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Wladimir I. Lenin 19070207 Die Wahlen in Petersburg und die Krise des Opportunismus

Wladimir I. Lenin: Die Wahlen in Petersburg und die Krise des Opportunismus

[Proletarij" Nr. 12, 7. Februar (25. Januar) 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 432-436]

Am 19. (6.) Januar versammelte sich die Petersburger Stadtkonferenz. Sie hatte die Frage zu entscheiden, ob in der Hauptstadt Abkommen mit den Kadetten getroffen werden sollen oder nicht.

Trotz den im „Towarischtsch" veröffentlichten Aufrufen Plechanows an die „Genossen Arbeiter", trotz den hysterischen Artikeln der Frau J. Kuskowa, trotz der Drohung Plechanows, die Arbeiter in die Liste der „Feinde der Freiheit" einzutragen, wenn es ihnen einfallen sollte, einen selbständigen sozialdemokratischen Standpunkt zu vertreten, trotz den mehr oder minder verlockenden Versprechungen der Kadetten hat sich das organisierte und bewusste Petersburger Proletariat als politisch so reif erwiesen, dass es sich nach den Diskussionen und Abstimmungen in seiner Mehrzahl gegen alle Abkommen mit den Kadetten ausgesprochen hat. Es war klar, dass auch die Konferenz, die von organisierten Arbeitern – nach Diskussionen und Abstimmungen nach Plattformen* – gewählt worden war, sich in demselben Sinne aussprechen würde.

Wir haben nicht genügend Platz im „Proletarij", um die Verhandlungen der Konferenz, der bereits nicht wenig Literatur gewidmet wurde, ausführlich zu behandeln. Es ist jedoch wichtig, festzustellen, dass unsre Opportunisten in ihrer bürgerlich-kompromisslerischen Politik so weit gegangen sind, dass der Beschluss der Konferenz für sie unannehmbar wurde. Von dem Augenblick der Eröffnung der Konferenz an war es klar, dass sich die Petersburger Menschewiki, unterstützt vom ZK, dem Beschluss der Konferenz nicht fügen würden. Die Freunde der Kadetten suchten nur einen Anlass zum Bruch mit der revolutionären Sozialdemokratie.

Recht oder schlecht, ein Anlass musste gefunden werden. Da es nicht gelang, die Konferenz wegen der Mandatsfrage zu verlassen, machtes sich die Menschewiki die Empfehlung des ZK, Fragen der Wahltaktik durch die unmittelbar an ihr beteiligten Wahlkörperschaften zu entscheiden, zunutze, um die Konferenz wegen der Frage zu verlassen, ob sich die Konferenz in zwei Teile teilen sollte: eine Stadtkonferenz und eine Bezirkskonferenz. Die Parteiorganisationen sollten sich der administrativ-polizeilichen Gliederung anpassen. Nach den Weisungen der Menschewiki hätte man nicht nur den Landbezirk von der Stadt trennen, sondern auch die bisher einheitlichen Stadtbezirke zerschlagen müssen, wie z. B.: den Newski-Bezirk, den Moskauer Bezirk, den Narwaer Bezirk. Man hätte eine Reorganisation durchführen müssen, die nicht für die Partei, sondern für die Behörde vorteilhaft gewesen wäre.

Außerdem war es klar, dass sich die Mehrheit der Konferenz – wie immer auch die Frage der Teilung der Konferenz entschieden worden wäre – gegen Abkommen mit den Kadetten ausgesprochen hätte. Die Menschewiki haben die Konferenz verlassen und zur Freude der gesamten bürgerlichen Presse beschlossen, in Petersburg eine selbständige Kampagne zu führen, einen Kampf zu führen gegen ihre eigenen Parteigenossen, das Petersburger Proletariat wegen eines Abkommens mit einer bürgerlichen und monarchistischen Partei, der Partei der „Volksfreiheit", zu spalten.

