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Wladimir I. Lenin 19071109 Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SDAPR

Wladimir I. Lenin: Konferenz der St.-Petersburger Organisation der SDAPR

(Aus einem Zeitungsbericht)

[Proletarij" 1.+3.: Nr. 20, 2. Dezember (19. November) 1907, 2.: Nr. 19, 18. (5.) November 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 125-130]

1. Referat über die III. Reichsduma

Der Referent charakterisierte vor allem die Zusammensetzung der III. Duma. Die Regierung hat das Wahlgesetz vom 3. Juni auf einfachem empirischen Wege derart zurechtgeschnitten, dass in der Duma zwei Mehrheiten möglich sind, eine aus den Oktobristen und den Schwarzhundertern bestehende und eine oktobristisch-kadettische. Sowohl die eine wie die andere ist unbedingt konterrevolutionär. Die Regierung wird sich in ihrer reaktionären Politik bald auf die eine, bald auf die andere stützen. Sie wird hierbei ihre absolutistisch-fronherrlichen Handlungen hinter Redensarten über papierene „Reformen" verbergen. Die Kadetten werden in Wirklichkeit die verräterische Politik der Konterrevolution treiben, sich aber in Worten als Partei einer wahrhaft demokratischen Opposition gebärden.

Ein Kompromiss der Kadetten mit den Oktobristen in der Duma ist unausbleiblich, und die ersten Schritte sind dazu bereits getan, wie der Referent durch eine Reihe von Zitaten aus der Parteipresse der Kadetten wie der Oktobristen, durch eine Reihe von Tatsachen aus dem Leben dieser Parteien und durch Mitteilungen über den letzten Parteitag der Kadetten beweist. Die Kadettenpolitik des Kompromisses mit dem alten Regime wird in der Duma noch deutlicher als bisher zutage treten und niemand wird mehr an ihrem wahren Charakter zweifeln können.

Doch weder die erste noch die zweite Dumamehrheit ist objektiv imstande, den dringendsten wirtschaftlichen und politischen Forderungen einigermaßen breiter Massen des Proletariats, der Bauernschaft und der städtischen Demokratie Genüge zu tun. Nach wie vor wird es vor allem die Sozialdemokratie sein, die die Nöte dieser Volksschichten zum Ausdruck bringt. Zusammensetzung und Tätigkeit der III. Duma stellen der Sozialdemokratie reiches und ausgezeichnetes Agitationsmaterial in Aussicht, das gegen die Schwarzhunderterregierung, die offenen fronherrlichen Gutsbesitzer, gegen Oktobristen und Kadetten auszunützen ist. Aufgabe der Sozialdemokratie ist es nach wie vor, den Gedanken der auf Grund des allgemeinen usw. Wahlrechts zu wählenden Konstituierenden Versammlung des gesamten Volkes in den breitesten Volksmassen populär zu machen. Von einer Unterstützung „linker" Oktobristen oder Kadetten in der Duma kann daher keine Rede sein. Wie gering an Zahl die Sozialdemokraten in der III. Duma auch sind, so müssen sie trotzdem eine selbständige sozialistische und konsequent-demokratische Linie verfolgen und dazu die Dumatribüne, das Interpellationsrecht usw. ausnützen. Gewisse Abkommen sind nur mit der Gruppe der linken Abgeordneten zulässig (besonders mit Rücksicht auf die Notwendigkeit von 30 Unterschriften zur Einbringung von Interpellationen), doch nur unter der Bedingung, dass sie dem Programm und der Taktik der Sozialdemokratie nicht zuwiderlaufen. Zu diesem Zweck ist die Organisierung eines Informationsbüros erforderlich, das niemand bindet, aber der Sozialdemokratie die Möglichkeit gibt, die linken Abgeordneten zu beeinflussen.

Aus den Reihen der Sozialdemokratie – bemerkte ferner der Referent – ertönen bereits Stimmen über Unterstützung der „linken" Oktobristen (z.B. bei den Präsidiumswahlen), über Organisierung eines mit den Kadetten gemeinsamen Informationsbüros und über das sogenannte „Schonen" unserer Dumafraktion. Das von menschewistischer Seite kommende Gerede über Unterstützung der Oktobristen demonstriert mit größter Anschaulichkeit das völlige Versagen der menschewistischen Taktik. Als die Duma kadettisch war, ereiferten sich die Menschewiki für eine Unterstützung der Kadetten. Kaum hat aber Stolypin das Wahlgesetz in einem den Oktobristen günstigen Sinne geändert, und schon sind die Menschewiki bereit, die Oktobristen zu unterstützen. Wie weit werden es die Menschewiki schließlich auf diesem Wege bringen?

