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Verhandlungen der Kadetten mit dem Absolutismus

Lenin hat hier den Leitartikel „Aus Anlass von Gerüchten“ in Nr. 213 der Zeitung „Towarischtsch“ vom 11./24. März 1905 im Auge, der ihn veranlasste, auf diese Frage zurückzukommen, und zwar in einem Artikel mit der Überschrift „Das Fazit“, in welchem er schrieb: „Zuerst wird Stolypin als Ministerkandidat den ,namhaften Persönlichkeiten“, d. h. den Führern der Bourgeoisie ,angeboten‘, und dann macht Stolypin, schon als Minister, im Verlaufe seiner ganzen Laufbahn ,Angebote“ den Muromzew, Heyden und Gutschkow. Stolypin beschließt seine Karriere (bekanntlich war seine Demission bereits eine beschlossene Sache), als der ganze Kreis aller möglichen Parteien und Schattierungen der Bourgeoisie, denen man ,Angebote“ machen konnte, erschöpft ist“ … „Nicht das ist wichtig, wer sich dabei schlechter benahm, ob Hinz oder Kunz – von Wichtigkeit ist erstens, dass die alte Gutsbesitzerklasse nicht mehr herrschen konnte, ohne den Führern der Bourgeoisie ,Angebote“ zu machen; von Wichtigkeit ist zweitens, dass sich ein gemeinsamer Boden fand für Verhandlungen zwischen dem Krautjunker und dem Bourgeois, und dieser Boden war die Konterrevolution.“ [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 3, Anm. 157]

Die Verhandlungen der konstitutionellen Demokraten mit dem Absolutismus hatten zu jener Zeit, als die Partei der konstitutionellen Demokraten in den Augen der kleinbürgerlichen Massen den Glorienschein der Partei der „Volksfreiheit" besaß, ungeheure politische Bedeutung, da sie es möglich machten, die konterrevolutionäre Politik der konstitutionellen Demokraten zu entlarven. Gerade deshalb kam Lenin, in dessen Händen sich damals nur zufällige und unzusammenhängende Materialien befanden, so häufig auf diese Verhandlungen zurück. Zum ersten Mal wurde der Schleier über diesen Verhandlungen im Jahre 1911 nach der Ermordung Stolypins gelüftet, als A. I. Gutschkow in einer Stolypin gewidmeten Sitzung der Partei der Oktobristen mit Erinnerungen an den ersten Versuch zur Bildung eines „Ministeriums der Persönlichkeiten" auftrat. Die Rede A. I. Gutschkows wurde im „Nowoje Wremja" („Neue Zeit") vom 28. (15.) September 1911 veröffentlicht. Am folgenden Tag (dem 29. [16.] September) erschien in der gleichen Zeitung ein Dementi von A. I. Gutschkow, worin dieser erklärte, dass seine Rede nicht genau wiedergegeben worden sei. Am 8. Oktober (25. September) erschien in der gleichen Zeitung ein Dementi von S. J. Witte, der eine Reihe neuer Angaben zur ersten Mitteilung A. I. Gutschkows machte, der seinerseits mit einem Brief an die Redaktion des „Nowoje Wremja" vom 10. Oktober (27. September) antwortete. Den neuen Brief S. J. Wittes zu veröffentlichen, lehnte „Nowoje Wremja" ab, und er erschien in der Zeitung „Rjetsch" vom 21. (8.) Oktober.

In diesem Stadium beteiligten sich die konstitutionellen Demokraten nicht an den Enthüllungen, und ihre Organe bewahrten Stillschweigen. Erst am 11. Oktober (28. September) machte „Rjetsch", die die Enthüllungen brachte, den Oktobristen Vorwürfe wegen der Beteiligung an dem Ministerium Durnowo. Die Oktobristen traten scharf gegen die „Rjetsch" auf und brachten im „Golos Moskwy" („Moskauer Stimme") vom 27. (14.) Oktober einen Artikel unter der Überschrift: „Das Bündnis des Grafen Witte und P. N. Durnowos mit den konstitutionellen Demokraten", wodurch auch die konstitutionellen Demokraten gezwungen waren, mit Enthüllungen aufzutreten und in der „Rjetsch" vom 1. November (19. Oktober) und 5. November (27. Oktober) mit Artikeln von Fürst E. Trubezkoi und I. Petrunkewitsch zu antworten.

Diese ganze Polemik wurde von Lenin in seinem Artikel „Der Beginn der Enthüllungen über die Verhandlungen der konstitutionell-demokratischen Partei mit den Ministern" (1911) beleuchtet.

Jetzt sind zu diesen ganzen, in einem besonderen Sammelband: „Der Absolutismus und die Liberalen in der Revolution 1905–1907" (Moskau 1925) abgedruckten Materialien die „Erinnerungen" des aktiven Teilnehmers an den Verhandlungen D. N. Schipow (Moskau 1918) und die Broschüre von P. N. Miljukow „Drei Versuche" (Paris 1921, neu abgedruckt im gleichen Sammelband) hinzugekommen.

