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Wladimir I. Lenin 19080200 Zur Debatte über die Erweiterung der Budgetrechte der Duma

Wladimir I. Lenin: Zur Debatte über die Erweiterung der Budgetrechte der Duma

[Sozialdemokrat" Nr. 1, Februar 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 159-165]

In drei Sitzungen, am 12., 15. und 17. Januar, erörterte die Reichsduma die Erweiterung ihrer Budgetrechte. Die Kadettenpartei brachte einen mit der Unterschritt von 40 Dumamitgliedern versehenen Entwurf einer solchen Erweiterung ein. Die Vertreter aller Parteien äußerten sich zu dieser Frage. Im Namen der Regierung hielt der Finanzminister zwei lange Reden. Auch ein Vertreter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei sprach sich darüber aus, und die Diskussion fand ihren Abschluss mit der einstimmigen (so berichtet „Stolitschnaja Potschta" vom 18. Januar) Annahme des oktobristischen Antrages: der Gesetzentwurf über die Erweiterung der Budgetrechte der Reichsduma ist einer Kommission zu überweisen, „ohne auf den Umfang dieser Änderung", d.h. die Änderung der Bestimmungen vom 8. März, einzugehen, die die Budgetrechte der Reichsduma ganz besonders beschränken.

Wie konnte so Seltsames geschehen? Wie war es möglich, dass in der III. Duma, in der Duma der erzreaktionären „Auerochsen" ein oktobristischer Vorschlag einstimmig angenommen wurde, der im Grunde den Wünschen der Regierung entspricht und nach der ersten Rede des Finanzministers gestellt wurde, der gerade einen solchen Ausweg angedeutet hatte. Im Wesen der Sache ist der kadettische Entwurf unannehmbar; doch was Einzelheiten betrifft – warum sollte da das Gesetz nicht geändert werden? So erklärte der Minister der Schwarzhunderter. Dieser Erklärung gemäß redigierten die Oktobristen ihren Antrag und betonten dabei, dass sie auf den Umfang der Gesetzesänderung nicht eingehen.

Dass die Oktobristen sich mit dem Schwarzhunderter-Minister gefunden haben, kann nicht weiter wundernehmen. Dass die Kadetten ihre Fassung (in der natürlich kein Wort darüber stand, dass sie auf den Umfang der von ihnen selbst vorgeschlagenen Änderungen nicht eingehen!) zurückgezogen haben, ist ebenfalls nicht verwunderlich für alle jene, die die wahre Natur der Kadettenpartei kennen. Dass aber die Sozialdemokraten sich an einer solchen „Einstimmigkeit" beteiligen konnten, ist unglaublich, und wir möchten gerne annehmen, „Stolitschnaja Potschta" habe gelogen und die Sozialdemokraten hätten für die oktobristische Resolution nicht gestimmt.

Übrigens gibt es hier eine wichtigere Frage als die, ob die Sozialdemokraten für die Oktobristen gestimmt haben oder nicht. Nämlich die Frage des Fehlers, den der sozialdemokratische Abgeordnete Pokrowski II zweifellos begangen hat. Auf diesen Fehler und auf die wahre politische Bedeutung der Debatte vom 12., 15. und 17. Januar möchten wir die Aufmerksamkeit der Leser lenken.

Die russische Reichsduma hat keine Budgetrechte, denn die Ablehnung des Budgets führt „dem Gesetz zufolge" keine Suspendierung seiner Ausführung nach sich. Dieses von der konterrevolutionären Regierung nach der Niederlage des Dezemberaufstandes veröffentlichte Gesetz (20. Februar 1906, die berüchtigten „Grundgesetze") ist eine Verhöhnung der Volksvertretung durch die Reaktion, den Zaren und die Gutsbesitzer. Die „Bestimmungen" vom 8. März 1906 unterstreichen noch mehr diese Verhöhnung, indem sie für die Budgetverhandlungen der Duma einen Haufen kleinlicher Beschränkungen einführen und sogar bestimmen (in § 9), dass „bei der Erörterung des Staatshaushaltsvoranschlags Einnahmen und Ausgaben, die auf Grund der geltenden Gesetze, Personallisten, Pläne sowie auf Grund allerhöchster, in Ausübung der höchsten Gewalt erteilter Befehle in den Entwurf aufgenommen worden sind, nicht gestrichen oder geändert werden können". Ist das keine Verhöhnung? Nichts darf geändert werden, was den Gesetzen, den Personallisten, den Plänen und ganz einfach den allerhöchsten Befehlen entspricht!! Ist es danach nicht einfach lächerlich, von Budgetrechten der russischen Reichsduma zu reden?