Ein mit den Kadetten gemeinsames Informationsbüro hält der Referent für unzulässig, denn dies hieße die eigenen offenbaren Feinde informieren.

Über das „Schonen" der Fraktion meinte der Referent: die Fraktion muss in der Tat geschont werden. Aber zu welchem Zweck? Einzig damit sie in der Duma die sozialdemokratische Fahne hochhält, damit sie dort einen unversöhnlichen Kampf gegen die Konterrevolutionäre aller Schattierungen und Gattungen, von den extremen Reaktionären an bis einschließlich zu den Kadetten, führt. Keinesfalls aber dazu, dass sie „linke" Oktobristen und Kadetten unterstützt. Wenn die Unterstützung dieser Gruppen, d. h. ein Kompromiss mit der Stolypinschen Selbstherrschaft, eine notwendige Vorbedingung ihrer Existenz wäre, so würde es für sie besser sein, ihre Existenz ehrenvoll aufzugeben und das ganze Volk darüber aufzuklären, weshalb sie aus der Duma vertrieben worden ist, falls diese Vertreibung erfolgen sollte.

In seinem Schlusswort ging er (Lenin) hauptsächlich auf den Grundfehler des Menschewismus ein – auf den Gedanken der „allgemein-nationalen Opposition". Die russische Bourgeoisie war im eigentlichen Sinne des Wortes niemals revolutionär, und zwar aus durchaus begreiflichem Grunde: infolge der Stellung der Arbeiterklasse in Russland, infolge ihrer Rolle in der Revolution. Nach einer Analyse aller anderen Argumente der Menschewiki beantragte er die Annahme der in Nr. 19 des „Proletarij" abgedruckten Resolution.

2. Resolution über die III. Reichsduma

Die Konferenz der Petersburger Organisation der SDAPR ist der Ansicht, dass die sozialdemokratische Fraktion der III. Duma verpflichtet ist, die Resolution des Londoner Parteitages über die Reichsduma sowie die Resolution über nichtproletarische Parteien für sich als maßgebend zu betrachten, und erachtet es für notwendig, in Weiterentwicklung dieser Resolutionen folgendes zu erklären:

1. In der III. Duma haben sich bereits zwei Mehrheiten herausgebildet: eine aus Schwarzhundertern und Oktobristen bestehende und eine oktobristisch-kadettische. Die erste ist konterrevolutionär, tritt ganz besonders für Verschärfung der Repressalien und für Schutz der Gutsbesitzerprivilegien ein und geht dabei so weit, die volle Wiederherstellung des Absolutismus zu erstreben. Die zweite Mehrheit ist ebenfalls unbedingt konterrevolutionär, ist aber geneigt, die Bekämpfung der Revolution durch einige bürokratische „Scheinreformen" zu verschleiern.

2. Eine solche Situation in der Duma ist einem politischen Doppelspiel sowohl der Regierung als auch der Kadetten überaus günstig. Die Regierung will die Verfolgungen verschärfen und fortfahren, Russland mit bewaffneter Macht zu „erobern", zugleich aber als Anhängerin von Verfassungsreformen gelten. Die Kadetten wollen, trotzdem sie in Wirklichkeit mit den konterrevolutionären Oktobristen stimmen, sich nicht nur als Opposition, sondern auch als Vertreter der Demokratie aufspielen. Der Sozialdemokratie fällt unter diesen Verhältnissen mit besonderem Nachdruck die Aufgabe zu, dieses Spiel, die Gewalttaten der reaktionären Gutsbesitzer und der Regierung sowie die konterrevolutionäre Natur der Kadetten vor dem Volke rücksichtslos zu entlarven. Direkte und indirekte Unterstützung der Kadetten durch die Sozialdemokraten (sei es in der Form der Stimmabgabe für rechte Kadetten oder „linke" Oktobristen bei den Präsidiumswahlen, sei es in der Form eines Informationsbüros mit Beteiligung der Kadetten, oder in der Form der Koordinierung des eigenen Vorgehens mit ihrer Politik usw.) wäre jetzt direkte Schädigung der Klassenerziehung der Arbeitermassen und der Sache der Revolution.

