Lenin‎ > ‎1916‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19161000 Brief an N. D. Kiknadse

Wladimir I. Lenin: Brief an N. D. Kiknadse

[Geschrieben im Oktober 1916 Erstmalig veröffentlicht 1925 in „Leninski Sbornik" III. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 289-292]

Werter Genosse!

Sie bestreiten meine Bemerkung über die Möglichkeit der Umwandlung auch dieses imperialistischen Krieges in einen nationalen.

Ihr Argument? „Wir werden ein imperialistisches Vaterland verteidigen müssen …“

Ist das etwa logisch? Wenn das Vaterland „imperialistisch“ bleibt, wie kann dann der Krieg ein nationaler sein?

Das Gerede von den „Möglichkeiten“ ist, meiner Auffassung nach, theoretisch unrichtig durch Radek und den § 5 der Thesen der Gruppe „Internationale“ aufgebracht worden.

Der Marxismus steht auf dem Boden von Tatsachen und nicht von Möglichkeiten.

Der Marxismus muss als Vordersatz seiner Politik nur genau und unbestreitbar bewiesene Tatsachen annehmen.

Das tut auch unsere (Partei-) Resolution.

Wenn man statt ihrer mit der „Unmöglichkeit“ kommt, dann antworte ich: das ist falsch, unmarxistisch, das ist Schablone. Möglich sind alle Arten von Umwandlungen.

Und ich führe eine historische Tatsache an (die Kriege von 1792-1815). Ich nehme ein Beispiel zur Illustrierung der Möglichkeit derartiger Dinge auch jetzt (bei einer Rückentwicklung).

Meiner Meinung nach verwechseln Sie das Mögliche (von dem nicht ich zu reden begann!!) mit dem Wirklichen, wenn Sie meinen, dass die Anerkennung der Möglichkeit eine Änderung der Taktik gestattet. Das ist schon mehr als unlogisch.

Ich halte es für möglich, dass sich ein Sozialdemokrat in einen Bourgeois verwandelt und umgekehrt.

Das ist eine unbestreitbare Wahrheit. Folgt daraus etwa, dass ich einen bestimmten Bourgeois, Plechanow, jetzt als Sozialdemokraten anerkennen werde? Nein, keineswegs. Und die Möglichkeit? Warten wir ihre Verwandlung in die Wirklichkeit ab.

Das ist alles. Gerade in der „Methodologie“ (von der Sie schreiben) ist es notwendig, das Mögliche vom Wirklichen zu unterscheiden.

Möglich ist jede Art von Verwandlung, sogar die eines Dummkopfs in einen klugen Kerl (………)1, aber in der Wirklichkeit sind derartige Verwandlungen selten. Und allein wegen der „Möglichkeit“ einer solchen Verwandlung werde ich nicht aufhören, einen Dummkopf für einen Dummkopf zu halten.

Ihre Zweifel bezüglich der „zweierlei“ Erziehung sind mir nicht klar. Ich habe ja konkret ein Beispiel (Norwegens) gebracht, sowohl in der ZeitschriftProswjeschtschenije als auch im Artikel gegen Kijewski.

Sie antworten darauf nicht!! Sie nehmen das völlig unklare Beispiel Polens.

Das heißt nicht „zweierlei“ Erziehung, das heißt verschiedene Dinge auf einen gemeinsamen Nenner bringen, aus Nischni-Nowgorod und Smolensk auf ein Moskau führen wollen.

Ein schwedischer Sozialdemokrat, der nicht für die Freiheit der Lostrennung Norwegens eintritt, ist ein Schuft. Das bestreiten Sie nicht. Ein norwegischer kann für die Lostrennung, aber auch gegen sie sein. Ist die Einheitlichkeit aller Sozialdemokraten aller Länder in so einer Frage unbedingte Pflicht? Nein. Das wäre eine Schablone, eine lächerliche Schablone, eine lächerliche Prätension.

Wir haben den polnischen Sozialdemokraten (ich habe darüber in „Proswjeschtschenije“ geschrieben) niemals daraus einen Vorwurf gemacht, dass sie gegen die Unabhängigkeit Polens sind.

Anstatt einer einfachen, klaren, theoretisch unbestreitbaren Argumentation: man kann nicht jetzt für eine derartige demokratische Forderung (unabhängiges Polen) sein, die uns praktisch völlig einer der imperialistischen Mächte oder Koalitionen unterwirft (das ist unbestreitbar, das ist genug; das ist notwendig und hinreichend) – statt dessen sind sie zum absurden „undurchführbar“ gelangt.

Wir haben das 1903 und im April 1916 ausgelacht.

Die braven polnischen Sozialdemokraten hatten schon fast, fast bewiesen, dass die Bildung eines neuen polnischen Staates nicht zu verwirklichen sei, nur … nur der Imperialist Hindenburg kam dazwischen: kurzerhand verwirklichte er sie.

Zu welch lächerlichem Doktrinarismus versteigen sich Leute, die (vom Krakauer Standpunkt aus) das „Ökonomische“ vertiefen (oder verblöden?2) wollen!!

Die PSD haben sich bis zur Negierung des „Staatenbaus“3 verstiegen!! Ist aber nicht die ganze Demokratie „Staatenbau“? Und die von Gorter4 geforderte Unabhängigkeit Holländisch-Indiens ist kein Staatenbau?

Wir sind für die Freiheit der Lostrennung Holländisch-Indiens. Aber ist ein Sozialdemokrat in Holländisch-Indien verpflichtet, für die Lostrennung zu sein? Das ist noch ein Beispiel für die Erziehung angeblich „zweierlei Art“!!

Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik. Belgien ist ein Kolonialland – argumentieren Sie. Werden wir aber wirklich nicht feststellen können, welche Politik der gegenwärtige Krieg fortsetzt, die der belgischen Sklaverei oder die der belgischen Befreiung?

Ich glaube, wir werden es.

Und wenn jemand irre gehen sollte, so wird das eine Frage der Tatsache sein.

Man kann doch nicht nationale Kriege „verbieten“ (wie das Radek will), aus Furcht, dass kopflose Leute oder Gauner einen imperialistischen Krieg wieder als nationalen ausgeben könnten! Das ist lächerlich, aber bei Radek kommt es so heraus.

Wir sind nicht gegen den nationalen Aufstand, sondern für ihn. Das ist klar. Und weiter kann man nicht gehen: wollen wir konkret jeden Fall analysieren, hoffentlich werden wir nicht den Aufstand des amerikanischen Südens im Jahre 1863 als „nationalen Aufstand“ betrachten …

Den Artikel von Engels aus Grünbergs Archiv hatte ich, habe ihn aber an Grigori weitergeschickt. Sobald ich ihn von ihm bekomme, sende ich ihn Ihnen.

Ich drücke Ihre Hand

N. K. bittet sehr, auch ihren Gruß zu übermitteln.

1 Mehrere Worte sind weggelassen. Die Red.

2 Im Deutschen nicht wiederzugebendes Wortspiel. Die Red.

3 „Staatenbau“ hier und im Folgenden bei Lenin deutsch. Die Red.

4 Lenin meint hier offenbar folgenden Satz aus der Broschüre Gorters: „Deshalb stehen in Holland die kleinbürgerlichen Reformisten, wie Troelstra, Vliegen, die Parlamentsfraktion, die ganze führende Gruppe und fast die Mehrheit der Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Fragen der Kolonialpolitik der Selbständigkeit und der unmittelbaren Befreiung Indiens feindlich gegenüber“ (H. Gorter, „Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie“, Amsterdam 1915. S. 66).

Kommentare