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Wladimir I. Lenin 19060921 Die Politik der Regierung und der bevorstehende Kampf

Wladimir I. Lenin: Die Politik der Regierung und der bevorstehende Kampf1

[Proletarij" Nr. 3, 21. (8.) September 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 82-87]

Ein von den deutschen Sozialdemokraten herausgegebenes Witzblatt brachte vor anderthalb Jahren eine Karikatur auf Nikolaus II. Der Zar trägt militärische Uniform und lacht. Er neckt mit einem Stück Brot einen zottigen Muschik, bald schiebt er es ihm fast in den Mund, bald zieht er es zurück. Das Gesicht des zottigen Muschiks ist bald von einem zufriedenen Lächeln verklärt, bald verzieht es sich in finstere Wut, wenn die Schnitte Brot, die er beinahe geschnappt hätte, wieder zurückgezogen wird. Die Brotschnitte trägt die Aufschrift: „Konstitution". Die letzte „Szene" zeigt den Muschik, wie er alle Kräfte anspannt, um ein kleines Stückchen Brot abzubeißen und – Nikolaus Romanow den Kopf abbeißt.2

Eine treffende Karikatur. Der Absolutismus „neckt" in der Tat schon einige Jahre das russische Volk mit der Konstitution. Bald sieht es so aus, als ob diese Konstitution „fast ganz" gegeben würde, bald leben mit einem Schlage die ganze alte Willkür, alle die Exzesse und Gesetzlosigkeiten der Polizei in viel schlimmerer Form wieder auf. Haben wir nicht noch vor kurzem fast das allerdemokratischste „Parlament" der Welt gehabt? Hat nicht noch vor kurzem die gesamte Presse die Frage eines Kadettenkabinetts als einer ganz nahen und realen Möglichkeit erörtert? Man glaubt kaum, dass das nur zwei-drei Monate her ist. Ein paar Ukase, Manifeste und Verordnungen, – und der alte Absolutismus herrscht, ein Häuflein von Dieben, Henkern und Pogromhelden, vom Volke verflucht, mit Schmach bedeckt und öffentlich bespien, verhöhnt von Neuem ungezügelt das Volk, veranstaltet von neuem Pogrome, raubt, prügelt, stopft den Mund und verpestet die Luft durch den unerträglichen Gestank der Leibeigenschaft.

Vom Standpunkt der Entwicklung des revolutionären Volkskampfes findet dieser schnelle Wechsel von kurzen „Freiheitstagen" und langen Monaten wütender Reaktion seine Erklärung in dem Gleichgewicht der Kräfte, das seit Herbst vorigen Jahres zwischen den kämpfenden Parteien besteht. Der Absolutismus hat bereits nicht mehr die Kraft, das Volk zu regieren, das Volk hat noch nicht die Kraft, das Joch der Pogromheldenregierung wirklich von sich abzuschütteln. Beide kämpfenden Teile stehen einander gegenüber wie zwei feindliche Armeen, bald ruhen sie vom Kampfe aus und sammeln neue Kräfte, bald stürzen sie sich von neuem in den Kampf gegen den verhassten Feind.

Die Schriftsteller der Kadettenpresse und der Presse vom Schlage des Nowoje Wremja bewerten diese Schwankungen eigentlich in der gleichen moralisierenden Art und Weise. Die einen wie die anderen verurteilen, beklagen die Schwankungen, die Unentschlossenheit, die wankende Haltung der Regierung, rufen sie zur „Festigkeit" auf – die einen zur Festigkeit in den Repressalien, die anderen zur Festigkeit in der Verwirklichung der versprochenen Konstitution. Den einen wie den andern ist der Begriff des Klassenkampfes, der das wirkliche Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte ändert, fremd.

Im Verlauf der Entwicklung dieses Kampfes aber müssen das Bewusstsein und die Geschlossenheit in den Reihen der Revolution und in den Reihen der Reaktion unvermeidlich immer stärker werden, müssen immer schärfere und rücksichtslosere Kampfformen zur Anwendung gelangen. Der schnelle Wechsel von „Freiheitstagen" und „Monaten der Erschießungen" ist ganz besonders dazu angetan, die Zahl der Passiven und Gleichgültigen zu verringern, immer neue Schichten und Elemente in den Kampf zu ziehen, das Bewusstsein der Massen zu entwickeln und ihnen an Hand der verschiedenen Experimente, die in ganz Russland veranstaltet werden, ganz besonders anschaulich bald die eine, bald die andere Seite des Absolutismus zu zeigen. Je schneller und schroffer dieser Wechsel, um so schneller kommen wir zu dem Ende, das durch das Übergewicht der gesellschaftlichen Kräfte auf seifen der Freiheit vorbestimmt ist.