Es fragt sich nun: welches waren die Aufgaben einer wirklich um die Freiheit kämpfenden bürgerlichen Demokratie angesichts einer solchen Situation? Welches sind die Aufgaben der Arbeiterpartei? – Wir sprechen in diesem Artikel nur von den Aufgaben des Parlamentskampfes und der Parlamentsvertreter der entsprechenden Partei.

Es ist klar, dass die Frage der Budgetrechte der Duma in ihr zur Sprache gebracht werden musste, um sowohl vor dem russischen Volke als auch vor Europa den ganzen Schwarzhunderterhohn des Zarismus, die ganze Rechtlosigkeit der Duma aufzuzeigen. Das unmittelbar praktische Ziel einer solchen Aufzeigung wurde (ganz abgesehen von der Grundaufgabe eines jeden Demokraten, vor dem Volke die Wahrheit aufzudecken, sein Bewusstsein aufzuklären) auch durch die Anleihefrage bestimmt. Die Schwarzhunderter-Regierung des Zaren konnte sich nach dem Dezember 1905 und kann sich auch heute nicht halten, wenn das Weltkapital der internationalen Bourgeoisie sie nicht durch Anleihen unterstützt. Und die Bourgeoisie aller Länder gibt einem offenkundigen Bankrotteur, dem Zaren, Milliardenanleihen, nicht nur weil sie, wie jeder Wucherer, von dem hohen Gewinn angelockt wird, sondern auch weil sie sich ihres Interesses am Sieg der alten Ordnung über die Revolution in Russland bewusst ist, da an der Spitze dieser Revolution das Proletariat schreitet.

Somit konnte nur die Aufdeckung der ganzen Wahrheit Zweck und Ziel der Aufrollung dieser Frage und der Debatte in der Duma sein. Praktisches Reformertum konnte unter den gegenwärtigen Verhältnissen als Ziel eines Demokraten nicht in Frage kommen, denn 1. ist die Unmöglichkeit von Reformen auf dem Boden der gegenwärtigen Grundgesetze über die Budgetrechte der Duma klar, 2. wäre es unsinnig, für die Duma der Schwarzhunderter-Auerochsen und der Moskauer Kaufleute eine Erweiterung ihrer Rechte, der Rechte einer solchen Duma, zu verlangen. Die russischen Kadetten (nur Unwissende oder Einfaltspinsel konnten sie als Demokraten betrachten) haben diese Aufgabe natürlich nicht begriffen. Nachdem sie die Frage aufgeworfen, stellten sie sie sogleich auf den falschen Boden einer Teilreform. Wir stellen natürlich nicht in Abrede, dass zuweilen gerade die Frage einer Teilreform von Demokraten und Sozialdemokraten zur Sprache gebracht werden kann und muss. Doch in einer solchen Duma, wie es die III. ist, in einem Augenblick, wie dem gegenwärtigen, in einer Frage, wie es das von den unantastbaren Grundgesetzen bis zur Lächerlichkeit entstellte Budgetrecht ist, war es sinnlos. Die Kadetten durften diese Frage in Gestalt einer Teilreform aufrollen – wir sind selbst zu diesem Zugeständnis bereit –, aber in einer solchen Weise, wie es die Kadetten getan haben, durften Demokraten die Frage nicht behandeln.

Sie betonten die sogenannte sachliche Seite der Frage, das Unbequeme der Bestimmungen vom 8. März, ihre Unvorteilhaftigkeit sogar für die Regierung, die Geschichte dessen, wie die verschiedenen idiotischen Gesetze gegen die Duma in den idiotischen Kanzleien Bulygins, Wittes und der ganzen Bande verfasst wurden. Der ganze Geist der kadettischen Behandlung der Frage kommt am deutlichsten in folgenden Worten des Herrn Schingarjow zum Ausdruck:

Der Gesetzentwurf, den wir vorgelegt, enthält keinerlei Anschläge (im Sinne einer Einschränkung der Prärogativen des Monarchen), keinerlei Hintergedanken (!!). Der Entwurf erstrebt nur die Bequemlichkeit der Dumaarbeiten, die Wahrung ihrer Würde, trägt der Notwendigkeit Rechnung, die Arbeit zu leisten, zu der wir berufen sind" (unterstrichen von uns, Seite 1263 der offiziellen stenographischen Berichte, Sitzung vom 15. Januar 1908).