Wie hätte da die bürgerliche Presse nicht frohlocken sollen! Das Boulevard-Blatt „Sewodnja" erklärte feierlich in einem besonderen Leitartikel, die Menschewiki hätten durch ihren Beschluss Russland gerettet, das offizielle Organ der Kadetten aber, die „Rjetsch", versprach den Menschewiki zur Belohnung, einen Platz in der Arbeiterkurie einem „Menschewik" und keinesfalls einem „Bolschewik" zu geben.1

Erstes Ergebnis des selbständigen Vorgehens der Menschewiki: die Bourgeoisie hat begonnen, der Arbeiterkurie ihren Willen zu diktieren.

Inzwischen hatte die Konferenz, die nach dem Abzug der Menschewiki weiter tagte, unter der Bedingung einer bestimmten Verteilung der Dumasitze (die Arbeiterkurie und die Sozialdemokraten erhalten je zwei, die Sozialrevolutionäre und die Trudowiki je einen Sitz) beschlossen, ein Abkommen mit den Sozialrevolutionären und den Trudowiki zu treffen. Sie ging hierbei davon aus, dass es keine Schwarzhundert-Gefahr in Petersburg gibt und dass es notwendig ist, die Hegemonie der Kadetten zu brechen und das demokratische Kleinbürgertum von ihrem Einfluss zu befreien.

Die bürgerliche Presse frohlockte: die Trudowiki und die Sozialrevolutionäre haben einen Block mit den Volkssozialisten geschlossen, dieser Block wird sich an die Kadetten anlehnen, die Menschewiki haben sich losgelöst – die Bolschewiki sind isoliert! Die revolutionäre Taktik ist verurteilt, die „friedlichen Mittel" triumphieren, es lebe die Verständigung mit der Monarchie, nieder mit dem Weg des Kampfes der Volksmassen.

Nachdem die Kadetten die Sozialdemokraten gespalten und die revolutionäre Hydra des Proletariats geschwächt hatten, trafen sie, ohne sich zu schämen, eine Abmachung … mit Herrn Stolypin. Laut Zeitungsmeldungen erhält Miljukow in diesen Tagen eine Audienz beim Ministerpräsidenten, der Ministerpräsident stellt für die Legalisierung der Kadettenpartei die Bedingung: keine Blocks mit den Linken. Die Kadetten geben dem ganzen „Links"-Block – der in Wirklichkeit ein kleinbürgerlicher Block ist (Volkssozialisten, Sozialrevolutionäre, Trudowiki und Menschewiki) – insgesamt nur 2 von den 6 Petersburger Mandaten. Auf Drängen der „Galerie" erklären sich die Kadetten bereit, dem aufdringlichen kleinbürgerlichen Block zwei Mandate hinzuwerfen. Die Kadetten sind überzeugt, dass der Links-Block sich darauf nicht einlassen wird, und führen Verhandlungen mit dem Haupt der Schwarzhunderter, Stolypin.

Das Bild ändert sich. Die Wahlkampagne beginnt. Es werden Wahlversammlungen veranstaltet. Die Menschewiki, die nur sehr, sehr selten in den Versammlungen auftreten, stammeln schüchtern: Abkommen mit den Kadetten. Die Bolschewiki, die in allen Versammlungen auftreten, rufen die Proletarier und Halbproletarier auf, sich der einigen Arbeiterpartei, der sozialdemokratischen Partei anzuschließen, rufen alle revolutionären und demokratischen Wähler auf, sich dem einigen revolutionären Block gegen die Schwarzhunderter und Kadetten anzuschließen. Die Kadetten lässt man nicht reden; den Bolschewiki spendet man Beifall. Die städtische Demokratie – die Arbeiterschaft und das Kleinbürgertum – geht nach links und schüttelt das Joch der Kadetten von sich ab.

Das Bild ändert sich: die „Kompromissler" wüten und toben, Sie sprechen von den Bolschewiki mit Schaum vor dem Munde.

