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Wladimir I. Lenin 19061013 Der Partisanenkampf

Wladimir I. Lenin: Der Partisanenkampf

[Proletarij" Nr. 5, 13. Oktober (30. September) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 113-125]

Die Frage der Partisanenaktionen hat in der Partei und den Arbeitermassen ein starkes Interesse geweckt. Wir haben diese Frage schon wiederholt gestreift und beabsichtigen jetzt, die versprochene zusammenfassende Darstellung unserer Ansichten zu geben.

I.

Beginnen wir mit dem Anfang. Welches sind die Grundforderungen, die jeder Marxist bei der Untersuchung der Frage der Kampfformen stellen muss? Erstens unterscheidet sich der Marxismus von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, dass er die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet. Er erkennt die allerverschiedensten Kampfformen an, und zwar „denkt er sie nicht aus", sondern verallgemeinert sie nur, organisiert sie und trägt das Element des Bewusstseins in jene Kampfformen der revolutionären Klassen, die im Verlauf der Bewegung von selbst entstehen. Der Marxismus lehnt alle abstrakten Formen, alle doktrinären Rezepte unbedingt ab und verlangt ein aufmerksames Studium des in Gang befindlichen Massenkampfes, der mit der Entwicklung der Bewegung, mit dem Wachsen des Bewusstseins der Massen, mit der Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Krisen immer neue und verschiedenartigere Methoden der Verteidigung und des Angriffes hervorbringt. Deshalb denkt der Marxismus gar nicht daran, ein für allemal irgendwelche Kampfformen abzulehnen. Der Marxismus beschränkt sich keineswegs nur auf die Kampfformen, die im gegebenen Augenblick möglich und gebräuchlich sind, sondern hält es für unvermeidlich, dass neue Kampfformen bei Änderung der gegebenen sozialen Konjunktur, die in der gegebenen Periode noch niemand kennt, auftauchen. Der Marxismus lernt in dieser Beziehung, wenn man sich so ausdrücken darf, aus der Massenpraxis und ist weit davon entfernt, darauf Anspruch zu erheben, die Massen Kampfformen zu lehren, die von Kabinetts-„Systematikern" ausgeklügelt werden. Wir wissen – sagte z. B. Kautsky, als er die Formen der sozialen Revolution untersuchte –, dass die kommende Krise uns neue Kampfformen bescheren wird, die wir jetzt nicht voraussehen können.1

Zweitens verlangt der Marxismus unbedingt eine historische Untersuchung der Frage der Kampfformen. Diese Frage außerhalb der historisch-konkreten Situation behandeln, heißt das Abc des dialektischen Materialismus nicht verstehen. In verschiedenen Augenblicken der ökonomischen Evolution, in Abhängigkeit von verschiedenen politischen, national-kulturellen, sozialen und sonstigen Bedingungen, treten verschiedene Kampfformen in den Vordergrund, werden zu Hauptformen des Kampfes, im Zusammenhang hiermit wieder erfahren auch die Kampfformen zweiten Grades, die Kampfformen von untergeordneter Bedeutung, eine Wesensänderung. Die Frage der Anwendbarkeit eines bestimmten Kampfmittels zu bejahen oder zu verneinen versuchen, ohne eingehend die konkrete Situation der gegebenen Bewegung auf der gegebenen Stufe ihrer Entwicklung zu untersuchen, heißt den Boden des Marxismus völlig verlassen.