Ein solches Subjekt verdunkelt nur das Bewusstsein des Volkes, statt es zu klären, denn was es sagt, ist offenkundig Lüge und Unsinn. Selbst wenn dieser Herr Schingarjow, samt seiner ganzen kadettischen Politikastergesellschaft, an den „Nutzen" seiner „Diplomatie" aufrichtig glauben sollte, können wir diesen unvermeidlichen logischen Schluss keinesfalls ändern. Der Demokrat hat die Pflicht, dem Volk die Kluft aufzuzeigen zwischen den Rechten des Parlaments und den Prärogativen des Monarchen, nicht aber sein Bewusstsein abzustumpfen, den politischen Kampf zu entstellen, indem er ihn auf papierne Korrekturen an den Gesetzen reduziert. Dadurch, dass die Kadetten die Frage in dieser Weise stellen, zeigen sie, dass sie bloß Konkurrenten der zaristischen Tschinowniks und der Oktobristen sind, nicht aber Kämpfer für die Freiheit, sei es auch nur die Freiheit für die Großbourgeoisie allein. So reden nur banal Iiberalisierende Beamte, nicht aber Vertreter einer Parlamentsopposition.

In der Rede des sozialdemokratischen Vertreters Pokrowski II – wir konstatieren es mit Freude – tritt offenkundig ein anderer Geist in Erscheinung, wird die Frage prinzipiell anders gestellt. Der Sozialdemokrat erklärte klipp und klar, er betrachte die Volksvertretung in der III. Duma als gefälscht (wir zitieren nach der „Stolitschnaja Potschta" vom 18. Januar, da der stenographische Bericht über diese Sitzung uns noch nicht vorliegt). Er hob nicht Einzelheiten, nicht die Kanzleigeschichte des Gesetzes hervor, sondern das Elend, die Unterdrückung der Volksmassen, der Millionen und Abermillionen. Er bemerkte treffend, man könne „über die Budgetrechte der Reichsduma nicht ohne Ironie sprechen"; er erklärte, dass wir nicht nur das Recht auf Neuzuschneidung des ganzen Budgets fordern (der Streit in der Duma zwischen dem Tschinownik mit warmem Plätzchen, Kokowzow, und den Tschinowniks ohne warme Plätzchen, Schingarjow und Adschemow, drehte sich am meisten um die Zulässigkeit und Grenzen einer „Neuzuschneidung"), sondern auch das Recht auf „Umgestaltung des ganzen Finanzsystems", das Recht, „der Regierung den Etat zu verweigern". Er schloss mit der ebenso richtigen und für ein Mitglied der Arbeiterpartei obligatorischen Forderung nach „unumschränkter Volksmacht". In allen diesen Punkten vertrat Pokrowski gewissenhaft und richtig den sozialdemokratischen Standpunkt.

Doch er beging dabei einen bedauerlichen Fehler – diesen Fehler scheint, nach den Presseberichten zu urteilen, die ganze sozialdemokratische Fraktion begangen zu haben, als sie ihrem Redner eine solche Direktive erteilt hat. Pokrowski erklärte nämlich: „Wir unterstützen den Antrag der 40 Antragsteller, da er eine Erweiterung der Budgetrechte der Volksvertretung bezweckt."

Wozu diese Erklärung über die Unterstützung eines Antrages, von dem es klar ist, dass er in prinzipieller Hinsicht inkonsequent, unvollständig, von prinzipienlosen, selbst zum geringsten Maß von Festigkeit unfähigen Leuten unterschrieben, praktisch wert- und zwecklos ist? Es war nicht die Unterstützung einer kämpfenden Bourgeoisie (eine Formel, mit der viele ihre politische Charakterlosigkeit zu rechtfertigen lieben), sondern die Unterstützung des Wankelmuts der liberal-oktobristischen Bourgeoisie. Dass dem so ist, haben sofort die Tatsachen bewiesen. Die Kadetten selbst bewiesen es, indem sie ihren Antrag zurückzogen und sich dem oktobristischen anschlossen: „Der Antrag ist der Kommission zu überweisen, ohne auf den Umfang der am Gesetz vorzunehmenden Änderungen einzugehen (!)." Zum hundertsten und tausendsten Mal führte die „Unterstützung" der Kadetten zum Betrug an den Unterstützenden. Zum hundertsten und tausendsten Mal wurde die ganze Jämmerlichkeit, die ganze Unzulässigkeit der Taktik der Unterstützung liberaler kadettischer Anträge, auf der Linie1 usw. durch Tatsachen aufgedeckt.*

