Lenin‎ > ‎1906‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19061206 Entwurf eines Aufrufes an die Wähler

Wladimir I. Lenin: Entwurf eines Aufrufes an die Wähler

[Proletarij" Nr. 8, 6. Dezember (23. November) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 208-213]

Genossen Arbeiter und alle Bürger Russlands! Es naht die Zeit der Reichsdumawahlen. Die Partei der Arbeiterklasse, die Sozialdemokratie, fordert euch alle auf, euch an den Wahlen zu beteiligen, um zur Festigung der Kräfte beizutragen, die fähig sind, wirklich für die Freiheit zu kämpfen.

Die Volksmassen in unserer Revolution kämpfen gegen die Herrschaft der Tschinowniki und der Polizei, der Grundbesitzer und der Kapitalisten, vor allem aber gegen die absolutistische Zarenregierung. Die Massen kämpfen für Land und Freiheit, für den Sturz der Bande von Pogromhelden und Henkern, die die Forderungen von Millionen und aber Millionen Menschen mit Bestechung, Betrug, bestialischen Gewaltakten, mit Gefängnissen und Feldgerichten beantworten.

Durch den Oktoberstreik von 1905 haben die Arbeiter ganz Russlands dem Zaren gewaltsam das Versprechen der Freiheit und der gesetzgeberischen Rechte der Duma entrissen. Die Zarenregierung hat dies Versprechen gebrochen. Das Wahlgesetz hat die Rechte der Bauern und der Arbeiter zugunsten der Grundbesitzer und der Kapitalisten beschnitten. Von den Rechten der Duma selbst ist fast nichts übriggeblieben. Aber auch das ist noch nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, dass alle Freiheiten und Rechte ein Fetzen Papier geblieben sind, denn die wirkliche Macht, die wirkliche Gewalt bleibt nach wie vor ganz in den Händen der Zarenregierung. Keine Duma kann und wird dem Volk Land und Freiheit geben, solange die wirkliche Macht in den Händen der Pogromhelden und der Henker der Freiheit verbleibt.

Deshalb haben die revolutionären Arbeiter im Verein mit der Mehrheit der bewussten Freiheitskämpfer aus andern Volksschichten die Duma boykottiert. Der Boykott der Duma war ein Versuch, den Pogromhelden die Entscheidung über die Einberufung der Volksdeputierten zu entreißen. Der Boykott der Duma war eine Warnung an das Volk, nicht den Papierfetzen zu glauben, war eine Aufforderung zum Kampf um die wirkliche Macht. Der Boykott ist nicht gelungen, weil die liberale Bourgeoisie die Sache der Freiheit verraten hat. Die Partei der „Volks"-freiheit, die Kadetten, diese Partei der liberalen Grundbesitzer und der „aufgeklärten" bürgerlichen Schwätzer, hat sich von dem heldenhaften Kampf des Proletariats abgewandt, hat den Aufstand der Bauernschaft und des besten Teils des Heeres als Wahnsinn bezeichnet und hat sich an den Wahlen beteiligt, die die Pogromhelden veranstaltet haben. Dank dem Verrat der Kadetten-Bourgeoisie muss das gesamte Volk für eine gewisse Zeit den Gesetzen und den von den Pogromhelden veranstalteten, von den Pogromhelden gefälschten und von den Pogromhelden in eine Verhöhnung des Volkes verwandelten Wahlen Rechnung tragen.

Wenn wir uns jetzt aber an den Wahlen beteiligen, so können und müssen wir dem Volk dabei die Augen öffnen über die Notwendigkeit des Kampfes um die Macht, über die Nichtigkeit der Konstitutionsspielerei der Kadetten. Bürger ganz Russlands! Denkt an die Lehre, die uns die erste Duma erteilt hat!

Diejenigen, die für Freiheit und für Übergabe des Landes an die Bauern gekämpft hatten, wurden erschlagen, verbannt, in die Gefängnisse gesperrt. Die Kadetten hatten die Mehrheit in der Duma. Diese liberalen Bourgeois fürchteten den Kampf, fürchteten das Volk, beschränkten sich auf Reden und Fürsprachen, forderten zu geduldigem Abwarten auf und erstrebten ein Abkommen, einen Kompromiss mit der Regierung der Pogromhelden. Als aber der Zar sah, dass er keine Kämpfer, sondern kriecherische Bourgeois vor sich hatte, warf er sie wegen ihrer ihm nicht genehmen Reden hinaus.