Das sind die beiden grundlegenden theoretischen Sätze, die wir zur Richtschnur nehmen müssen. Die Geschichte des Marxismus in Westeuropa gibt uns eine Unmenge von Beispielen, die das Gesagte bestätigen. Die europäische Sozialdemokratie hält gegenwärtig den Parlamentarismus und die Gewerkschaftsbewegung für die Hauptformen des Kampfes. Sie hat früher den Aufstand anerkannt und ist durchaus bereit, ihn auch in der Zukunft bei Änderung der Konjunktur anzuerkennen, – entgegen der Meinung der liberalen Bourgeois vom Schlage der russischen Kadetten und der Bessaglawzy. Die Sozialdemokratie hat den Generalstreik in den siebziger Jahren als ein soziales Allheilmittel, als Mittel zum sofortigen Sturz der Bourgeoisie auf unpolitischem Wege, abgelehnt, – aber die Sozialdemokratie erkennt den politischen Massenstreik (besonders nach der russischen Erfahrung von 1905) als ein Kampfmittel, das unter gewissen Bedingungen notwendig ist, vollkommen an. Die Sozialdemokratie hat in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Barrikadenkampf anerkannt, sie hat ihn auf Grund bestimmter Voraussetzungen am Ende des 19. Jahrhunderts abgelehnt, – und sie hat ihre völlige Bereitschaft erklärt, diese ihre letzte Stellungnahme zu revidieren und nach der Erfahrung Moskaus, das nach den Worten K. Kautskys eine neue Barrikadentaktik hervorgebracht hat, den Barrikadenkampf als zweckmäßig anzuerkennen.

II.

Nachdem wir diese allgemeinen Grundsätze des Marxismus festgestellt haben, wollen wir zur russischen Revolution übergehen. Erinnern wir uns an die geschichtliche Entwicklung der Kampfformen, die sie hervorgebracht hat. Zuerst wirtschaftliche Streiks der Arbeiter (1896–1900), dann politische Demonstrationen der Arbeiter und Studenten (1901 und 1902), Bauernunruhen (1902), der Beginn von politischen Massenstreiks in verschiedenartigen Verbindungen mit Demonstrationen (Rostow 1902, die Sommerstreiks von 1903, der 22. [9.] Januar 1905), der politische Generalstreik mit Barrikadenkämpfen an einzelnen Orten (Oktober 1905), Barrikaden-Massenkampf und bewaffneter Aufstand (Dezember 1905), friedlicher parlamentarischer Kampf (April/Juli 1906), militärische Teilaufstände (Juni 1905 bis Juni 1906), Teilaufstände der Bauern (Herbst 1905 bis Herbst 1906).

Das war die Entwicklung der Dinge bis zum Herbst 1906 vom Standpunkt der Kampfformen überhaupt. Die Kampfform, mit der der Absolutismus diese Kampfformen „beantwortete", war der Schwarzhunderter-Pogrom, angefangen vom Kischinewer Pogrom im Frühjahr 1903 und endend mit dem Sedlezer Pogrom vom Herbst 1906. Während dieser ganzen Zeit schreitet die Organisierung der Schwarzhunderter-Pogrome und der Misshandlungen der Juden, Studenten, Revolutionäre und klassenbewussten Arbeiter immer weiter fort, wird immer mehr vervollkommnet, zu den Gewalttätigkeiten eines gekauften Mobs gesellen sich die Gewalttätigkeiten von reaktionären Truppen, es kommt zur Anwendung von Artillerie in Dörfern und Städten, Strafexpeditionen werden unternommen, auf den Bahnstrecken kursieren Strafzüge usw.

Das ist der allgemeine Hintergrund des Bildes. Auf diesem Hintergrund tritt – zweifellos als ein Teil, als etwas Zweitrangiges, Nebensächliches – die Erscheinung in den Vordergrund, deren Studium und Bewertung der vorliegende Aufsatz gewidmet ist. Welches ist diese Erscheinung? Welches sind ihre Formen? Ihre Ursachen? Zeit der Entstehung und Grad der Verbreitung? Ihre Bedeutung im allgemeinen Verlauf der Revolution? Ihre Beziehung zum Kampf der Arbeiterklasse, der von der Sozialdemokratie organisiert und geleitet wird? Das sind die Fragen, zu denen wir jetzt übergehen müssen, nachdem wir den allgemeinen Hintergrund des Bildes entworfen haben.

