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Wladimir I. Lenin 19060100 Soll man die Reichsduma boykottieren?

Wladimir I. Lenin: Soll man die Reichsduma boykottieren?

Die Plattform der „Mehrheit“1

Januar 1906

[Nach Ausgewählte Werke, Band 3, Die Revolution von 1905-1907, Wien-Berlin 1932, S. 353-356]

Die Partei der Arbeiterklasse, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, vereinigt sich. Ihre beiden Hälften verschmelzen miteinander und bereiten den bereits einberufenen Vereinigungsparteitag vor.

Aber zwischen den beiden Hälften der Partei ist noch eine Meinungsverschiedenheit wegen der Reichsduma verblieben. Alle Mitglieder der Partei müssen in dieser Frage volle Klarheit gewinnen, um bewusst ihre Delegierten auf den gemeinsamen Parteitag zu entsenden und um den Streit so zu schlichten, wie das alle Mitglieder der Partei und nicht nur ihre gegenwärtigen zentralen und lokalen Körperschaften wollen.

Bolschewiki und Menschewiki stimmen darin überein, dass die heutige Duma die jämmerliche Fälschung einer Volksvertretung ist, dass man gegen diesen Schwindel kämpfen muss und dass man sich auf den bewaffneten Aufstand für die Einberufung einer vom ganzen Volke frei gewählten konstituierenden Versammlung vorbereiten muss.

Der Streit geht nur um die Taktik gegenüber der Duma. Die Menschewiki sagen: die Partei soll sich an der Wahl der Bevollmächtigten und der Wahlmänner beteiligen. Die Bolschewiki sagen: aktiver Boykott der Duma. Wir setzen in diesem Blatt die Ansichten der Bolschewiki auseinander, die auf einer unlängst abgehaltenen Konferenz der Vertreter von 26 Organisationen der SDAPR eine Resolution gegen die Beteiligung an den Wahlen beschlossen haben.

Was bedeutet das: aktiver Boykott der Duma? Der Boykott bedeutet die Ablehnung der Beteiligung an den Wahlen. Wir wollen weder Abgeordnete in die Duma noch Wahlmänner oder Bevollmächtigte wählen. Aktiver Boykott bedeutet nicht die bloße Fernhaltung von den Wahlen, sondern die breiteste Ausnützung der Wählerversammlungen für die sozialdemokratische Agitation und Organisation. Die Versammlungen ausnützen heißt, sowohl legal (durch Eintragung in die Wählerverzeichnisse) als auch illegal in sie eindringen, in ihnen das ganze Programm und alle Ansichten der Sozialisten auseinandersetzen, die ganze Lüge und den ganzen Schwindel dieser Duma aufzeigen und zum Kampfe für die konstituierende Versammlung aufrufen.

Weshalb lehnen wir die Beteiligung an den Wahlen ab?

Deshalb, weil wir durch die Beteiligung an den Wahlen unwillkürlich im Volke den Glauben an die Duma unterstützen und damit die Kraft unseres Kampfes gegen diese Fälschung einer Volksvertretung schwächen. Die Duma ist kein Parlament, sondern eine vom Absolutismus gestellte Falle. Wir müssen diese Falle zerstören, dadurch, dass wir die Beteiligung an den Wahlen ablehnen.

Deshalb, weil wir, wenn wir die Beteiligung an den Wahlen für zulässig anerkennten, konsequenterweise bis zur Beteiligung an der Wahl der Abgeordneten in die Duma gehen müssten. Die bürgerlichen Demokraten, z. B. Chodski im „Narodnoje Chosjaistwo“, empfehlen uns auch zu diesem Zwecke Wahlübereinkommen mit den Kadetten. Aber alle Sozialdemokraten, Bolschewiki und Menschewiki, lehnen jetzt solche Übereinkommen ab, da sie verstehen, dass die Duma kein Parlament, sondern ein neuer Polizeischwindel ist.

Deshalb, weil wir jetzt als Partei aus den Wahlen keinen Nutzen ziehen können. Es gibt keine Freiheit der Agitation. Die Partei der Arbeiterklasse ist geächtet. Ihre Vertreter werden ohne Gerichtsbeschluss verhaftet, ihre Zeitungen werden eingestellt. Die Partei kann ihr Banner bei den Wahlen nicht legal entfalten, sie kann ihre Kandidaten nicht vor dem ganzen Volke aufstellen, ohne sie der Polizei auszuliefern. Bei einer solchen Lage der Dinge ist eine revolutionäre Ausnützung der Versammlungen ohne Beteiligung an den Wahlen für unsere Agitation und Organisation weitaus zweckmäßiger als eine Beteiligung an den Versammlungen zwecks Vornahme legaler Wahlen.