Die Geschichte der Verhandlungen gipfelt in folgendem: Gleich nach der Veröffentlichung des Manifestes vom 30. (17.) Oktober wandte sich S. J. Witte an eine Reihe führender Persönlichkeiten mit dem Vorschlag, in das neue Kabinett einzutreten. Die Verhandlungen begannen am 1. November (19. Oktober) mit einzelnen Personen, und vom 6. November (24. Oktober) an beteiligte sich an ihnen eine Delegation, bestehend aus A. I. Gutschkow, Fürst E. N. Trubezkoi, M. A. Stachowitsch, D. N. Schipow und Fürst S. D. Urussow (also konstitutionelle Demokraten, „friedliche Erneuerer" und Oktobristen). Die Verhandlungen scheiterten, nach den Worten der konstitutionellen Demokraten angeblich an der Frage des Portefeuilles des Innenministers: Witte schlug für diesen Posten P. N. Durnowo vor, die „führenden Persönlichkeiten" traten gegen seine Kandidatur auf, einige von ihnen erklärten sich mit einer Kandidatur P. A. Stolypins einverstanden. In Wirklichkeit kam die Einigung aus einem anderen Grunde nicht zustande. Der Absolutismus, der nicht hoffen durfte, aus eigenen Kräften mit der Bewegung der Arbeiter und Bauern fertig zu werden, machte der Bourgeoisie, die die Revolution mehr fürchtete als den Absolutismus, den Vorschlag, an diesem Kampf an der Seite des Absolutismus teilzunehmen. Die „führenden Persönlichkeiten" lehnten den Eintritt in das Ministerium jedoch keineswegs wegen Durnowo ab, sondern, wie P. N. Miljukow schreibt, deshalb, weil sie sich der „Unmöglichkeit, sich angesichts der revolutionären Stimmung des Landes zu behaupten", bewusst waren.

Der Absolutismus ließ es bei diesem einen Versuche nicht bewenden. Unmittelbar vor der Auflösung der ersten Reichsduma, die bereits am 20. (7.) Mai in der Sitzung des Ministerrates beschlossen worden war, wandte er sich durch den General Trepow und P. Stolypin erneut, und zwar diesmal an den Führer der konstitutionellen Demokraten P. N. Miljukow mit dem Vorschlag, an die Spitze des verantwortlichen Ministeriums zu treten. Man nahm an, dass es mit Hilfe der konstitutionellen Demokraten leichter fallen würde, die Duma auseinanderzujagen, und dass die konstitutionellen Demokraten, einmal zur Macht gelangt, es, wie sich D. N. Schipow ausdrückte, „als ihre Pflicht erachten würden, die Forderungen des Parteiprogramms bei seiner praktischen Durchführung erheblich einzuschränken, und dass sie die von ihnen in den Wahlversammlungen ausgestellten Wechsel nicht restlos, sondern mit 20 oder 10 Kopeken auf den Rubel einlösen würden". Das leugnet auch P. N. Miljukow nicht, der in seinen Notizen schreibt: „Zweifelsohne hatte Schipow darin Recht, dass sich die konstitutionellen Demokraten an der Macht durchaus nicht als solche Zerstörer und Revolutionäre der Art erwiesen hätten, als die sie Stolypin hinstellte". Nichtsdestoweniger sind die konstitutionellen Demokraten nicht in das Ministerium eingetreten. Der Grund liegt wiederum nicht darin, wie es die liberalen Geschichtsschreiber dartun, dass die Führer der konstitutionellen Demokraten die Frage nicht entschieden hatten, wer Ministerpräsident werden sollte – Miljukow oder Muromzew. Der Eintritt in das Ministerium wäre nur unter der Bedingung der Auflösung der Duma gelungen, das aber hätte den Verlust der Unterstützung der kleinbürgerlichen Massen bedeutet, mit deren Stimmen die konstitutionellen Demokralen in die Duma gelangt waren.

Der letzte Versuch der Heranziehung der bürgerlichen Parteien zur Bildung des Kabinetts fällt in die Zeit zwischen der ersten und der zweiten Duma. Der Absolutismus, der die erste Duma aufgelöst hatte, wagte es jedoch nicht, das Wahlgesetz zu ändern: noch schien die Revolution allzu drohend, und überdies wusste man noch nicht, wie das Land auf die Aufrufe der Duma reagieren würde. Man wandte sich erneut an die „führenden Persönlichkeiten", mit deren Hilfe man die Revolution endgültig niederzuschlagen hoffte. „Anscheinend“ – bemerkte einer der Eingeladenen, Graf P. A. Heiden – „hat man uns und Sie eingeladen, die Rolle von Adoptivkindern bei gefälligen Damen zu spielen". Dieses Mal ging die Initiative zum Abbruch der Verhandlungen vom Absolutismus aus. Die „führenden Persönlichkeiten", besonders die konstitutionellen Demokraten, trafen alle Maßnahmen zur Wiederaufnahme der Verhandlungen, wodurch sich auch der Besuch P. Miljukows bei Stolypin am 28. (15.) Januar 1907 erklärt. Der Absolutismus, der sich von der völligen Ohnmacht der bürgerlichen Parteien überzeugt hatte, hielt es für überflüssig, die „führenden Persönlichkeiten" zur Teilnahme an der Regierung auf Grund irgendwelcher Zugeständnisse heranzuziehen. Am 16. (3.) Juni wurde die zweite Duma aufgelöst und das Wahlgesetz zum Vorteil der Gutsbesitzer und großbürgerlichen Kreise geändert. „Der Zarismus zog die Bourgeoisie zu Beratungen heran, als die Revolution noch eine Kraft zu sein schien – so beurteilte Lenin in dem Artikel: „Stolypin und die Revolution" (1911) die Verhandlungen der konstitutionellen Demokraten – und gab nach und nach allen Führern der Bourgeoisie einen Fußtritt mit dem Kürassierstiefel als die Revolution aufhörte, einen Druck von unten auszuüben."

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