder stürzte sich die Armada der russischen Schiffe direkt auf die vorzüglich bewaffnete und mit allen modernen Verteidigungsmitteln ausgestattete japanische Flotte. Eine zweitägige Schlacht – und von den zwanzig Kriegsschiffen Russlands mit den 12 bis 15.000 Mann Besatzung waren dreizehn versenkt, vier gefangengenommen, und nur eines („Almas") konnte sich retten und entkam nach Wladiwostok. Die größere Hälfte der Besatzung kam um, Roschdestwenski „selber", ebenso wie sein nächster Gehilfe Nebogatow, wurde gefangengenommen, während die ganze japanische Flotte aus dem Kampf unversehrt hervorging, sie verlor im ganzen drei Torpedoboote.

Die russische Kriegsflotte ist endgültig vernichtet. Der Krieg ist unabänderlich verloren. Die völlige Vertreibung der russischen Truppen aus der Mandschurei, die Eroberung Sachalins und Wladiwostoks durch die Japaner ist jetzt nur eine Frage der Zeit. Wir haben vor uns nicht nur eine militärische Niederlage, sondern den vollständigen militärischen Zusammenbruch des Absolutismus.

Die Bedeutung dieses Zusammenbruchs als eines Zusammenbruchs des ganzen politischen Systems des Zarismus wird mit jedem neuen Schlag der Japaner sowohl für Europa als auch für das ganze russische Volk immer klarer. Alles wendet sich gegen den Absolutismus – die verletzte nationale Selbstliebe der großen und kleinen Bourgeoisie und der empörte Stolz der Armee, die Bitterkeit über den Verlust von Zehntausenden und Hunderttausenden junger Menschenleben in dem sinnlosen Kriegsabenteuer und die Erbitterung gegen die Veruntreuung von Hunderten von Millionen Volksgelder, die Furcht vor dem unvermeidlichen finanziellen Zusammenbruch und einer langen Wirtschaftskrise infolge dieses Krieges und die Angst vor der drohenden Volksrevolution, die (nach der Meinung der Bourgeoisie) der Zar durch rechtzeitige „vernünftige" Zugeständnisse abwenden könnte und müsste. Das Verlangen nach Frieden wächst und breitet sich aus, die liberale Presse ist entrüstet, selbst die gemäßigtesten Elemente, wie die Grundbesitzer der „Schipowschen" Richtung, beginnen zu drohen, und sogar das lakaienhafte „Nowoje Wremja" fordert die sofortige Einberufung einer Volksvertretung.1

Die europäische Bourgeoisie, diese sicherste Stütze der zaristischen Macht, beginnt ebenfalls die Geduld zu verlieren. Es ängstigt sie die unvermeidliche Umgruppierung in den internationalen Beziehungen, die wachsende Macht des jugendfrischen Japans, der Verlust eines militärischen Bundesgenossen in Europa. Es beunruhigt sie das Schicksal jener Milliarden, die sie großmütig dem Absolutismus geliehen hatte. In ernste Unruhe versetzt sie die russische Revolution, die das europäische Proletariat zu sehr erregt und einen revolutionären Weltbrand heraufzubeschwören droht. Im Namen der „Freundschaft" mit dem Zarismus appelliert sie an seine Vernunft, dringt sie auf Frieden – Frieden mit den Japanern und Frieden mit der liberalen russischen Bourgeoisie. Europa verschließt keineswegs die Augen davor, dass der Friede mit Japan jetzt nur um einen sehr hohen Preis erkauft werden kann, aber es kalkuliert nüchtern und geschäftlich, dass jeder neue Monat des Krieges nach außen und der Revolution im Innern diesen Preis unvermeidlich erhöht und die Gefahr vergrößert, dass eine revolutionäre Explosion die ganze Politik der „Zugeständnisse" wie ein Sandkörnchen hinwegfegen würde. Europa begreift, dass es dem Absolutismus furchtbar schwer, ja fast unmöglich ist, jetzt haltzumachen – er hat sich bereits zu weit vor gewagt! – und nun versucht dieses bürgerliche Europa, sich selbst und seinen Verbündeten mit rosigen Trugbildern zu beruhigen.