Die klassenbewussten Arbeiter können deshalb dem erstaunlich schnellen „Progress" des Absolutismus in der Anwendung von Repressalien ganz ruhig zuschauen. Fahrt nur so fort, ihr Herren Romanow, Trepow, Ignatjew und Stolypin. Je eifriger ihr auf diesem Wege fortfahrt, um so schneller werdet ihr eure letzten Reserven erschöpfen. Ihr droht mit der militärischen Diktatur, mit der Verhängung des Kriegszustandes über ganz Russland? Aus solch einem Kriegszustand aber wird vor allem unbedingt die Revolution gewinnen. Die militärische Diktatur und der Kriegszustand werden dazu zwingen, neue Truppenmassen zu mobilisieren, nun haben aber die wiederholten Mobilisierungen der aller-„zuverlässigsten" Truppen, der Kosakentruppen, schon jetzt zu einem starken Anwachsen der Gärung in den ruinierten Kosakendörfern geführt, die „Unzuverlässigkeit" dieser Truppenteile verstärkt. Der Kriegszustand kostet Geld, die finanzielle Lage des Absolutismus aber ist schon jetzt verzweifelt. Der Kriegszustand führt zu einer Verstärkung der Agitation unter den Soldaten und gewöhnt der Bevölkerung die Furcht vor den aller,,furchtbarsten" Formen der Repressalien ab; Polen und Baltikum sind dafür ein beredtes Zeugnis.

Wir haben gesagt, dass die Reaktion mit der militärischen Diktatur „droht". Das ist eigentlich unrichtig. Jetzt, nachdem die Feldgerichte in allen Gouvernements und den Grenzgebieten, d. h. in 82 von 87 Gouvernements des russischen Reiches, in Kraft getreten sind, wäre es lächerlich, von der militärischen Diktatur als von etwas Künftigem zu reden. Das ist schon die Gegenwart, und eine Namensänderung, die Verwendung eines „schrecklicheren" Wortes („Diktatur" anstatt „Ausnahmezustand"), die Ernennung eines Diktators kann nichts Neues hinzufügen zu den zahllosen Verhaftungen, den Verbannungen ohne Gerichtsverhandlung, den Strafexpeditionen, den Leibesvisitationen auf der Straße, den Erschießungen auf Grund von Urteilssprüchen der Offiziere. In Russland herrscht schon jetzt eine militärisch-polizeiliche Diktatur. Die Repressalien haben schon jetzt einen solchen Grad erreicht, dass die Revolutionäre, die seit den Zeiten Plehwes an eine solche „Behandlung" gewöhnt sind, verhältnismäßig wenig unter diesen Repressalien leiden, während ihre ganze Schwere auf der „friedlichen" Bevölkerung lastet, unter der die Herren Stolypin mit einem Erfolg „agitieren", der jede Billigung verdient.

Die Repressalien vom vorigen Winter folgten einem wirklich revolutionären Aufstand, der bei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie keinen Anklang fand, nichtsdestoweniger aber bereiteten diese Repressalien den Boden für eine durchwegs oppositionell eingestellte Duma vor, die vor allem für die revolutionären Kreise von Nutzen war. Jetzt im Herbst folgen die Repressalien auf eine Zeit des legalen „Konstitutionalismus". Es ist ausgeschlossen, dass ihre einzige Wirkung eine radikalere Zusammensetzung der Duma sein wird.

Die Bande von Pogromhelden fühlt die Ohnmacht der Repressalien und gebärdet sich wie besessen auf der Suche nach Unterstützung. Einerseits sind die Versuche einer Verständigung mit den Oktobristen misslungen. Anderseits bereiten Pobjedonoszew und Co. die völlige Abschaffung jeder „Konstitution" vor. Einerseits werden die Universitäten geöffnet, und eine käufliche Presse brüllt über die Notwendigkeit eines festen Liberalismus. Anderseits wird sogar der Parteitag der Kadettenpartei verboten (die Kadetten müssen sich bei Herrn Stolypin für diese Hilfe bedanken!), und die Presse ist Verfolgungen ausgesetzt, wie es nicht einmal unter Durnowo der Fall war. Einerseits Feldgerichte, anderseits ein weit angelegter Versuch einer Verständigung mit der Dorfbourgeoisie.3

Die Regierung fühlt, dass ihre einzige Rettung darin liegt, innerhalb der Dorfgemeinde die Dorfbourgeoisie unter den Muschiks zu festigen, um sich auf sie gegen die Bauernmassen zu stützen. Auf dies Ziel aber, das die Gutschkow klug und vorsichtig verfolgt hätten, an das sich die Kadetten fein und geschickt heran stehlen, gehen die polizeilichen Derschimordas so grob, dumm und tolpatschig los, dass ihre ganze „Kampagne" aller Wahrscheinlichkeit nach ins Wasser fallen wird. Die Elemente der bäuerlichen Bourgeoisie sind gering an Zahl, obschon sie wirtschaftlich im Dorfe sehr stark sind. Die Ablösung des Großgrundbesitzes und der sonstigen Ländereien, wie sie die Agrarreform der Kadetten vorsieht, würde der gesamten Bauernschaft Honig um den Mund schmieren und vortrefflich das Ziel erreichen, das der Absolutismus bärenhaft täppisch anpackt: sie würde die bäuerliche Bourgeoisie außerordentlich stärken und aus ihr eine Stütze der „Ordnung" machen.