Die Erscheinung, die uns interessiert, ist der bewaffnete Kampf. Er wird von einzelnen Personen und kleinen Gruppen von Personen geführt. Teils gehören sie revolutionären Organisationen an, teils (in manchen Gebieten Russlands größtenteils) gehören sie keiner revolutionären Organisation an. Der bewaffnete Kampf verfolgt zwei verschiedene Ziele, die man streng voneinander unterscheiden muss; dieser Kampf verfolgt erstens das Ziel der Tötung von einzelnen Personen, höheren Beamten und Subalternen in Polizei und Heer; zweitens die Beschlagnahme von Geldmitteln sowohl bei der Regierung als auch bei Privatpersonen. Die beschlagnahmten Mittel fließen teils der Partei zu, teils werden sie zur Bewaffnung und zur Vorbereitung des Aufstandes, teils für den Unterhalt der Personen verwandt, die den von uns geschilderten Kampf führen. Die Mittel, die bei großen Expropriationen erbeutet wurden (mehr als 200 000 Rubel bei der kaukasischen, 875 000 Rubel bei der Moskauer Expropriation) , flossen in erster Linie den revolutionären Parteien zu, – kleinere Expropriationen dienten vor allem, manchmal aber auch ausschließlich, dem Lebensunterhalt der „Expropriateure". Einen besonderen Aufschwung, eine besonders große Verbreitung erlangte diese Kampfform zweifellos erst im Jahre 1906, d. h. nach dem Dezemberaufstand. Die Verschärfung der politischen Krise bis zum bewaffneten Aufstand und insbesondere die Verschärfung der Not, des Hungers, der Arbeitslosigkeit in den Dörfern und in den Städten spielten unter den Ursachen, die den geschilderten Kampf hervorriefen, eine große Rolle. Als vorwiegende und sogar ausschließliche Form des sozialen Kampfes wurde diese Kampfform von den deklassierten Elementen der Bevölkerung, Lumpenproletariern und anarchistischen Gruppen aufgegriffen. Als Kampfform, mit der der Absolutismus den bewaffneten Kampf „beantwortete", ist der Kriegszustand, die Einberufung neuer Jahrgänge, Schwarzhunderter-Pogrome (Sedlez) und Feldgerichte zu betrachten.

III.

Die Bewertung, die man dieser Kampfform gewöhnlich zuteil werden lässt, lautet folgendermaßen: Es ist Anarchismus, Blanquismus, der alte Terror, Handlungen von Einzelpersonen, die von den Massen losgerissen sind, solche Handlungen demoralisieren die Arbeiter, stoßen breite Kreise der Bevölkerung von ihnen ab, desorganisieren die Bewegung, schaden der Revolution. Beispiele, die eine solche Bewertung bestätigen, werden mit Leichtigkeit den tagtäglichen Zeitungsmeldungen entnommen.

Sind diese Beispiele aber beweiskräftig? Zur Prüfung wollen wir ein Gebiet nehmen, in dem die geschilderte Kampfform die größte Verbreitung erlangt hat – das lettische Gebiet. Die Zeitung „Nowoje Wremja" beklagt sich (in ihren Nummern vom 21. (8.) und 25. (12.) September)2 bitterlich über die Tätigkeit der lettischen Sozialdemokratie. Die Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (ein Teil der SDAPR) gibt eine regelmäßig, in einer Auflage von 30.000 Exemplaren erscheinende Zeitung heraus. In dem offiziellen Teil werden Listen von Spitzeln veröffentlicht, deren Vernichtung jedem ehrlichen Menschen zur Pflicht gemacht wird. Wer der Polizei Hilfe leistet, wird für einen „Feind der Revolution" erklärt und unterliegt der Hinrichtung, außerdem ist sein Eigentum verfallen. Die Sozialdemokraten befehlen der Bevölkerung, Geld für die Partei nur gegen abgestempelte Quittungen auszuhändigen. In der letzten Abrechnung der Partei werden unter 48.000 Rubel Einnahme für ein Jahr 5600 Rubel von der Libauer Organisation angeführt, die durch eine Expropriation für den Erwerb von Waffen erbeutet wurden. „Nowoje Wremja" schäumt natürlich vor Wut über diese „revolutionäre Gesetzgebung", diese „Schreckensregierung".

