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Wladimir I. Lenin: Die Agrarfrage und die jetzige Lage Russlands

Wladimir I. Lenin: Die Agrarfrage und die gegenwärtige Lage Russlands

Notizen eines Publizisten

[Sa Prawdu", Nr. 36, 15./28. November 1913 Gez.: W. Iljin. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 92-96]

Über dieses Thema sind in den Zeitschriften, unlängst zwei interessante Artikel erschienen. Der eine in der „Nascha Sarja" der Liquidatoren (Jahrgang 1913, Verfasser N. Roschkow), der andere in der „Russkaja Mysl" der rechten Kadetten (Jahrgang 1913, Nr. 8, Verfasser J. J. Polferow).1 Es besteht kein Zweifel, dass beide Verfasser geschrieben haben, ohne das Geringste voneinander zu wissen, und dass sie von vollkommen verschiedenen Voraussetzungen ausgehen.

Und doch ist die Ähnlichkeit der beiden Artikel überraschend groß. Hier lässt sich – und das verleiht beiden Artikeln einen besonderen Wert – die prinzipielle Verwandtschaft der Ideen der liberalen Arbeiterpolitiker mit den Ideen der konterrevolutionären liberalen Bourgeois augenfällig beobachten.

Das Material N. Roschkows ist haargenau dasselbe wie das des Herrn Polferow, nur ist das des Zweitgenannten umfangreicher. Nach der Revolution von 1905 wächst der Kapitalismus in der Landwirtschaft Russlands. Es steigen die Getreidepreise und die Bodenpreise; es steigt die Einfuhr landwirtschaftlicher Maschinen und Düngemittel und ebenso die inländische Produktion beider. Die Institute für den Kleinkredit vermehren sich, die Zahl der aus der Dorfgemeinschaft ausscheidenden Bauern steigt. Es steigt der Arbeitslohn (um 44,2 Prozent von 1890 bis 1910, teilt N. Roschkow mit und vergisst dabei die Zunahme der Teuerung während dieser Zeit!). Es wachsen die für dem Markt produzierende Viehzucht, Buttererzeugung und Graswirtschaft sowie das landwirtschaftliche Bildungswesen.

Das alles ist sehr interessant, da lässt sich nichts sagen. Vom Standpunkte des Marxismus aus konnte es darüber keinen Zweifel geben, dass die Entwicklung des Kapitalismus nicht aufgehalten werden kann. Wenn die Verfasser nichts anderes getan hätten, als dies durch neue Daten aufzuhellen, so könnte man nicht umhin, ihnen dankbar zu sein.

Der Kernpunkt liegt aber in der Bewertung der Daten, in den Schlussfolgerungen aus ihnen. N. Roschkow ist dabei von einer so … rührenden Eilfertigkeit:

Die Umwandlung der gutsherrlichen, fronherrlichen Wirtschaft in die bürgerliche, kapitalistische hat sich vollzogen … der Übergang der Landwirtschaft zu bürgerlichen Verhältnissen ist eine vollendete, ganz unanfechtbare Tatsache Die Agrarfrage in ihrer früheren Form ist in Russland von der Tagesordnung verschwunden… Man soll nicht versuchen, den Leichnam – die Agrarfrage in ihrer alten Form – zu galvanisieren."

Die Schlussfolgerungen sind, wie der Leser sieht, durchaus klar und durchaus … liquidatorisch. Die Redaktion der Zeitschrift der Liquidatoren versah den Artikel (wie es in geschäftsmäßig-prinzipienlosen Redaktionen schon längst der Brauch ist) mit dem Vorbehältchen:

„ …mit sehr vielem nicht einverstanden… wir halten es nicht für möglich, so entschieden, wie N. Roschkow es tut, zu behaupten, dass Russland gerade den durch das Gesetz vom 9. November und 14. Juni vorgezeichneten Weg beschreiten wird" …

Die Liquidatoren sind „nicht so" entschieden wie N. Roschkow! Das ist doch eine tiefgründige, prinzipielle Haltung zu der Sache!

N. Roschkow hat mit seinem Artikel zum soundsovielten Male bewiesen, dass er eine Reihe von Grundsätzen des Marxismus auswendig gelernt, sie aber nicht verstanden hat. Deswegen sind sie bei ihm so leicht wieder „verflogen".