3. Indem die Sozialdemokraten ihre sozialistischen Ziele ohne jegliche Einschränkung verfechten und von diesem Standpunkt aus an allen, selbst an den allerdemokratischsten und „Trudowiki"-Parteien der Bourgeoisie Kritik üben, müssen sie in den Vordergrund ihrer Agitation die Aufklärung der breitesten Volksmassen über die Tatsache stellen, dass die III. Duma den Interessen und Forderungen des Volkes in keiner Weise entspricht. Im Zusammenhang damit muss eine breite und energische Propaganda des Gedankens einer auf allgemeinem, direktem, gleichem und geheimem Wahlrecht beruhenden konstituierenden Verladung entfaltet werden.

4. Zu den Hauptaufgaben der Sozialdemokratie in der III. Duma gehört die Aufdeckung des wahren Klasseninhalts der Regierungs- und der liberalen Anträge. Besonders zu berücksichtigen sind die Fragen, die die wirtschaftlichen Interessen der breiten Volksmassen betreffen (Arbeiter- und Agrarfrage, Etat usw.), um so mehr, als die Zusammensetzung der III. Duma außerordentlich reichhaltiges Material für die agitatorische Tätigkeit der Sozialdemokratie in Aussicht stellt.

5. Insbesondere muss die Sozialdemokratie in der Duma ihr Interpellationsrecht ausnutzen, zu welchem Zweck ein gemeinsames Vorgehen mit anderen, links von den Kadetten stehenden Gruppen notwendig ist, jedoch ohne irgendwelche Abweichung von Programm und Taktik der Sozialdemokratie sowie ohne Abschließung von Blockbündnissen irgendwelcher Art.

Um eine Wiederholung des Fehlers zu vermeiden, den die Sozialdemokratie in der II. Duma begangen hat, muss die sozialdemokratische Fraktion den linken und nur den linken (d. h zum Kampfe gegen die Kadetten fähigen) Dumaabgeordneten die Bildung eines Informationsbüros vorschlagen, das seine Teilnehmer in keiner Weise bindet, aber den Arbeiterabgeordneten die Möglichkeit gibt, die Demokratie im Geiste der sozialdemokratischen Politik systematisch zu beeinflussen.

3. Referat über die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse

Das zweite Referat des Genossen Lenin behandelte die Frage der Mitarbeit von Sozialdemokraten an der bürgerlichen Presse. Der Referent legte den diesbezüglichen Standpunkt der beiden Flügel der internationalen Sozialdemokratie dar, insbesondere die Auffassungen der Orthodoxen und der Revisionisten in der deutschen sozialdemokratischen Partei. Die Orthodoxen stimmten auf dem Dresdener Parteitag einer Formulierung zu, mit der die Mitarbeit an einer der Sozialdemokratie nicht feindlich gegenüberstehenden Presse als zulässig bezeichnet wird – mit der Begründung, dass dies praktisch auf ein vollständiges Verbot hinauslaufe, denn es gäbe in der heutigen entwickelten kapitalistischen Gesellschaft keine bürgerlichen Zeitungen, die der Sozialdemokratie nicht feindlich gegenüberstünden.

Der Referent steht auf dem Standpunkt einer absoluten Unzulässigkeit politischer Mitarbeit an der bürgerlichen Presse, insbesondere an der angeblich parteilosen. Solche Organe, wie z. B. „Towarischtsch", fügen der Sozialdemokratie durch ihren versteckt-heuchlerischen Kampf gegen sie viel größeren Schaden zu als die offen sozialistenfeindlichen bürgerlichen Parteiblätter. Der beste Beweis dafür sind die Artikel Plechanows, Martows, Horns, Kogans u. a. m. im „Towarischtsch". Alle diese Artikel sind gegen die Partei gerichtet, und in Wirklichkeit haben nicht diese sozialdemokratischen Genossen die bürgerliche Zeitung „Towarischtsch" ausgenutzt, sondern umgekehrt, diese Zeitung nutzte obige Genossen gegen die ihr verhasste SDAPR aus. Kein einziger sozialdemokratischer Artikel, der der Redaktion des „Towarischtsch" nicht behagt hat, ist bisher in dieser Zeitung erschienen.

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