Niemand wird sich erlauben, diese Tätigkeit der lettischen Sozialdemokraten als Anarchismus, Blanquismus oder Terrorismus zu bezeichnen. Weshalb? Weil hier die Verbindung der neuen Kampfform mit dem Aufstand, der im Dezember stattgefunden hat und der von neuem heranreift, klar erkenntlich ist. Wenn man Russland als Ganzes nimmt, ist diese Verbindung nicht so klar erkenntlich, aber sie ist vorhanden. Es ist unzweifelhaft, dass der vPartisanen"kampf gerade nach dem Dezember Verbreitung erlangt hat, dass er nicht nur mit der Verschärfung der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen Krise in Zusammenhang steht. Der alte russische Terrorismus war ein Werk von verschwörerischen Intellektuellen; jetzt wird der Partisanenkampf in der Regel von Arbeitern oder Arbeitslosen geführt, die Kampfabteilungen angehören. Auf den Gedanken des Blanquismus und Anarchismus kommen leicht Leute, die zur Schablonenhaftigkeit neigen; gegenüber einer Situation des Aufstandes aber, wie sie im lettischen Gebiet so offenkundig gegeben ist, sind solche auswendig gelernten Phrasen ganz augenscheinlich hinfällig.

Am Beispiel der Letten kann man besonders deutlich erkennen, wie völlig unrichtig, unwissenschaftlich, unhistorisch es ist, den Partisanenkampf, wie es bei uns so gebräuchlich ist, unabhängig von der Situation des Aufstandes zu analysieren. Man muss diese Situation in Betracht ziehen, muss bedenken, welche Eigenarten die Übergangszeit zwischen großen Etappen des Aufstandes aufweist, muss begreifen, welche Kampfformen hierbei unvermeidlich entstehen, und darf nicht mit ein paar auswendig gelernten Worten, wie Anarchismus, Raub, Lumpenproletariat, wie sie gleichermaßen bei den Kadetten und den Leuten vom „Nowoje Wremja" üblich sind, darüber hinweggehen.

Man sagt: die Partisanenaktionen desorganisieren unsere Arbeit. Untersuchen wir, wie weit dies Urteil auf die Situation nach dem Dezember 1905, auf die Ära der Schwarzhunderter-Pogrome und des Kriegszustandes zutrifft. Was desorganisiert die Bewegung in einer solchen Ära mehr: das Fehlen eines Widerstandes oder ein organisierter Partisanenkampf? Vergleichen wir Zentralrussland mit den westlichen Randgebieten, mit Polen und Lettland. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Partisanenkampf in den westlichen Randgebieten bedeutend weiter verbreitet und höher entwickelt ist, es unterliegt ebenso keinem Zweifel, dass die revolutionäre Bewegung überhaupt und die sozialdemokratische Bewegung insonderheit in Zentralrussland mehr desorganisiert ist. Es fällt uns natürlich gar nicht ein, hieraus den Schluss zu ziehen, dass die polnische und die lettische sozialdemokratische Bewegung dank dem Partisanenkampf weniger desorganisiert sind. Nein. Hieraus folgt nur, dass der Partisanenkampf an der Desorganisierung der russischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im Jahre 1906 keine Schuld trägt.

Man beruft sich hierbei nicht selten auf die Besonderheit der nationalen Bedingungen. Diese Berufung aber offenbart ganz besonders deutlich die Schwäche der landläufigen Argumentation. Wenn es sich um nationale Bedingungen handelt, dann handelt es sich eben nicht um Anarchismus, Blanquismus oder Terrorismus – um allgemein russische oder sogar speziell russische Sünden –, sondern um etwas anderes. Untersucht dies andere konkret, Herrschaften! Ihr werdet dann sehen, dass die nationale Unterdrückung oder der nationale Antagonismus nichts erklären, denn sie waren in den westlichen Randgebieten stets vorhanden, den Partisanenkampf aber hat erst die gegebene historische Periode hervorgebracht. Es gibt viele Gebiete, wo es nationale Unterdrückung und Antagonismus, aber keinen Partisanenkampf gibt, der sich manchmal ohne jede nationale Unterdrückung entfaltet. Eine konkrete Untersuchung der Frage wird zeigen, dass es sich nicht um nationale Unterdrückung, sondern um die Bedingungen des Aufstandes handelt. Der Partisanenkampf ist eine unvermeidliche Kampfform in einer Zeit, wo die Massenbewegung in Wirklichkeit schon zum Aufstand herangereift ist und mehr oder minder große Pausen zwischen „großen Schlachten" im Bürgerkrieg eintreten.

