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Wladimir I. Lenin 19080303 Das Geschehnis mit dem König von Portugal

Wladimir I. Lenin: Das Geschehnis mit dem König von Portugal

[Proletarij" Nr. 22, 3. März (19. Februar) 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 182-186]

Die bürgerliche Presse – sogar die liberalster und „demokratischster" Richtung – kann bei Ausführungen über die Ermordung des portugiesischen Abenteurers nicht ohne stark reaktionäre Moral auskommen.

So z. B. der Sonderkorrespondent einer der besten bürgerlich-demokratischen Zeitungen Europas, der „Frankfurter Zeitung". Er beginnt seinen Bericht in halb spaßigem Plauderton damit, wie eine Schar von Korrespondenten sich sofort nach Eintreffen der sensationellen Nachricht, wie auf eine Beute, nach Lissabon stürzt.

Ich musste – schreibt dieser Herr – die Schlafwagenabteilung mit dein Korrespondenten einer Londoner Zeitung teilen, dem das Fehlen allzu großer Skrupellosigkeit zu einem gewissen Weltruf verholfen hat."

Aus einem ähnlichen Anlass sei er nämlich schon einmal nach Belgrad gereist, und könne sich sozusagen als „Spezialberichterstatter für Königsmorde" betrachten.

... Ja, das Attentat auf den König von Portugal ist wahrlich ein „Berufsunfall der Könige".

Da nimmt es einen nicht wunder, dass es auch Berufskorrespondenten geben kann, die die „Berufsunfälle" Ihrer Majestäten beschreiben ...

Aber so stark auch bei solchen Korrespondenten das Element billiger und vulgärer Sensation sein mag, so bricht sich doch manchmal die Wahrheit Bahn. „Ein Kaufmann, der im lebhaftesten Geschäftsviertel wohnt", erzählte dem Berichterstatter der „Frankfurter Zeitung" folgendes:

Ich hatte auf die Nachricht von dem Geschehnis hin sofort die Trauerfahne hinaus gehängt Aber es dauerte nicht lange, da kamen Kunden und Bekannte gelaufen und fragten mich, ob ich denn toll sei und ob ich mir alle Freundschaften verderben wolle. Ich fragte sie, ob denn niemand Mitgefühl empfinde. Sie können nicht glauben, mein Herr, was man mir für Antworten gab. Da habe ich die Fahne wieder hereingenommen."

Nachdem der liberale Korrespondent diese Erzählung wiedergegeben hat, führt er weiter aus:

Ein Volk, das von Natur gutmütig und liebenswürdig ist, wie das portugiesische, muss eine böse Schule durchgemacht haben, ehe es gelernt hat, erbarmungslos grausam selbst über das Grab hinaus zu hassen. Und wenn – nun sogar wahr ist – und es ist wahr, und wollte ich es verschweigen, so würde ich die geschichtliche Wahrheit fälschen – dass nicht nur solche stummen Kundgebungen dem gekrönten Opfer ein letztes Urteil sprechen wollen, sondern dass man auf Schritt und Tritt und dazu noch von Leuten der guten Ordnung, sein Andenken selbst schmähen hört, dann verlohnt es sich wohl, den seltenen Zusammenhängen nachzuforschen, die derart die Psychologie eines Volkes von allen Normen abirren lassen. Denn eine Nation, die dem Tode nicht mehr das alte geheiligte Recht geben mag, alle Fehler des Lebens zu sühnen, muss entweder ja doch wohl schon als moralisch entartet gelten, oder es muss sich herausstellen, dass ungeheures Hassgefühl den klaren Blick gerechter Anschauung verdorben hat."