Arbeiter, Bauern und alle Werktätigen! Vergesst nicht diese wichtige Lehre! Erinnert euch: als im Herbst 1905 die revolutionären Arbeiter an der Spitze des kämpfenden Volkes standen, als sich zum Streik der Arbeiter, zum Aufstand der Arbeiter die Aufstände der Bauern und der bewussten Soldaten gesellten – da ließ sich die Regierung zu Zugeständnissen herbei. Als aber im Frühjahr und Sommer 1906 die liberal-monarchistische Bourgeoisie an der Spitze des Volkes stand, die Kadetten, die Partei der Schwankungen zwischen der Macht des Volkes und der Macht der Pogromhelden, da erhielten die Deputierten statt irgendwelcher Zugeständnisse einen Fußtritt von der Polizei, die die Duma auseinanderjagte.

Die Auflösung der Duma zeigt allen, wie nichtig und fruchtlos die Fürsprache der Kadetten, wie notwendig die Unterstützung des proletarischen Kampfes ist. Die Arbeiterklasse hat dem Zarismus durch den Oktoberstreik das Versprechen der Freiheit abgerungen. Sie sammelt jetzt ihre Kräfte, um durch den Volksaufstand dem Feind wirklich die Freiheit zu entreißen, um die Zarenregierung zu stürzen, die Republik zu gründen, die Wählbarkeit sämtlicher Behörden im Staate einzuführen und durch die provisorische revolutionäre Regierung die Konstituante des gesamten Volkes auf Grund des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts einzuberufen.

Im Kampfe für die Freiheit strebt die Arbeiterklasse danach, dass die Freiheit nicht nur den Reichen und den Vornehmen, sondern dem ganzen Volke diene. Die Arbeiter brauchen die Freiheit, um einen umfassenden Kampf für die völlige Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals, für die Vernichtung jeder Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu entfalten. Keine Gleichheit, nicht einmal gleiches Recht der kleinen Besitzer, der Bauern, auf Benützung des Bodens, der dem ganzen Volke gehört, wird das Volk von der Armut, der Arbeitslosigkeit und der Unterdrückung erlösen, solange das Kapital herrscht. Nur der Zusammenschluss aller Arbeiter und ihre Unterstützung durch die Massen der Werktätigen vermag das Joch des Kapitals zu brechen, das auf den Arbeitern aller Länder lastet. In der sozialistischen Gesellschaft werden Freiheit und Gleichheit kein Betrug sein, die Werktätigen werden nicht durch eine Wirtschaftsordnung, die sich auf den Kleinbetrieb gründet, zersplittert sein; der durch gemeinsame Arbeit aufgehäufte Reichtum wird der Volksmasse dienen, anstatt sie zu unterdrücken; die Herrschaft der Werktätigen wird jeder Unterdrückung irgendeiner Nationalität, Religion oder des einen Geschlechts durch das andere ein Ende machen.

Genossen Arbeiter und alle Bürger Russlands! Benützt die Wahlen dazu, um die wahren Kämpfer für Freiheit und Sozialismus zu stärken, um jedermann die Augen zu öffnen über die wirklichen Ziele und das wahre Wesen der verschiedenen Parteien!

Außer den Sozialdemokraten beteiligen sich folgende drei Hauptgruppen von Parteien an den Wahlen: die Schwarzhunderter, die Kadetten und die Trudowiki.

Die Schwarzhunderter, das sind die Parteien, die die Regierung unterstützen. Sie treten für die absolutistische Monarchie, für die Herrschaft der Polizei, für die Erhaltung des gesamten Großgrundbesitzes ein. Das sind die Partei der Monarchisten, der Bund des russischen Volkes, die Partei der Rechtsordnung, die Handels- und Industriepartei, der Bund vom 17. Oktober, die Partei der friedlichen Erneuerung. Das alles sind offene Feinde des Volkes, offene Verteidiger der Regierung der Pogromhelden, der Regierung, die die Duma auseinandergejagt hat, der Regierung der Feldgerichte.