Desorganisiert wird die Bewegung nicht durch Partisanenaktionen, sondern durch die Schwäche der Partei, die es nicht versteht, diese Aktionen in ihre Hände zu nehmen. Deswegen gehen die bei uns Russen üblichen Bannflüche gegen die Partisanenaktionen Hand in Hand mit geheimen, zufälligen, unorganisierten Partisanenaktionen, die die Partei wirklich desorganisieren. Wenn wir unfähig sind, zu begreifen, welche geschichtlichen Bedingungen diesen Kampf hervorrufen, sind wir auch unfähig, seine schlechten Seiten auszumerzen. Nichtsdestoweniger findet der Partisanenkampf statt. Machtvolle wirtschaftliche und politische Ursachen rufen ihn hervor. Wir sind nicht imstande, diese Ursachen und diesen Kampf zu beseitigen. Unsere Klagen über den Partisanenkampf sind Klagen über die Schwäche unserer Partei im Werke der Organisierung des Aufstandes.

Was wir über die Desorganisierung gesagt haben, gilt auch für die Demoralisierung. Nicht der Partisanenkampf demoralisiert, sondern die Unorganisiertheit, die Unordentlichkeit der Partisanenaktionen, der Umstand, dass die Leitung nicht in den Händen der Partei liegt. Von dieser ganz unzweifelhaften Demoralisierung können wir uns auch nicht im Geringsten dadurch befreien, dass wir die Partisanenaktionen verurteilen und verfluchen, denn diese Verurteilungen und Verfluchungen sind keineswegs imstande, einer Erscheinung Einhalt zu gebieten, die durch tiefe wirtschaftliche und politische Ursachen hervorgerufen ist. Man wird entgegnen: wenn wir nicht die Kraft haben, einer regelwidrigen und demoralisierenden Erscheinung Einhalt zu gebieten, so ist das gar kein Grund für die Partei, zu regelwidrigen und demoralisierenden Kampfmitteln überzugehen. Ein solcher Einwand aber wäre bereits rein liberal-bürgerlich und nicht marxistisch, denn der Marxist kann den Bürgerkrieg oder den Partisanenkampf als eine seiner Formen nicht für überhaupt regelwidrig und demoralisierend halten. Der Marxist steht auf dem Boden des Klassenkampfes und nicht des sozialen Friedens. In gewissen Perioden scharfer wirtschaftlicher und politischer Krisen entwickelt sich der Klassenkampf zum unmittelbaren Bürgerkrieg, d. h. zum bewaffneten Kampf zwischen zwei Teilen des Volkes. In solchen Perioden ist der Marxist verpflichtet, auf dem Standpunkt des Bürgerkrieges zu stehen. Jede moralische Verurteilung des Bürgerkrieges ist vom Standpunkt des Marxismus völlig unzulässig.

In der Epoche des Bürgerkrieges ist eine kriegführende Partei das Ideal einer Partei des Proletariats. Das ist ganz unbestreitbar. Wir geben durchaus zu, dass man vom Standpunkt des Bürgerkrieges die Unzweckmäßigkeit dieser oder jener Formen des Bürgerkrieges in diesem oder jenem Augenblick zu beweisen versuchen und beweisen kann. Eine Kritik der verschiedenen Formen des Bürgerkrieges vom Standpunkt der militärischen Zweckmäßigkeit halten wir für durchaus richtig und erklären uns unbedingt damit einverstanden, dass die entscheidende Stimme in einer solchen Frage den sozialdemokratischen Praktikern jeder einzelnen Ortschaft zusteht. Im Namen der Grundsätze des Marxismus aber verlangen wir unbedingt, dass man sich nicht mit ausgeleierten und schablonenhaften Phrasen von Anarchismus, Blanquismus, Terrorismus um eine ernste Analyse der Bedingungen des Bürgerkrieges drückt, dass sinnlose Methoden von Partisanenaktionen, die von dieser oder jener Organisation der PPS in diesem oder jenem Augenblick angewandt worden sind, nicht als Schreckgespenst gegen die Beteiligung der Sozialdemokraten am Partisanenkampf überhaupt gebraucht werden.