O, ihr Herren liberalen Heuchler! Warum erklärt ihr denn nicht alle jene französischen Wissenschaftler und Schriftsteller für moralisch entartet, die bis heute nicht nur die Führer der Pariser Kommune von 1871, sondern sogar die führenden Persönlichkeiten von 1793, nicht nur die Kämpfer der proletarischen Revolution, sondern sogar die Kämpfer der bürgerlichen Revolution hassen und mit rasender Wut beschimpfen? Weil es für die „demokratischen" Lakaien der gegenwärtigen Bourgeoisie „normal" und „moralisch" ist, dass das Volk allen möglichen Unfug, alle möglichen Abscheulichkeiten und Bestialitäten gekrönter Abenteurer „gutmütig" erduldet.

Sonst – fährt der Korrespondent fort (d. h. anders als auf Grund der außergewöhnlichen Verhältnisse) – wäre es ja auch nicht zu verstehen, dass heute bereits ein monarchistisches Blatt mit beinahe tieferer Trauer von den unschuldigen Opfern aus dem Volke als von denen aus dem Königshause spricht, dass sich jetzt schon deutlich die Anfänge einer Legendenbildung erkennen lassen, die allmählich vielleicht um das Haupt der Mörder gar eine Gloriole flechten wird. Und während sonst bei fast allen Attentaten die politischen Parteien sich eilig bestrebt zeigen, die Mörder von den Rockschößen abzuschütteln, lassen die portugiesischen Republikaner es sich mit Stolz gefallen, dass man die ,Märtyrer und Helden des 1. Februar ihren Reihen zuzählt'."

Der bürgerliche Demokrat geht in seinem Eifer so weit, dass er die Achtung der portugiesischen Bürger für jene Leute, die sich für die Beseitigung des die Konstitution vergewaltigenden Königs geopfert haben, zur „revolutionären Legende" zu erklären bereit ist.

Der Korrespondent einer anderen bürgerlichen Zeitung, des Mailänder „Corriere della Sera" berichtet über das Wüten der portugiesischen Zensur nach dem Königsmord. Telegramme werden nicht durchgelassen. Minister und Könige verfügen nicht über jene „Gutmütigkeit", die dem honetten Bourgeois bei den Volksmassen so gefällt! Krieg ist Krieg, denken mit Recht die portugiesischen Abenteurer, die sich auf den Platz des gemordeten Königs gesetzt haben. Schwierigkeiten der Verbindung ergeben sich nicht weniger als während eines Krieges. Man ist genötigt, Nachrichten auf Umwegen zu befördern: erst mit der Post nach Paris (eventuell an eine Privatadresse), von dort erst werden sie weiter nach Mailand geschickt.

Sogar in Russland – schreibt der Korrespondent am 7. Februar – wütete während der erregtesten revolutionären Perioden die Zensur nie so wie jetzt in Portugal."

Manche republikanischen Zeitungen – teilt dieser Korrespondent am 9. Februar neuen Stils mit – schreiben heute (am Tage der Beisetzung des Königs) eine Sprache, die ich in einem Telegramm zu wiederholen absolut nicht wagen würde."

In einer Mitteilung vom 8. Februar, die später als die vorige den Bestimmungsort erreichte, wird die Berichterstattung der Zeitung „Pais" über das Leichenbegängnis zitiert:

Man trägt die sterblichen Überreste der beiden Monarchen vorüber – unnütze Trümmer der zusammenbrechenden Monarchie, die sich durch Verrat und Privilegien hielt, die mit ihren Verbrechen zwei Jahrhunderte unserer Geschichte besudelte."

Gewiss, das ist eine republikanische Zeitung – fährt der Korrespondent fort–, aber spricht das Erscheinen eines Artikels mit solchen Sätzen am Tage der Bestattung des Königs nicht eine beredte Sprache."

Wir unsererseits fügen bloß hinzu, dass wir das eine bedauern können, dass die republikanische Bewegung in Portugal nicht genügend entschieden und offen mit allen Abenteurern abgerechnet hat. Wir bedauern, dass man bei dem Geschehnis mit dem König von Portugal noch deutlich das Element des komplottmäßigen, d, h. kraftlosen, in seinem Wesen das Ziel verfehlenden Terrors erkennt, bei gleichzeitiger Schwäche des wirklichen, vom gesamten Volk ausgeübten, wirklich das Land erneuernden Terrors, durch den die große französische Revolution sich mit Ruhm bedeckt hat. Es ist möglich, dass sich die republikanische Bewegung in Portugal noch höher erheben wird. Die Sympathie des sozialistischen Proletariats wird immer auf der Seite der Republikaner gegen die Monarchie sein. Aber bis jetzt ist es in Portugal nur gelungen, die Monarchie durch den Mord an zwei Monarchen zu erschrecken, nicht aber zu vernichten.

