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Wladimir I. Lenin 19131206 Brief an S. G. Schaumjan

Wladimir I. Lenin: Brief an S. G. Schaumjan

[Geschrieben am 6. Dezember 1913 Zum ersten Mal veröffentlicht 1922 In der „Krasnaja Ljetopis" Nr. 2/3. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 104-107]

Teurer Freund! Ihr Brief vorn 15. November hat mich sehr gefreut. Sie müssen wissen, dass man in meiner Lage die Meinungsäußerungen von Genossen in Russland, besonders solcher, die gründlich nachdenken und sich mit der vorliegenden Frage beschäftigen, äußerst hochschätzt. Ihre rasche Antwort war deshalb für mich besonders angenehm. Man fühlt sich weniger abgeschnitten, wenn man solche Briefe erhält. Doch genug der Lyrik. Zur Sache.

1. Sie sind für eine Staatssprache in Russland. Sie „ist notwendig, sie war und wird von großer, fortschrittlicher Bedeutung sein". Damit bin ich entschieden nicht einverstanden. Ich schrieb darüber vor langem in der „Prawda" und bin bis jetzt keiner Widerlegung begegnet. Ihr Argument überzeugt mich keineswegs – im Gegenteil. Die russische Sprache war für eine Unmenge von bedauernswerten und zurückgebliebenen Nationen von fortschrittlicher Bedeutung – kein Zweifel. Aber sehen Sie wirklich nicht, dass sie in noch höherem Maße von fortschrittlicher Bedeutung wäre, wenn der Zwang nicht bestünde?

Ist denn etwa die „Staatssprache" nicht eine Knute, die von der russischen Sprache wegtreibt?? Wie können Sie die Psychologie nicht verstehen wollen, die in der nationalen Frage besonders wichtig ist und die beim geringsten Zwang die unbestreitbar fortschrittliche Bedeutung der Zentralisation, der großen Staaten, der Einheitssprache verhunzt, besudelt und zunichte macht?? Aber noch wichtiger als die Psychologie ist die Ökonomie: in Russland gibt es bereits eine kapitalistische Ökonomie, weiche die russische Sprache notwendig macht. Und Sie glauben nicht an die Macht der Ökonomie und wollen die Ökonomie durch die Krücken des Polizeigesindels stützen?? Sehen Sie denn wirklich nicht, dass Sie damit die Ökonomie verunstalten, sie hemmen?? Wird denn nicht der Wegfall des dreckigen Polizeiregimes die freien Vereinigungen zur Erhaltung und Verbreitung der russischen Sprache verzehnfachen (vertausendfachen)?? Nein, ich bin mit Ihnen absolut nicht einverstanden und klage Sie des königlich preußischen Sozialismus1 an!!

2. Sie sind gegen die Autonomie. Sie sind nur für die Selbstverwaltung der Gebiete. Ich bin damit gar nicht einverstanden. Denken Sie an die Erläuterung von Engels, dass der Zentralismus die lokalen „Freiheiten" keineswegs ausschließe. Warum Autonomie für Polen, aber nicht für den Kaukasus, den Süden, den Ural?? Die Grenzen der Autonomie werden doch vom Zentralparlament bestimmt! Wir sind unbedingt für den demokratischen Zentralismus. Wir sind gegen die Föderation. Wir sind für die Jakobiner und gegen die Girondisten. Aber die Autonomie zu fürchten – in Russland ich bitte Sie, das ist lächerlich! Das ist reaktionär. Bringen Sie mir ein Beispiel, erfinden Sie ein Beispiel, wo die Autonomie schädlich werden kann! Sie werden es nicht erbringen. Die engherzige Auslegung aber: nur Selbstverwaltung, spielt in Russland (und in Preußen) nur dem widerlichen Polizeiregime in die Hände.