Zu den Berufungen auf die Desorganisierung der Bewegung durch den Partisanenkampf muss man sich kritisch verhalten. Jede neue Kampfform, die mit neuen Gefahren und neuen Opfern verknüpft ist, wird unweigerlich die Organisationen, die auf diese neue Kampfform unvorbereitet sind, „desorganisieren". Unsere alten Propagandistenzirkel sind durch den Übergang zur Agitation desorganisiert worden. Unsere Komitees sind späterhin durch den Übergang zu Demonstrationen desorganisiert worden. Jede Kriegshandlung in jedem beliebigen Krieg trägt eine gewisse Desorganisation in die Reihen der Kriegführenden. Hieraus darf man nicht folgern, dass man keinen Krieg führen dürfe. Hieraus muss man folgern, dass man lernen muss, Krieg zu führen. Weiter nichts.

Wenn ich Sozialdemokraten sehe, die stolz und selbstzufrieden erklären: wir sind keine Anarchisten, keine Diebe, keine Räuber, wir sind darüber erhaben, wir lehnen den Partisanenkampf ab, dann frage ich mich: begreifen diese Leute, was sie reden? Im ganzen Lande finden bewaffnete Zusammenstöße und Kämpfe zwischen der Schwarzhunderter-Regierung und dem Volke statt. Auf der gegebenen Entwicklungsstufe der Revolution ist diese Erscheinung durchaus unvermeidlich. Die Bevölkerung reagiert auf die Überfälle der Schwarzhunderter-Garden spontan, unorganisiert – und gerade deswegen häufig in unzweckmäßigen und üblen Formen –, ebenfalls mit bewaffneten Handstreichen und Überfällen. Ich verstehe sehr wohl, dass wir infolge der Schwäche und mangelnden Vorbereitung unserer Organisation an einem gegebenen Ort und in einem gegebenen Augenblick von der Führung dieses spontanen Kampfes durch die Partei Abstand nehmen können. Ich verstehe, dass diese Frage von den örtlichen Praktikern entschieden werden muss, dass die Umgestaltung der schwachen und nicht vorbereiteten Organisationen kein leichtes Werk ist. Wenn ich aber bei einem Theoretiker oder Schriftsteller der Sozialdemokratie nicht ein Gefühl der Betrübnis über diese mangelnde Vorbereitung, sondern stolze Selbstzufriedenheit und selbstgefällig-begeisterte Wiederholung in frühester Jugend auswendig gelernter Phrasen über Anarchismus, Blanquismus, Terrorismus antreffe, dann empfinde ich das als eine Erniedrigung der allerrevolutionärsten Doktrin der Welt.

Man sagt: Der Partisanenkampf bringt das klassenbewusste Proletariat den heruntergekommenen Trunkenbolden und Lumpenproletariern nahe. Das ist richtig. Hieraus folgt aber nur, dass die Partei des Proletariats den Partisanenkampf niemals als einziges oder gar wichtigstes Kampfmittel betrachten darf; dass dies Mittel andern Mitteln untergeordnet werden muss, mit den wichtigsten Kampfmitteln im Einklang stehen und durch den aufklärenden und organisierenden Einfluss des Sozialismus veredelt werden muss. Ohne diese letzte Bedingung bringen alle, entschieden alle Kampfmittel das Proletariat in der bürgerlichen Gesellschaft verschiedenen nichtproletarischen Schichten, die über oder unter ihm stehen, nahe, verlieren, dem spontanen Gang der Ereignisse überlassen, ihre Schlagkraft, ihr ursprüngliches Gepräge und prostituieren sich. Streiks, die dem spontanen Gang der Ereignisse überlassen werden, sinken zu „Allianzen" – Vereinbarungen der Arbeiter mit den Unternehmern gegen die Verbraucher – herab. Das Parlament verwandelt sich in ein Bordell, in dem eine Bande von bürgerlichen Allerweltspolitikern en gros und en detail mit „Volksfreiheit", „Liberalismus", „Demokratie", Republikanismus, Antiklerikalismus, Sozialismus und allen sonstigen gangbaren Waren handelt. Die Zeitung verwandelt sich in eine feile Kupplerin, in ein Werkzeug zur Korrumpierung der Massen, das den niedrigsten Instinkten des Mobs grob schmeichelt usw. usw. Die Sozialdemokratie kennt keine universalen Kampfmittel, die das Proletariat wie durch eine chinesische Mauer von den Schichten abgrenzen, die etwas über oder etwas unter ihm stehen. Die Sozialdemokratie wendet in verschiedenen Epochen verschiedene Mittel an, wobei sie ihre Anwendung stets von streng festgelegten, ideologischen und organisatorischen Bedingungen abhängig macht.*

IV.