Folgendes schreibt z. B. das Blatt der französischen patriotischen Bourgeoisie, „Le Siècle"2, in einem Artikelchen von Cornély, betitelt „Das Ende einer Epopöe":

Jetzt, wo die Russen nach einer Reihe von Niederlagen zu Lande auch zu Wasser geschlagen worden sind, fällt ihrer Regierung die Pflicht zu, Frieden zu schließen und ihre militärischen Kräfte zu reorganisieren. Abenteuerliche Regierungen sind mitunter infolge ihrer Ansprüche oder zu ihrer Sicherheit gezwungen, die Völker, über die sie herrschen, in einen Krieg hineinzuziehen. Und da für solche Regierungen der Einsatz im Kampfe um den Sieg ihre eigene Existenz ist, so verlangen sie von ihren Völkern immer neue und neue Opfer und führen sie so in das endgültige Verderben. So war in Frankreich die Geschichte unserer beiden Kaiserreiche. So wäre auch die Geschichte des dritten Kaiserreichs, wenn es gelungen wäre, bei uns ein solches zu schaffen.

Dagegen ist die Lage der russischen Regierung eben eine andere; diese beruht auf den Tiefen des russischen Volkes, und das gemeinsame Unglück entzweit nicht die Regierung und das Volk, sondern kittet sie nur fester zusammen. Ein besiegter Cäsar ist kein Cäsar mehr. Ein unglücklicher Zar kann doch ein heiliger und populärer Zar bleiben."

О weh! о weh! Die Prahlerei des chauvinistischen französischen Krämers ist „schon zu offenkundig", seine Beteuerungen, der Krieg habe die russische Regierung und das russische Volk nicht entzweit, stehen zu den allgemein bekannten Tatsachen so sehr im Widerspruch, dass sie ein Lächeln hervorrufen und als naiver und einfältiger Kniff erscheinen. Um seinen Freund und Bundesgenossen, den russischen Selbstherrscher, vor dem unvermeidlichen Zusammenbruch, dem er, wie ein wahrer „Cäsar", blind und starrsinnig entgegengeht, zu bewahren, versichert der französische Bourgeois freundlich diesem Cäsar, dass er anderen Cäsaren nicht ähnlich sein dürfe, dass er noch einen andern, bessern Ausweg habe. „Was die Menschen wünschen, das glauben sie gern." Die französische Bourgeoisie möchte so gern einen mächtigen Bundesgenossen – den Zaren – haben, dass sie sich mit einem romantischen Märchen von dem Unglück, das das russische Volk mit dem Zaren zusammenkitte, einlullt. Ernsthaft glaubt selbstverständlich Herr Cornély selbst nicht an dieses Märchen – um so weniger haben wir Veranlassung, es ernst zu nehmen.

Abenteuerliche Regierungen pflegen nicht nur die von Cäsaren zu sein, sondern auch die der legitimsten Monarchen der ältesten Dynastie. Im russischen Absolutismus, der um ein ganzes Jahrhundert hinter der Geschichte zurückgeblieben ist, gibt es mehr Abenteuerliches als in irgendeinem der französischen Kaiserreiche. Der Absolutismus hat in geradezu abenteuerlicher Weise das Volk in den sinnlosen und schändlichen Krieg gestürzt. Nun steht er jetzt vor dem verdienten Ende. Der Krieg hat alle seine Eiterbeulen aufgedeckt, seine ganze Fäulnis zum Vorschein gebracht, seine völlige Entzweiung mit dem Volke aufgezeigt und die einzigen Stützen der Cäsarenherrschaft zerschlagen. Der Krieg erwies sich als furchtbarer Richter. Das Volk hat sein Urteil über diese Regierung von Räubern bereits gesprochen. Die Revolution wird dieses Urteil vollstrecken.

1 Am 18./31. Mai 1905, gleich nach der Seeschlacht, schrieb das „Nowoje Wremja": „…die gegenwärtige Lage erfordert den sofortigen Zusammentritt von Vertretern des russischen Landes, ohne den Abschluss der Arbeiten der Bulygin-Kommission abzuwarten".

2 Das Zitat ist aus der Nummer vom 30. Mai 1905 entnommen.

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