Hätten die Kadetten, statt sich den Oktobristen anzuschließen, einen Antrag zur Abstimmung vorgelegt, worin ohne Umschweife von der Ohnmacht der Duma in Finanzfragen, von der gefälschten Volksvertretung, von der Ruinierung des Landes durch den Absolutismus, von dem unabwendbaren Finanzzusammenbruch, von der Weigerung der Vertreter der Demokratie, unter solchen Umständen die Garantie für Anleihen zu übernehmen, die Rede gewesen wäre – so wäre dies ein ehrlicher Schritt bürgerlicher Demokraten, eine Kampftat, nicht aber ein Akt beschränkten Lakaiengeistes gewesen. Eine solche Tat wären wir zu unterstützen verpflichtet, ohne dabei die Betonung unserer besonderen selbständigen sozialdemokratischen Ziele zu unterlassen. Eine solche Tat hätte zur Aufklärung des Volkes, zur Entlarvung des Absolutismus beigetragen.

Das Niederstimmen eines solchen Antrags in der Duma, die rasende Empörung der Schwarzhunderter über ihn wäre ein historisches Verdienst der Demokratie und möglicherweise die Etappe eines neuen Kampfes um die Freiheit gewesen. So aber ist das Ganze wieder einmal ein Reinfall der Kadetten. Sozialdemokratische Genossen in der Duma! Haltet die Ehre der sozialistischen Arbeiterpartei hoch, kompromittiert euch nicht durch Unterstützung eines solchen Liberalismus!

Ein zügelloser Rechter ist in der Duma von der Taktik der Oktobristen, Meinungsverschiedenheiten zu vertuschen und die Kadetten zu Kompromissen anzulocken, abgewichen. Kowalenko, ein Schwarzhunderter, ist am 12. Januar in der Duma offen dafür eingetreten, der kadettische Entwurf solle nicht einmal der Kommission überwiesen werden (Seite 1192 des stenogr. Berichts). Aber gestimmt hat dieser Held augenscheinlich mit den Oktobristen, sein Mut beschränkte sich auf Worte. In seiner Rede illustrierte er ausgezeichnet die wahre Lage der Dinge, indem er sich zum Beweis der Notwendigkeit besonderer Machtbefugnisse auf folgendes Beispiel berief: „Nehmen wir z. B. den Moskauer Aufstand, die Entsendung von Strafexpeditionen. Hatte etwa die Regierung damals Zeit, den üblichen Weg zu gehen ... " (Seite 1193). Es ist schade, dass die Sozialdemokraten solche Wahrheitsfunken der Schwarzhunderter nicht auffangen. – Sie haben recht, Herr Abgeordneter – hätte man ihm sagen sollen – für den üblichen Weg ist da keine Zeit. Lassen wir doch die Heuchelei, und geben wir offen zu, dass wir nicht auf dem „üblichen Weg" sind, sondern mitten im Bürgerkrieg; dass die Regierung nicht regiert, sondern Krieg führt, dass der Zustand Russlands der Zustand eines mit Mühe niedergehaltenen Aufstandes ist. Das wird Wahrheit sein, und es tut gut, das Volk möglichst oft an die Wahrheit zu erinnern.

1 Die Menschewiki forderten die Unterstützung der „auf der Linie des sozialdemokratischen Programms" liegenden Reformen. Die Red.

* Die „kopflose" (zur Richtung der Zeitung „Bes Saglawija" – „Ohne Kopf" – gehörende. Die Red.) Zeitung „Stolitschnaja Potschta" erklärt durch den Mund eines gewissen Herrn Saturin: „Die Opposition stimmte ganz vernünftigerweise (!) für sie" (für die oktobristische Resolution). „Infolgedessen wurde der Abänderungsantrag" (d. h. die Resolution, die den Umfang der Abänderungen nicht bestimmt) „einstimmig angenommen" (18. Januar, Seite 4, „Aus dem Sitzungssaal"). Es lebe die Einmütigkeit der russischen kopflosen Liberalen mit den Oktobristen und den Ministern des Schwarzhunderter-Zaren!

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