Die Sozialisten aller europäischen Parlamente haben, so gut sie es verstanden und konnten, ihre Sympathie für das portugiesische Volk und die Republikaner erklärt und ihren Abscheu gegen die herrschenden Klassen bekundet, deren Vertreter den Mord an einem Abenteurer verurteilten und ihr Mitgefühl für seine Nachfolger ausdrückten. Manche Sozialisten sprachen ihre Meinung im Parlament offen aus, während andere während der Sympathieerklärung für die „heimgesuchte" Monarchie den Sitzungssaal verließen. Vandervelde hat im belgischen Parlament den „Mittelweg", den schlimmsten Weg, gewählt, indem er sich die Worte herauspresste, dass er „allen Toten", d. h. den Königen wie deren Mördern, Ehre bezeuge. Wir hoffen, dass Vandervelde unter den Sozialisten der ganzen Welt der einzige dieser Art bleiben wird.

Die republikanische Tradition ist bei den Sozialisten Europas sehr geschwächt. Das ist verständlich und kann teilweise insofern gerechtfertigt werden, als die Nähe der sozialistischen Revolution die praktische Bedeutung des Kampfes für die bürgerliche Revolution aufhebt. Aber nicht selten bedeutet die Schwächung der republikanischen Propaganda nicht das lebendige Drängen zum vollen Siege des Proletariats, sondern die Schwäche der Erkenntnis der revolutionären Aufgaben des Proletariats überhaupt. Nicht umsonst wies Engels 1891 in seiner Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms mit aller Energie die deutschen Arbeiter auf die Wichtigkeit des Kampfes für die Republik hin, auf die Möglichkeit, dass ein solcher Kampf auch in Deutschland aktuell werden wird.

Bei uns in Russland hat der Kampf für die Republik eine unmittelbar praktische Bedeutung. Nur ganz klägliche kleinbürgerliche Opportunisten vom Schlage der Volkssozialisten oder des Sozialdemokraten Malischewski1 (siehe über ihn im „Proletarij" Nr. 12) konnten aus der Erfahrung der russischen Revolution die Schlussfolgerung ziehen, dass der Kampf für die Republik in Russland in den Hintergrund trete. Im Gegenteil, gerade die Erfahrungen unserer Revolution haben bewiesen, dass der Kampf für die Vernichtung der Monarchie in Russland untrennbar verbunden ist mit dem Kampf um den Grund und Boden für die Bauern und um die Freiheit für das ganze Volk. Gerade die Erfahrung mit unserer Konterrevolution hat bewiesen, dass ein Befreiungskampf, der die Monarchie schont, kein Kampf ist, sondern spießbürgerliche Feigheit und Schwäche oder direkte Irreführung des Volkes durch die Karrieremacher des bürgerlichen Parlamentarismus.

1 Lenin erwähnt Malischewski im Artikel „Die Wahlen in Petersburg und die Krise der Opportunisten" in Nr. 12 des „Proletarij". Am Schluss des Artikels schreibt Lenin: „Das Kompromiss mit den ,Kompromisslern' versetzt dem Menschewismus einen entscheidenden Schlag. Die Wassiljew, Malischewski und Larin haben den Weg geebnet zum… Friedhof. In den Reihen der Menschewiki herrscht Verwirrung, sie schließen sich gegenseitig aus. Martow vertreibt die Wassiljew und Malischewski aus der Partei. Mögen die Arbeiter den Geist des Menschewismus aus der Partei austreiben" (Sämtliche Werke, Bd. X, S. 436).

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