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Wladimir I. Lenin 19181220 Dem Andenken Proschjans

Wladimir I. Lenin: Dem Andenken Proschjans

[„Prawda" Nr. 277. 20. Dezember 1918. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 570-572]

Ich hatte Gelegenheit, Genossen Proschjan kennen und schätzen zu lernen während unserer gemeinsamen Arbeit im Rate der Volkskommissare Ende des vorigen und Anfang dieses Jahres, als die linken Sozialrevolutionäre mit uns im Bunde waren. Auf den ersten Blick ragte Proschjan durch seine tiefe Hingabe an die Revolution und an den Sozialismus hervor. Nicht von allen linken Sozialrevolutionären konnte man sagen, dass sie Sozialisten seien, ja, von der Mehrzahl unter ihnen konnte man das sogar nicht behaupten. Von Proschjan jedoch musste man das sagen, denn ungeachtet seiner Treue zur Ideologie der russischen Volkstümler, einer nichtsozialistischen Ideologie, war in ihm der tief überzeugte Sozialist zu erkennen. Auf seine eigene Art, nicht durch den Marxismus, nicht von der Idee des proletarischen Klassenkampfes aus ist dieser Mensch Sozialist geworden, und ich hatte wiederholt Gelegenheit, bei der gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare zu beobachten, wie Genosse Proschjan entschlossen gegen seine Kollegen, die linken Sozialrevolutionäre, auf die Seite der Bolschewiki, der Kommunisten trat, wenn jene den Standpunkt der Kleineigentümer zum Ausdruck brachten und sich gegenüber den kommunistischen Maßnahmen auf dem Gebiete der Landwirtschaft ablehnend verhielten.

Besonders gut erinnere ich mich an ein Gespräch mit Genossen Proschjan, das kurz vor dem Brester Frieden stattfand. Damals schien es, als seien zwischen uns schon keine einigermaßen wesentlichen Meinungsverschiedenheiten übriggeblieben. Proschjan begann mir von der Notwendigkeit einer Verschmelzung unserer Parteien zu sprechen, sowie davon, dass die vom Kommunismus (damals war dieses Wort noch nicht im Schwange) am weitesten entfernten linken Sozialrevolutionäre sich ihm während der gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare merklich und stark genähert hätten. Ich verhielt mich dem Vorschlag Proschjans gegenüber zurückhaltend und bezeichnete ihn als verfrüht, ohne aber die Annäherung zwischen uns in der praktischen Arbeit im geringsten zu leugnen.

Ein völliges Auseinandergehen brachte der Brester Friede mit sich, und aus diesem Auseinandergehen musste bei der revolutionären Konsequenz und Überzeugungstreue Proschjans unbedingt ein direkter, ja bewaffneter Kampf entstehen. Dass es bis zu einem Aufstand, oder bis zu solchen Tatsachen, wie dem Verrat des Oberbefehlshabers Murawjow, eines linken Sozialrevolutionärs, kommen könnte, das hatte ich, wie ich zugeben muss, keineswegs erwartet. Doch hat mir das Beispiel Proschjans gezeigt, wie tief sich in den Köpfen selbst der aufrichtigsten und überzeugtesten Sozialisten aus den Kreisen der linken Sozialrevolutionäre der Patriotismus eingenistet hatte – wie Meinungsverschiedenheiten in den allgemeinen Prinzipien der Weltanschauung unvermeidlich bei einem schwierigen Wendepunkt in der Geschichte zutage treten mussten. Der Subjektivismus der Volkstümler führte zu einem verhängnisvollen Fehler selbst der besten unter ihnen, welche sich von dem Phantom einer ungeheuerlichen Macht, nämlich des deutschen Imperialismus, blenden ließen. Ein anderer Kampf gegen diesen Imperialismus als durch Aufstände, und noch dazu unbedingt in dem gegebenen Augenblick, ohne die geringste Berücksichtigung der objektiven Verhältnisse unserer internationalen Lage, schien vom Standpunkt der Pflicht eines Revolutionärs als geradezu unzulässig. Hier trat derselbe Fehler in Erscheinung, der die Sozialrevolutionäre im Jahre 1907 zu unbedingten „Boykotteuren" der Stolypinschen Duma machte. Nur hat sich der Fehler unter den Bedingungen heißer revolutionärer Schlachten grausamer gerächt und hat Proschjan auf den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht getrieben.

Und dennoch vermochte Proschjan bis zum Juli 1918 mehr für die Festigung der Sowjetmacht zu tun, als vom Juli 1918 an für deren Untergrabung. Und in der internationalen Situation, die nach der deutschen Revolution entstanden ist, wäre eine neue Annäherung Proschjans an den Kommunismus – eine dauerhaftere als die frühere – unausbleiblich erfolgt, wenn sein vorzeitiger Tod diese Annäherung nicht verhindert hätte.

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