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Wladimir I. Lenin 19131224 Die Kadetten und das „Selbstbestimmungsrecht der Völker"

Wladimir I. Lenin: Die Kadetten und das „Selbstbestimmungsrecht

der Völker"

[Proletarskaja Prawda", Nr. 4., 11./24. Dezember 1913. Gez.: J. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 128-130]

Im Sommer dieses Jahres veröffentlichte das russische liberale Hauptorgan Russlands, die „Rjetsch", einen Aufsatz des Herrn Mich. Mogiljanski über die allukrainische Studentenkonferenz in Lemberg1. In der „Rabotschaja Prawda" wurde darauf hingewiesen, dass Herr Mogiljanski in einer (für einen Demokraten oder für einen als Demokrat gelten wollenden Menschen) absolut unzulässigen Weise den ukrainischen Separatismus, der u. a. vom Herrn Donzow verkündet wird, mit Schimpfworten überschüttet hat. Es wurde sofort festgestellt, dass es sich durchaus nicht um eine Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit Herrn Donzow handelt, gegen den viele ukrainische Marxisten auftreten. Die Rede war davon, dass es unzulässig sei, den „Separatismus" als „Fieberphantasien" und Abenteurertum hinzustellen, dass das eine chauvinistische Manier sei und dass ein großrussischer Demokrat bei aller Kritik dieses oder jenes Planes der Lostrennung unbedingt für die Freiheit der Lostrennung, für das Recht auf Lostrennung zu agitieren habe.

Wie der Leser sieht, ist das eine grundsätzliche, eine Programmfrage, die die Pflichten der Demokratie überhaupt betrifft.

Und jetzt, nach einem halben Jahre, nimmt Herr Mich. Mogiljanski in der „Rjetsch" (Nr. 331)2 von neuem Stellung zu diesem Thema, wobei er nicht uns, sondern Herrn Donzow antwortet, der in der Lemberger Zeitung „Schljachi" die „Rjetsch" scharf angegriffen und zu gleicher Zeit darauf hingewiesen hat, dass „der chauvinistische Ausfall der „Rjetsch“ nur von der russischen sozialdemokratischen Presse gebührend gebrandmarkt worden ist".3

Herr Mogiljanski erklärt in seiner Erwiderung an Herrn Donzow dreimal, dass „die Kritik der Rezepte des Herrn Donzow" „mit der Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Völker nichts gemein hat".

Diese Erklärung des Mitarbeiters der liberalen „Rjetsch" ist außerordentlich wichtig und wir empfehlen dem Leser, sie besonders aufmerksam zu behandeln. Je seltener nämlich die Herren Liberalen bereit sind, vom landläufigen politisch-oppositionellen Klatsch zu einer Festlegung und Analyse der grundlegenden und wesentlichen Prinzipien der Demokratie überzugehen, desto dringender muss zu ernster Bewertung eines jeden solchen Übergangs aufgefordert werden.

Erkennt unsere konstitutionell-„demokratische" Partei das Selbstbestimmungsrecht der Völker an, ja oder nein? – das ist die von Herrn Mogiljanski unvermutet berührte interessante Frage.

Er macht dreimal seinem Vorbehalt, aber eine direkte Antwort auf diese Frage gibt er nicht! Er weiß sehr wohl, dass man weder im Programm der Kadetten noch in der politischen Tagespropaganda und -agitation dieser Partei eine direkte, exakte und klare Antwort auf diese Frage finden kann.

Es muss gesagt werden", schreibt Herr Mogiljanski, „dass auch das ,Selbstbestimmungsrecht der Völker' kein Fetisch ist, der keine Kritik zulässt: ungesunde Lebensbedingungen einer Nation können ungesunde Tendenzen in der nationalen Selbstbestimmung bewirken, und die Aufdeckung dieser Tendenzen bedeutet noch nicht die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker."

Das ist ein Schulbeispiel jener liberalen Ausflüchte, deren Variationen man bei den Herren Semkowski in den Spalten der liquidatorischen Zeitung finden kann! Oh ja, Herr Mogiljanski, kein demokratisches Recht ist ein „Fetisch", bei keinem von ihnen darf man z. B. den Klasseninhalt außer acht lassen. Sämtliche allgemein-demokratischen Forderungen sind bürgerlich-demokratische Forderungen, aber daraus können nur Anarchisten und Opportunisten eine Schlussfolgerung gegen die konsequenteste Verfechtung dieser Forderungen durch das Proletariat ziehen.

(Gewiss, das Recht auf Selbstbestimmung ist ein Sache, und die Zweckmäßigkeit der Selbstbestimmung, der Lostrennung dieser oder jener Nation in diesem oder jenem beliebigen Falle ist eine andere Sache. Das ist eine Binsenwahrheit. Allein erkennt Herr Mogiljanski, erkennen die Liberalen Russlands, erkennt die Kadettenpartei die Pflicht (des Demokraten) an, den Massen, namentlich den großrussischen, die große Bedeutung dieses Rechts, seine Dringlichkeit zu verkünden?

Nein und abermals nein. Das gerade vermeidet, das gerade verbirgt Herr Mogiljanski. Das ist eine der Wurzeln des Nationalismus und des Chauvinismus der Kadetten – nicht nur Struves, Isgojews und anderer aufrichtiger Kadetten, sondern auch der Diplomaten der Kadettenpartei von der Art Miljukows sowie der Spießbürger dieser Partei von der Art … Aber Namen sind belanglos!

Der klassenbewusste Arbeiter Russlands wird nicht vergessen, dass es bei uns außer Nationalreaktionären noch Nationalliberale und Anfänge einer Nationaldemokratie gibt (denkt an Herrn Pjeschechonow im „Russkoje Bogatstwo" 1906, Nr. 8, der zur „Vorsicht" gegenüber den nationalistischen Vorurteilen des großrussischen Bauern mahnt!).4

Für die Bekämpfung des Krebsschadens des Nationalismus in allen seinen Formen ist die Verkündung des Selbstbestimmungsrechts der Völker von sehr großer Bedeutung.

1 Gemeint ist hier der Artikel Michael Mogiljanskis „Der ,allukrainische' Studentenkongress" in der „Rjetsch" vom 12. Juli (29. Juni) 1913.

2 Es handelt sich um den Artikel Michael Mogiljanskis „Selbstbestimmung und Separatismus" in der „Rjetsch" vom 16. (3.) Dezember 1913.

3 Gemeint ist der Artikel D. Donzows „Die russische Presse über den letzten Kongress" in der Zeitschrift „Schljachi", Nr. 8/9 vom 1. November 1913.

4 Gemeint ist der Artikel A. Pjeschechonows „Tagesfragen. Unsere Plattform (ihre Umrisse und ihr Umfang)", der der Begründung des Programms der künftigen volkssozialistischen Partei gewidmet war.

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