3. „Das Recht auf Selbstbestimmung bedeutet nicht nur das Recht auf Lostrennung. Es bedeutet auch das Recht auf föderative Verbindung, das Recht auf Autonomie", schreiben Sie. Ich bin absolut nicht einverstanden. Es bedeutet nicht das Recht auf Föderation. Föderation ist ein Bündnis von Gleichen, ein Bündnis, das des allgemeinen Einverständnisses bedarf. Wie kann es nun ein Recht der einen Seite auf das Einverständnis der anderen Seite mit ihr geben? Das ist absurd. Wir sind im Prinzip gegen die Föderation; sie schwächt den ökonomischen Zusammenhalt, sie ist für einen einheitlichen Staat ein ungeeigneter Typus. Du willst dich lostrennen? Schere dich zum Teufel, wenn du den ökonomischen Zusammenhang zerreißen kannst, oder richtiger: wenn das Joch und die Reibereien des „Zusammenlebens" derartige sind, dass sie die Sache des ökonomischen Zusammenhanges verderben und zugrunde richten. Du willst dich nicht lostrennen? Dann, bitte, entscheide nicht an meiner statt, glaube nicht, du hättest das „Recht" auf Föderation. „Recht auf Autonomie"?? Wiederum falsch. Wir sind für die Autonomie für alle Teile, wir sind für das Recht auf Lostrennung (und nicht für die Lostrennung aller!). Die Autonomie ist unser Plan für den Aufbau eines demokratischen Staates. Die Lostrennung ist keineswegs unser Plan. Wir agitieren keineswegs für die Lostrennung. Im Allgemeinen sind wir gegen die Lostrennung. Aber wir sind für das Recht auf Lostrennung, angesichts des großrussischen erzreaktionären Nationalismus, der die Sache des nationalen Zusammenlebens so sehr entstellt hat, dass manchmal der Zusammenhang nach freier Lostrennung groß er wird!!

Das Recht auf Selbstbestimmung ist eine Ausnahme von unserer allgemeinen Prämisse des Zentralismus. Diese Ausnahme ist in Anbetracht des großrussischen erzreaktionären Nationalismus absolut notwendig, und der geringste Verzicht lauf diese Ausnahme ist Opportunismus (wie bei Rosa Luxemburg), ist ein einfältiges Spiel zu Nutz und Frommen des großrussischen erzreaktionären Nationalismus. Doch die Ausnahme darf nicht in erweiterndem Sinne gedeutet werden. Um nichts, um absolut nichts anderes als um das Recht auf Lostrennung handelt es sich hier und soll es sich hier handeln.

Ich schreibe darüber in der Zeitschrift „Prosweschtschenije". Schreiben Sie mir unbedingt etwas ausführlicher, wenn ich diese Artikel geschrieben haben werde (sie werden in drei Heften erscheinen), werde ich noch etwas anderes einsenden. Die Resolution ist vorwiegend von mir durchgesetzt worden. Im Sommer las ich Referate über die nationale Frage2 und studierte diese ein wenig. Auf Grund dessen bin ich gewillt, „fest zu bleiben"; aber natürlich: ich lasse mich belehren3 von Genossen, die diese Frage mehr und länger studiert haben.

4. Gegen die „Abänderung" des Programms, gegen ein „nationales Programm"?? Auch hier bin ich nicht einverstanden. Sie haben Angst vor Worten. Es besteht kein Grund, sich zu fürchten. Es (das Programm) wird sowieso von allen insgeheim, in niederträchtiger Weise, im schlimmsten Sinne geändert. Wir dagegen interpretieren, präzisieren, entwickeln, verankern es in seinem Geiste, in konsequent-demokratischem Geiste, in marxistischem (anti-österreichischem) Geiste. Es war nötig, dies zu tun. Mögen nun die opportunistischen Halunken (die Bundisten, Liquidatoren, Narodniki) kommen, mögen sie ihre ebenso genauen und ebenso erschöpfenden Antworten auf alle unsere, in unserer Resolution berührten und entschiedenen Fragen geben! Mögen sie es versuchen! Nein, wir haben vor den Opportunisten nicht „den Kürzeren gezogen", sondern haben sie in allen Punkten geschlagen.

Eine populäre Broschüre über die nationale Frage ist sehr nötig. Schreiben Sie. Ich erwarte Ihre Antwort. Mit festem, festem Händedruck. Ihr W. I.Grüße an allen Freunde.

1„Königlich preußischer Sozialismus" bei Lenin deutsch. Die Red.

2 Es handelt sich hier offenkundig um die Referate über die nationale Frage, die Lenin bei der Beratung in Poronin hielt, und auch um eine Reihe anderer Referate, die er nach den zur Verfügung stehenden Angaben in einer Versammlung von Studenten der Krakauer Universität sowie in Bern {Juli 1913) erstattete. Nach seinem Berner Vortrage fand eine Debatte statt, von der sich eine kurze protokollarische Aufzeichnung im Archiv des Marx-Engels-Lenin-Instituts befindet

3 „Ich lasse mich belehren" bei Lenin deutsch. Die Red.

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