Nieder mit den Bolschewiki! In trauter Eintracht ziehen „Nowoje Wremja" und „Towarischtsch", Oktobristen und Kadetten, die Wodowosow und Gromann in den heiligen Krieg gegen das rote Gespenst des Bolschewismus. Wenn der Bolschewismus jemals eine Rechtfertigung für seine revolutionäre und klassenbewusste Taktik nötig hatte, so hat er sie in der Wut gefunden, mit der sich die gesamte bürgerliche Presse auf ihn stürzt. Wenn die kleinbürgerliche revolutionäre Demokratie, die ehrlich die Verwirklichung ihrer Losungen erstrebt, einen Anschauungsunterricht nötig hatte, so hat sie ihn in der Verachtung gefunden, mit der die große und die mittlere Bourgeoisie sich ihr gegenüber verhielt, in der Politik der Kompromisse (mit der Regierung), die die Kadetten hinter dem Rücken des Volkes betreiben.

Die revolutionäre Sozialdemokratie erklärt der gesamten demokratischen, städtischen und dörflichen Armut: nur im Bunde mit dem Proletariat, nur in der Befreiung von der Vormundschaft der Kadetten, nur im entschlossenen und konsequenten Kampfe gegen den Absolutismus wirst du deine Erlösung finden. Wenn du reif genug dafür bist, wirst du dem Proletariat Gefolgschaft leisten. Wenn du nicht dafür reif bist, wirst du unter der Vormundschaft der Kadetten bleiben, das Proletariat aber geht seinen eigenen revolutionären Klassenweg und wird ihn gehen, wie immer auch die Wahlkampagne, wie immer auch euer Mandatsschacher enden mag.

Der Menschewismus macht eine schwere Prüfung durch. Die Wahlkampagne ist zum Prüfstein seiner opportunistischen Taktik geworden. Ein Teil der Sozialdemokratie ist unter die Hegemonie bürgerlicher Ideologen geraten. Die bürgerlichen Ideologen behandeln die Menschewiki erbarmungslos als „gemäßigte Sozialisten" (Ausdruck der „Rjetsch"), auf die man sich immer verlassen kann.

Ihre Freunde von rechts rechnen nicht mit ihnen und … rechnen nur darauf, dass sie treu den Kadetten dienen. Ein Teil der Sozialdemokratie ist in seiner Selbsterniedrigung so weit gegangen, dass die liberale Bourgeoisie sie wie ihr williges Werkzeug behandelt und dass das revolutionär-gestimmte Proletariat es vorzieht, eher für die Sozialrevolutionäre (wie es bei der Wahl der Bevollmächtigten in der Hochburg des Menschewismus – dem Wiborger Bezirk war) als für solche Sozialdemokraten zu stimmen.

Die Krise des Opportunismus naht. Der Kompromiss mit den „Kompromisslern" versetzt dem Menschewismus einen entscheidenden Schlag. Die Wassiljew, Malischewski und Larin haben den Weg geebnet zum … Friedhof. In den Reihen der Menschewiki herrscht Verwirrung, sie schließen sich gegenseitig aus. Martow vertreibt die Wassiljew und Malischewski aus der Partei. Mögen die Arbeiter den Geist des Menschewismus aus der Partei austreiben!

* Eine Ausnahme bildeten die menschewistischen Bezirke, der Wiborger und der französisch-russische, wo nicht nach Plattformen abgestimmt wurde.

1 Lenin meint den Leitartikel der Zeitung „Sewodnja" („Heute") Nr. 128 vom 4. Februar (22. Januar) 1907 und den Leitartikel der „Rjetsch" Nr. 11 vom 27. (14.) Januar 1907. „Das Mandat, das für die von der Arbeiterkurie gewählte Person bestimmt war – schrieb „Rjetsch" – kann nach dem Beschluss der Konferenz offensichtlich bereits nicht mehr einem .bolschewistischen' Arbeiter abgetreten werden. Bei der neuen Zusammensetzung des Blocks könnten die Menschewiki auf dieses Mandat rechtmäßigen Anspruch erheben."

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