Die Kampfformen der russischen Revolution unterscheiden sich durch ihre riesige Mannigfaltigkeit von den Kampfformen der bürgerlichen Revolutionen Europas. Kautsky hat das zum Teil vorausgesagt, als er im Jahre 1902 davon sprach, dass die kommende Revolution (er fügte hinzu: vielleicht mit Ausnahme Russlands) nicht so sehr ein Kampf des Volkes gegen die Regierung als ein Kampf des einen Teiles des Volkes gegen den andern sein wird.3 In Russland sehen wir zweifellos eine breitere Entfaltung dieses zweiten Kampfes als in den bürgerlichen Revolutionen des Westens. Die Feinde unserer Revolution zählen im Volke nur wenig Anhänger, aber sie organisieren sich mit der Verschärfung des Kampfes immer mehr und mehr und erhalten die Unterstützung der reaktionären Schichten der Bourgeoisie. Es ist daher durchaus natürlich und unvermeidlich, dass in einer solchen Epoche, in der Epoche politischer Generalstreiks, der Aufstand nicht die alte Form von einmaligen Handlungen annehmen kann, die sich auf eine sehr kurze Zeitspanne und auf ein sehr kleines Gebiet beschränken. Es ist ganz natürlich und unvermeidlich, dass der Aufstand die höheren und komplizierteren Formen eines langwierigen, das ganze Land umfassenden Bürgerkriegs, d. h. des bewaffneten Kampfes des einen Teiles des Volkes gegen den andern annimmt. Einen solchen Krieg kann man sich nur vorstellen als eine Reihe von wenigen, durch verhältnismäßig große Pausen voneinander getrennten großen Schlachten und eine Menge von kleineren Kämpfen im Verlaufe dieser Pausen. Wenn das so ist – und zweifellos ist es so –, so muss die Sozialdemokratie unbedingt ihre Aufgabe darin sehen, solche Organisationen zu schaffen, die in möglichst hohem Maße dazu befähigt sind, die Massen sowohl in diesen großen Schlachten als auch, nach Möglichkeit, in diesen kleineren Kämpfen zu führen. Die Sozialdemokratie muss in der Epoche der Verschärfung des Klassenkampfes zum Bürgerkrieg ihre Aufgabe darin sehen, sich an diesem Bürgerkrieg nicht nur zu beteiligen, sondern auch die führende Rolle in ihm zu spielen. Die Sozialdemokratie muss ihre Organisationen dazu erziehen und vorbereiten, dass sie wirklich als kriegführender Teil handeln, der keine Möglichkeit unbenutzt lässt, die Kräfte des Gegners zu schwächen.

Das ist zweifellos eine schwierige Aufgabe. Sie kann nicht mit einem Schlage gelöst werden. Wie das ganze Volk im Verlaufe des Bürgerkrieges im Kampfe sich umbildet und lernt, so müssen auch unsere Organisationen erzogen und auf Grund der Erfahrung so umgestaltet werden, dass sie dieser Aufgabe gerecht werden.

Wir erheben nicht den geringsten Anspruch darauf, den Genossen, die praktische Arbeit leisten, irgendeine ausgedachte Kampfform aufzudrängen oder gar vom Schreibtisch aus die Frage zu entscheiden, welche Rolle die einen oder anderen Formen des Partisanenkampfes im allgemeinen Verlaufe des Bürgerkrieges in Russland spielen sollen. Uns liegt der Gedanke fern, in der konkreten Beurteilung der einen oder anderen Partisanenaktion die Frage einer Richtung in der Sozialdemokratie zu sehen. Aber wir sehen unsere Aufgabe darin, nach Kräften zu einer richtigen theoretischen Beurteilung der neuen Kampfformen beizutragen, die das Leben hervorbringt; wir sehen unsere Aufgabe darin, rücksichtslos die Schablonen und Vorurteile zu bekämpfen, die die klassenbewussten Arbeiter daran hindern, eine neue und schwierige Frage richtig zu stellen und richtig zu lösen.