Aber die Romanow, Trepow, Ignatjew und Stolypin sind zu dumm, das zu begreifen. Sie haben in der Duma den Bauern in der Landfrage eine grobe Absage erteilt und bringen jetzt durch ihre Tschinowniks Kron- und Staatsländereien zum Verkauf. Ob das zur Folge haben wird, dass einflussreiche Schichten der Dorfbourgeoisie wirklich auf die Seite der jetzigen Regierung übergehen, ist eine große Frage, denn das Tschinownik-Gesindel wird die Sache ebenso in die Länge ziehen, wird ebenso plündern und sich bestechen lassen, wie es die Romanow und ihre Spießgesellen stets getan haben. Dass die bäuerliche Masse durch die Kunde von der Ablösung der Kron- und Staatsländereien noch mehr „aufgereizt" wird, unterliegt keinem Zweifel. Der Verkauf dieser Ländereien wird in zahlreichen Fällen die Erhöhung der Abgaben bedeuten, die die Bauern zu entrichten haben, da die Ablösungssummen größer sein werden als der Pachtzins. Die Erhöhung der Abgaben, die die Bauern für ihr Land zu entrichten haben, das ist das beste, was die Regierung zur Erleichterung unserer Agitation gegen sie erdenken konnte. Es ist ein vorzügliches Mittel, die Bauern noch mehr zu erbittern und sie zu zwingen, für unsere Losung einzutreten: Ablehnung aller Abgaben für Grund und Boden, der beim Sieg der Revolution restlos den Bauern zufallen muss.

Die Regierung hat ihr Spiel mit der bäuerlichen Bourgeoisie teilweise dank der jeder Polizeiregierung eigenen Dummheit, teils infolge äußersten Geldmangels sehr blöde eingefädelt. Die finanzielle Lage ist außerordentlich schlecht. Es droht der Staatsbankrott. Das Ausland gibt kein Geld. Die innere Anleihe wird nicht an den Mann gebracht. Gewaltsam und heimlich müssen die Sparkassen dazu gezwungen werden, einen Teil ihres Kapitals in der inneren Anleihe anzulegen – heimlich, denn die Sparer sind jetzt weniger als je geneigt, Staatsrente zu kaufen. Die Lakaien des Absolutismus beginnen schon zu ahnen, dass der Zusammenbruch der Goldvaluta unvermeidlich ist und dass sie mehr und mehr zu einer uneingeschränkten Emission von Papiergeld übergehen müssen.

Fahrt nur so fort, ihr Herren Stolypin! Ihr arbeitet gut für uns! Ihr reizt die Bevölkerung besser auf als wir es zu tun vermöchten. Ihr seid den Weg eurer Repressalien bis zum Ende gegangen und habt allen anschaulich gezeigt, dass es notwendig ist, auch den Weg der revolutionären Aktion bis zum Ende zu gehen.

1 Die Überschrift des vorliegenden Artikels lautete ursprünglich (bei Lenin) – „Der 21. (8. September) in Moskau".

2 Die Karikatur erschien in der Stuttgarter humoristischen Zeitschrift „Der Wahre Jakob" 1905.

3 Lenin meint hier zwei Ukase der Regierung Stolypin: 1. den vom 23. (10.) August 1906 über den Verkauf eines Teiles der Apanageländereien, d. h. der Zarenfamilie gehörenden Ländereien, und 2. den vom 9. September (27. August) 1906 über den Verkauf von Staatsländereien durch die Bauernbank an den Dorfmittelstand. Die Aufgabe der Ukase war es, aus der allgemeinen Masse der Bauernschaft ihre wohlhabende Spitze herauszuheben, die als neue soziale Stütze für die Konterrevolution auf dem flachen Lande dienen sollte. Die Höhe der Bankpreise sowie die Geringfügigkeit des dem Verkauf unterliegenden Bodenfonds (von der Enteigung ausgenommen waren nicht nur die den Schulen, der Kirche, den landwirtschaftlichen Schulen und den landwirtschaftlichen Versuchsstationen notwendigen Grundstücke, „überhaupt jene, die kulturellen Zwecken dienen oder auf denen wertvolle Einrichtungen stehen", sondern auch jene Grundstücke, „die von den Flurbereinigungsinstitutionen als im Interesse der örtlichen Bevölkerung notwendig erachtet werden") machten diese Grundstücke nur für einen unbedeutenden Teil der Bauernschaft – die Dorfbourgeoisie – erschwinglich.

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