Die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft ging auch in den Jahren 1861 bis 1904 vor sich. Alle jetzt von Roschkow und Polferow erwähnten Merkmale lagen schon damals vor. Die Entwicklung des Kapitalismus hat die bürgerlich-demokratische Krise des Jahres 1905 nicht beseitigt, sondern vorbereitet und verschärft. Warum? Darum, weil die alte, halb fronherrliche und Naturalwirtschaft unterhöhlt war, die Bedingungen für die neue, bürgerliche Wirtschaft aber noch nicht geschaffen waren. Daher die ungewöhnliche Schärfe der Krise von 1905.

Die Grundlage für derartige Krisen ist verschwunden – sagt Roschkow. Das ist natürlich möglich, wenn man abstrakt spricht, d. h. wenn man vom Kapitalismus überhaupt und nicht von Russland, nicht vom Jahre 1913 spricht. Die Marxisten anerkennen selbstverständlich nur unter besonderen Verhältnissen (nicht immer und nicht überall) das Vorhandensein einer bürgerlich-demokratischen Agrarfrage.

Doch bei Roschkow fehlt sogar das Verständnis dafür, welche Behauptungen er zu beweisen hat, sofern er seine konkrete Schlussfolgerung bekräftigen will.

Die Bauern sind mit ihrer Lage unzufrieden? – „Aber die Bauern sind ja nirgends mit ihr zufrieden", schreibt Roschkow.

Die Unzufriedenheit der westeuropäischen Bauern – deren ganzes System auf dem flachen Lande und deren Rechtslage völlig bürgerlich sind und die die „Ordnungspartei" bilden – mit den Hungersnöten in Russland, mit dem Zustand der vollständigen ständischen Niederhaltung des Dorfes, mit dem vollständigen fronherrlichen Regime auf dem Gebiete des Rechtes usw. zu vergleichen und zu identifizieren – das ist einfach kindisch lächerlich. Roschkow sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Es wächst der Kapitalismus, es fällt der Frondienst (das Abarbeitssystem), schreibt er.

Die gewaltige Mehrheit der Gutsbesitzer“ – schreibt der Liberale Polferow – „entwickelt immer mehr und mehr das System der Anzahlungen und der Halbpacht, das ausschließlich das Resultat der Geld- und Landnot des Bauern ist."

Der Liberale von der „Russkaja Mysl" ist weniger naiver Optimist als der ehemalige Marxist von der liquidatorischen „Nascha Sarja"!

N. Roschkow hat nicht im entferntesten die Daten über den Grad der Verbreitung der Halbpacht, des Abarbeitssystems, des Frondienstes und der Schuldknechtschaft im heutigen Dorfe berührt. Mit erstaunlicher Leichtfertigkeit hat Roschkow die Tatsache umgangen, dass die Verbreitung dieser Einrichtungen immer noch groß ist. Daraus aber folgt, dass sich die bürgerlich-demokratische Krise noch mehr verschärft hat. Galvanisiert den Leichnam nicht – schreibt der Liquidator, durchaus dem Liberalen nachsprechend, der mit anderen Worten die Forderungen von 1905 für einen „Leichnam" erklärt.

Wir haben darauf geantwortet: Markow und Purischkjewitsch sind keine Leichname. Jene Ökonomie, die sie hervorgebracht hat und bis heute noch hervorbringt, ist kein Leichnam. Der Kampf gegen (diese Klasse ist die lebendige Aufgabe der lebendigen Arbeiter mit lebendigem Verständnis für ihre Klassenziele.

Der Verzicht auf diese Aufgabe ist ein Anzeichen der leichenartigen Zersetzung der Liquidatoren, die nicht alle „so entschieden" wie Roschkow sprechen, die aber alle den Kampf gegen die agrarische Purischkjewitschiade (besonders in der Frage des Grundbesitzes) und gegen die politische Purischkjewitschiade vergessen oder verwischen.

Die Herrschaft der Purischkjewitsch in unserem Lande ist die Kehrseite derselben Medaille, die im Dorfe als Abarbeit, Schuldknechtschaft, Frondienst, Leibeigenschaft, als Mangel der elementarsten allgemeinen Bedingungen für die bürgerliche Wirtschaft bezeichnet wird. Wenn oben die Millionenbesitzer (Gutschkow und Komp.) murren, so sind folglich die Verhältnisse für Millionen von Kleinbesitzern (Bauern) unten ganz unmögliche.