Die Menschewiki lehnen die Wahl von Abgeordneten in die Duma ab, aber sie wollen Bevollmächtigte und Wahlmänner wählen. Wozu? Um aus ihnen ein Volksparlament oder eine freie illegale Volksvertretung von der Art des gesamten russischen Rats der Arbeiter- (und als Ergänzung: der Bauern-) Deputierten zu bilden?

Wir entgegnen darauf: wenn freie Vertreter notwendig sind, wozu dann ihre Wahl mit irgendeiner Duma verknüpfen? Wozu der Polizei das Verzeichnis unserer Bevollmächtigten ausliefern? Und wozu denn neue Arbeiterdelegiertenräte auf neue Art bilden, wo doch z. B. in Petersburg noch die alten Arbeiterdeputierten vorhanden sind? Das ist zwecklos und sogar schädlich, denn es ruft die der wirklichen Lage nicht entsprechende und trügerische Meinung hervor, wie wenn die verfallenden und sich zersetzenden Räte durch neue Wahlen ohne neue Vorbereitung und Ausbreitung des Aufstandes neu belebt werden könnten. Für die Zwecke des Aufstandes aber gesetzliche Wahlen in gesetzlichen Fristen zu bestimmen, ist geradezu lächerlich.

Die Menschewiki berufen sich auf die Teilnahme der Sozialdemokraten aller Länder an den Parlamenten, sogar an den schlechtesten Parlamenten. Diese Berufung erfolgt zu Unrecht. An einem Parlament werden auch wir bis zum Schluss teilnehmen, aber die Menschewiki sehen doch selbst, dass die Duma kein Parlament ist, und lehnen es selbst ab, in die Duma zu gehen. Sie sagen, dass die Arbeiterklasse ermattet sei und sich bei legalen Wahlen erholen wolle. Aber die Partei kann und darf ihre Taktik nicht auf eine vorübergehende Ermattung in einigen Zentren aufbauen. Das hieße, die Partei ins Verderben führen, denn ermattete Arbeiter würden keine Wahlmänner im Sinne der Partei, sondern solche Wahlmänner abgeben, die die Partei bloßstellen. Man muss ausdauernd und geduldig arbeiten und die Kräfte des Proletariats dabei sparen, aber man darf auch nicht den Glauben verlieren, dass das Abflauen der Stimmung vorübergehend ist, dass sich die Arbeiter noch kräftiger, noch kühner als in Moskau erheben, dass sie die zaristische Duma hinwegfegen werden. Mögen rückständige, unwissende Leute in die Duma gehen – die Partei wird ihr Schicksal nicht mit ihnen verknüpfen. Die Partei sagt ihnen: eure eigene Lebenserfahrung wird unsere politische Voraussage bestätigen, ihr werdet am eigenen Leibe erfahren, welcher Schwindel diese Duma ist, und ihr werdet dann zur Partei zurückkehren, nachdem ihr die Richtigkeit ihrer Ratschläge eingesehen haben werdet.

Die Taktik der Menschewiki (an den Wahlen teilnehmen, aber nicht in die Duma wählen) ist widerspruchsvoll und inkonsequent. Sie eignet sich nicht für eine Massenpartei, denn an Stelle einer einfachen und klaren Entscheidung gibt sie etwas Verworrenes und Zweideutiges. Sie ist nicht praktisch, denn wenn die Verzeichnisse der Bevollmächtigten der Polizei in die Hände fallen, dann wird die Partei einen schweren Verlust erleiden. Schließlich ist diese Taktik in Wirklichkeit nicht durchführbar, denn das Auftreten der Menschewiki mit unserem Programm in den Versammlungen wird unvermeidlich dazu führen, dass anstatt legaler Wahlen eine illegale Ausnützung der Versammlungen ohne Wahlen herauskommt. Die durch das Polizeiregime geschaffenen Verhältnisse werden die Teilnahme der Menschewiki an den Versammlungen samt der menschewistischen Teilnahme an den Wahlen in die bolschewistische revolutionäre Ausnützung der Versammlungen verwandeln.

Nieder mit der Duma! Nieder mit dem neuen Polizeischwindel! Bürger, ehrt das Andenken der gefallenen Helden von Moskau durch eine neue Vorbereitung zum bewaffneten Aufstand! Es lebe die vom gesamten Volke gewählte freie konstituierende Versammlung!

Das ist unsere Kampflosung. Und mit dieser Losung ist nur die Taktik des aktiven Boykotts vereinbar.

1 Als Lenins Artikel „Soll man die Reichsduma boykottieren?“ erschien, waren bereits Maßnahmen zur Vereinigung beider Teile der Partei – der Bolschewiki und der Menschewiki – getroffen und ein Vereinigtes Zentralkomitee zur Einberufung des Vereinigungsparteitages eingesetzt. Der Artikel Lenins wurde deshalb zusammen mit einem Artikel von Theodor Dan „Warum sind wir gegen den Wahlboykott?“ auf einem vom VZK herausgegebenen besonderen Blatt veröffentlicht.

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