1 Lenin meint folgende Stelle aus der Arbeit K. Kautskys „Die soziale Revolution" (1902) I. Sozialreform und soziale Revolution (Seite 47 [52]): „Nur eines kann man, glaube ich, heute schon mit Sicherheit von der kommenden Revolution sagen: sie wird ganz anders aussehen als ihre Vorgängerinnen."

2 Lenin meint das „Telegramm des Korrespondenten" in der Zeitung „Nowoje Wremja" Nr. 10 952 vom 22. (9.) September 1906 (und nicht vom 21. (8.) September, wie irrtümlich im Text angegeben), in dem die ungestrafte Tätigkeit der lettischen Sozialdemokraten – „der von der internationalen Sozialdemokratie dirigierten Räuber und Diebe" – ausführlich geschildert wird. In der gleichen Zeitung, in Nr. 10.955 von 25. (12.) September 1906 wurde eine zweite Korrespondenz mit einer Darlegung des Beschlusses der illegalen Organisationen veröffentlicht, von dem Lenin hier spricht.

Als ergänzendes Tatsachenmaterial zum Artikel Lenins „Der Partisanenkampf" im „Proletarij" Nr. 6 vom 11. November (29. Oktober) 1906 erschien im lettischen „Sozialdemokrat" der Artikel: „Die lettische Sozialdemokratie über den Partisanenkampf", in dem der Verfasser, der sich mit den Schlussfolgerungen Lenins einverstanden erklärt, zur Information des „Nowoje Wremja" eine Reihe von Ergänzungen nachträgt: 1. Die Zeitung „Zihna" hat eine Auflage nicht von 30.000, wie die „Nowoje Wremja" schrieb, sondern von 12–14.000, 2. im Berichte des ZK werden unter den 47.000 Rubeln (und nicht 48, wie „Nowoje Wremja" mitteilt) keine 5600 Rubel für Waffen von der Libauer Abteilung erwähnt.

* Die bolschewistischen Sozialdemokraten beschuldigt man häufig leichtsinnig-parteiischer Stellungnahme zu den Partisanenaktionen. Es ist daher nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass in dem Entwurf der Resolution über die Partisanenaktionen der Teil der Bolschewiki, der sie verteidigt für ihre Anerkennung folgende Bedingungen aufgestellt hat: „Expropriationen" von Privateigentum werden überhaupt für unzulässig erklärt, „Expropriationen von staatlichem Eigentum werden nicht empfohlen, sondern nur unter der Bedingung für zulässig erklärt, dass sie der Kontrolle der Partei unterstehen und dass die erbeuteten Mittel für die Zwecke des Aufstandes verwandt werden. Terroristische Partisanenaktionen gegen die Vertreter des Gewaltregimes und aktive Schwarzhunderter werden empfohlen, jedoch unter folgenden Bedingungen: 1. dass man der Stimmung der breiten Massen Rechnung trägt; 2. dass die Bedingungen, unter denen die Arbeiterbewegung in der betreffenden Ortschaft arbeitet, in Betracht gezogen werden; 3. dass dafür gesorgt wird, dass die Kräfte des Proletariats nicht unnütz vergeudet werden. Der praktische Unterschied der Resolution, die auf dem Vereinigungs-Parteitag angenommen wurde, von diesem Entwurf besteht einzig und allein darin, dass „Expropriationen" von Staatseigentum für unzulässig erklärt werden.

3 Lenin meint folgende Stelle der 1902 erschienenen Schrift K. Kautskys „Die soziale Revolution". „Waren also die letzten Revolutionen Empörungen der Volksmassen gegen die Regierung, so dürfte die kommende Revolution – abgesehen vielleicht von Russland – mehr den Charakter eines Kampfes des einen Teiles des Volkes gegen den anderen führen… fast möchte ich sagen, sie wird weniger einer plötzlichen Empörung gegen die Obrigkeit und mehr einem dauernden Bürgerkrieg gleichen (K. Kautsky, „Die soziale Revolution. I. Sozialreform und soziale Revolution", S. 48. [53 f.]).

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