Wenn sich die Arbeiter den Kampf gegen die Wurzeln der Purischkjewitschiade zur Aufgabe machen, so legen sie keineswegs „ihre eigenen" Aufgaben irgendwie beiseite, um etwas ihnen Fremdes zu „galvanisieren". Nein. Sie werden sich eben dadurch über die demokratischen Aufgaben ihres Kampfes, ihrer Klasse klar, sie lehren dadurch die breiten Massen die Demokratie und das ABC des Sozialismus. Denn nur der „königlich-preußische Sozialismus" (wie sich Marx gegen Schweitzer ausdrückte) ist imstande, die feudale Allmacht der Purischkjewitschiade im Allgemeinen und der Purischkjewitschiade im Grundbesitz im Besonderen unbeachtet zu lassen.

Roschkow ist, ohne es selbst zu merken, zu Polferow herabgerutscht, der erklärt, „die einfache Zuteilung von Grund und Boden" ohne Intensivierung wäre keine „Rettung"! Als ob die Intensivierung durch die Beseitigung der Purischkjewitschiade nicht hundertmal schneller vor sich ginge! Als ob nur von den Bauern allein die Rede wäre – ihnen „zuteilen" oder nicht – und nicht vom ganzen Volke, von der ganzen Entwicklung des Kapitalismus, die durch die Purischkjewitschiade verunstaltet und aufgehalten wird!

Roschkow hat dadurch, dass er den Zusammenhang der allumfassenden Losung der „Koalitionsfreiheit" (man vergleiche die Behandlung dieser Losung in der liberalen Rede Tuljakows und in der marxistischen Rede Badajews in der Reichsduma am 23. Oktober 1913)2 mit der Beruhigung über die heutige Lage der Agrarfrage aufzeigte, das Wesen des Liquidatorentums ausgeplaudert.

Dieser Zusammenhang ist eine objektive Tatsache; mit „Vorbehältchen" kann die „Nascha Sarja" sie nicht aus der Welt schaffen.

Hört auf, an das ganze Volk, an die Purischkjewitschiade im ganzen Leben, an die Hungersnöte der Bauern, an die Abarbeit, den Frondienst, die Leibeigenschaft zu denken und kämpft für die „Legalität", für die „Koalitionsfreiheit" als eine der Reformen – das sind die Gedanken, die den Arbeitern von der Bourgeoisie eingeflößt werden. Roschkow und die Liquidatoren hinken ihr nur unbewusst nach.

Wir aber glauben, dass der Proletarier, der vorgeschrittene Vertreter sämtlicher werktätigen Massen, auch zu seiner Befreiung nur dadurch gelangen kann, dass er im Namen und im Interesse des Kampfes gegen die Bourgeoisie die Purischkjewitschiade in jeder Hinsicht bekämpft. Das sind die Gedanken, die den Marxisten vom liberalen Arbeiterpolitiker unterscheiden.

1 Lenin meint hier den Artikel von N. Roschkow „Der heutige Stand der Agrarfrage in Russland" in der „Nascha Sarja", Nr. 6, 1913, sowie den Artikel von J, J. Polferow „Skizzen aus der Bauernwirtschaft" in der „Russkaja Mysl", Nr. 8, 1913.

2 Am 5. November (23. Oktober) 1913 wurde in der Reichsduma die Frage der entgegen dem Gesetz vom 17. (4.) März 1906 erfolgten Einschränkung des Versammlungsrechts behandelt. Der Abgeordnete Tuljakow beschränkte sich in seiner Rede auf die Frage der „Koalitionsfreiheit", Badajew jedoch sprach in seiner Rede davon, dass die bestehende Ordnung, die die Werktätigen der Freiheit des Wortes beraubt, die Arbeiter in die Illegalität treibt, und so wie „die Illegalität von 1904 zur Revolution von 1905 geführt" habe, werde auch diesmal die Bewegung dazu führen, dass „diese verfaulte Ordnung zusammen mit dieser verfaulten reaktionären Duma zusammenbrechen" und „die Arbeiterklasse sich ihre Freiheit erobern wird". Die Interpellation wurde mit 165 gegen 110 Stimmen abgelehnt.

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