Die Kadetten (Konst. Demokr. oder „Partei der Volksfreiheit") – das ist die Hauptpartei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie. Die liberalen Bourgeois schwanken zwischen dem Volk und der Regierung der Pogromhelden. In Worten sind sie gegen die Regierung; in Taten aber fürchten sie vor allem den Kampf des Volkes; in Taten erstreben sie einen Kompromiss mit der Monarchie, d. h. mit den Pogromhelden, gegen das Volk. Die Kadetten haben in der Duma Zuchthausgesetze gegen die Presse und gegen Versammlungen vorgeschlagen. Die Kadetten sind in der Duma dagegen gewesen, die Bodenfrage in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl gewählten örtlichen Komitees zu übergeben. Die Kadetten, das sind die liberalen Grundbesitzer, die sich davor fürchten, dass die Bauern die Bodenfrage auf ihre Weise lösen. Wer dagegen ist, dass die Polizeigewalt die Volksdeputierten auseinanderjagen kann, wer nicht will, dass den Bauern Ablösungssummen aufgezwungen werden, die sie ebenso zugrunde richten müssen, wie es im Jahre 1861 der Fall gewesen ist, – der mag dafür Sorge tragen, dass die zweite Duma nicht wiederum eine Kadettenduma werde.

Die Trudowiki, das sind die Parteien und Gruppen, die die Interessen und Ansichten der kleinen Besitzer, vor allem der kleinen Bauern zum Ausdruck bringen. Die schüchternste unter diesen Parteien ist die „Werktätige Volkssozialistische Partei"; sie ist nur um ein geringes besser als die Kadetten. Dann kommt die parlamentarische „Werktätige Gruppe", deren beste Mitglieder _ wie ein Onipko – nach der Auflösung der Duma dem aufständischen Volke zu Hilfe geeilt sind. Die revolutionärste unter den Trudowikiparteien ist die Partei der „Sozialrevolutionäre" (SR). Die Trudowiki sind geneigt, im Kampfe für Land und Freiheit die Interessen der Bauernmassen entschlossen zu verteidigen – manchmal schrecken sie sogar nicht vor dem Aufstand zurück –, aber sie vermögen sich bei weitem nicht immer in ihrer gesamten Tätigkeit vom Einfluss der liberalen Bourgeois und von bürgerlichen Auffassungen zu befreien. Der kleine Besitzer steht in dem großen Weltkampf zwischen Arbeit und Kapital auf dem Scheidewege: soll er danach streben, es im bürgerlichen Sinne „zu etwas zu bringen", selbst Besitzer zu werden, oder soll er danach streben, dem Proletariat zu helfen, die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen. Wir Sozialdemokraten werden die Wahlen dazu benutzen, um den Bauernmassen und allen Freunden der Bauernschaft zu sagen: Die Bauern werden nur dann Land und Freiheit erringen können, wenn ihre Aktivität nicht in Fürsprachen, sondern im Kampf bestehen wird, wenn sie nicht auf den Zaren und die Versprechungen der liberalen Bourgeois vertrauen, sondern auf die Kraft des Hand in Hand mit der Arbeiterklasse geführten Kampfes.

Die Partei der Sozialdemokraten ist die Partei des bewussten und kämpfenden Proletariats. Sie glaubt an keinerlei Versprechungen der Bourgeoisie, sie sucht die Rettung aus Armut und Not nicht in der Stärkung der Kleinwirtschaft, sondern im geschlossenen Kampf aller Werktätigen für den Sozialismus.

Genossen Arbeiter und alle, die ihr dem Kapital front! Ihr alle habt gesehen, dass die Bourgeoisie in dem Augenblick, wo die Regierung die ersten Keime der Freiheit zu zerstören begann, dazu überging, den Arbeitern alle ihre Errungenschaften wegzunehmen, den Arbeitstag wieder zu verlängern, den Lohn zu kürzen, die Strafen zu vergrößern, die klassenbewussten Arbeiter wieder auf jede mögliche Art zu drücken und zu schurigeln oder aus dem Betrieb zu werfen. Nur durch den Sieg der Freiheit können Arbeiter und Angestellte ihre Errungenschaften gegen die Bourgeoisie verteidigen und den Achtstundentag, höheren Lohn und erträgliche Lebensbedingungen erringen. Und nur durch geschlossenen, mutigen und hingebenden Kampf an der Spitze der gesamten werktätigen Massen kann die Arbeiterklasse die wirkliche Freiheit für das ganze Volk erringen.

Genossen Arbeiter und alle Bürger Russlands! Stimmt für die Kandidaten der SDAPR! Sie kämpft für völlige Freiheit, für die Republik, für die Wählbarkeit der Beamten durch das Volk. Sie kämpft gegen jede nationale Unterdrückung. Sie kämpft für die l'ebergabe des gesamten Bodens an die Bauern, ohne irgendwelche Ablösung. Sie unterstützt alle Forderungen der bewussten Matrosen und Soldaten und kämpft für die Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung.

Genossen Arbeiter und alle Bürger Russlands! Stimmt für die Kandidaten der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei!

Kommentare